Theophil Zolling
(Hrsg.), Heinrich von Kleists sämtliche Werke.
Erster Teil. Gedichte. Familie Schroffenstein. Familie Ghonorez
(Berlin, Stuttgart: Spemann [1885]) (Deutsche National-Litteratur,
149. Band), Einleitung, I-V
Herkunft und Familie
Einleitung.
- Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist,
dem Zweige Kleist-Schmenzin des berühmten altpommerschen
Geschlechts\1\ angehörig,
wurde am 18. Oktober 1777\2\
nachts um ein Uhr zu Frankfurt an der Oder <II:> geboren
und am 27. durch den damaligen Feldprediger, späteren Frankfurter
Oberpfarrer Protzen unter Assistenz von neun
adeligen Paten getauft. Der Vater Joachim Friedrich
von Kleist, damals gegen fünfzig Jahre alt, gehörte
gleich den meisten Abkömmlingen seines Geschlechts dem Offiziersstande
an, war Hauptmann, dann Oberstwachtmeister des dort garnisonierenden
Regiments Herzog Leopold von Braunschweig und
seit dem Januar 1776 in zweiter Ehe mit Juliane
Ulrike von Pannwitz verheiratet.\1\ Es waren keine großen Verhältnisse, die den Dichter
in seiner Jugend umgaben. Joachim Friedrich besaß etwas
Vermögen, und auf jedes seiner Kinder kam ein kleines Erbteil.
Mit zwei Stiefschwestern, drei rechten Schwestern und einem
jüngeren Bruder wuchs Heinrich in der kleinen Stadt heran,
die durch den siebenjährigen Krieg viel Schweres erlitten,
der es aber als Meß- und Universitätsstadt zeitweise auch
nicht an belebendem Verkehr fehlte. Das dem Vater gehörige
Haus, wo Kleist und seine Geschwister mutmaßlich geboren
sind, steht in der Mitte der Stadt in der Odergasse, gegenüber
der wundersam-phantastischen Marienkirche. Heinrichs ersten
Kinderjahre waren heiter. Namentlich an seine Stiefschwester Ulrike
schloß er sich innig an. Ihr romantisch erregter, nach Abenteuern
verlangender Sinn war dem seinigen verwandt. Seine früheste
Bildung erhielt er im Hause der Eltern durch einen nach
Beendigung seiner Studien interimistisch angestellten Theologen,
den späteren Frankfurter Rektor Konsistorialrat Martini\2\,
der seinen Schüler als einen nicht zu dämpfenden Feuergeist,
leicht erregbar, exaltiert und unstät, aber doch von bewundernswerter
Auf- <III:> fassungsgabe und warmem Wissenstrieb schilderte,
zugleich der offenste, fleißigste und anspruchloseste
Kopf von der Welt. Kleist hing an Martini mit zärtlichster
Liebe. Den Unterricht genoß er gemeinschaftlich mit einem
Vetter, v. Pannwitz, dessen schwerfälliger
Verstand und unselige Gemütsart mit den glücklicheren Geistesgaben
und dem Feuereifer Heinrichs unmöglich Schritt halten konnten.
Trübe Melancholie überkam deswegen das Gemüt des sich fruchtlos
abmühenden Vetters, der sich später den Tod gab. Dies warf
frühzeitig einen düstern Schatten auch auf das Leben des
begabteren Heinrich. Denn wenn es auch eine spätere Erfindung
sein mag, daß die beiden Vettern einmal die schriftliche
Abrede getroffen hätten, einst beide eines freiwilligen
Todes zu sterben, so ist doch nur allzu wahrscheinlich,
daß die traurige Gemütsart jenes Unglücklichen auch die
verwandten Anlagen Heinrichs früh geweckt und genährt hat.
1785 wird der achtjährige Knabe mit Schrecken die große
Oderüberschwemmung mit angeschaut haben, welche dem heldenmütigen
Herzog Leopold von Braunschweig, dem Commandeur des in Frankfurt
garnisonierenden Infanterieregiments, bei dem Versuche der
Errettung mehrerer Menschen das Leben kostete. In
seinem elften Jahre war Heinrich mit seinem Bruder Leopold
auf Besuch bei einem Verwandten, dem Onkel von Kleist
auf Tschernowitz\1\ bei Guben. Dieser soll
einmal die beiden Knaben aufgefordert haben, seinen neuen
Kuhstall zu besingen, doch gewann nicht Heinrich, sondern
der achtjährige Leopold den für das beste Gedicht versprochenen
Friedrichsdor.\2\ Man wird da an das märkische
Sprichwort: Jeder Kleist ein Dichter erinnert,
aber Heinrichs poetisches Talent scheint sich erst später
entwickelt zu haben.
Am
18. Juni 1788 starb der fast sechzigjährige Vater an
der Wassersucht. Heinrich kam nach Berlin und wurde dem
Katechismus-Prediger der Französischen Hospital-Kirche und
Professor des Hebräischen am Französischen Gymnasium Samuel
Heinrich Catel zu weiterer Ausbildung übergeben, doch
ohne daß es diesem gelungen wäre, seinem Zögling einen christlich
frommen Sinn, wenigstens für die Dauer, einzupflanzen. Um
so bessere Kenntnisse erwarb er hier im Französischen, das
er, nach dem <IV:> Zeugnis seiner Freunde, eigentlich
fließender als das Deutsche gesprochen haben soll.
So
wenig uns von Kleists Kindheit überliefert ist, so dunkel
sind die folgenden fünf Jahre; es läßt sich nicht einmal
mit Bestimmtheit sagen, ob er sie ganz in Berlin verlebt
hat. Er erwähnt später einmal, daß er als neunjähriger Knabe
am Rhein gewesen sei. So entsinne ich mich besonders
einmal als Knabe von neun Jahren, als ich gegen den Rhein
und gegen den Abendwind zugleich hinaufging und so die Wellen
der Luft und des Wassers zugleich mich umtönten, ein schmelzendes
Adagio gehört zu haben, mit allem Zauber der Musik, mit
allen melodischen Wendungen und der ganzen begleitenden
Harmonie. Es war wie die Wirkung eines Orchesters, wie ein
vollständiges Vaux-hall, ja ich glaube sogar, daß
Alles, was die Weisen Griechenlands von der Harmonie der
Sphären dichteten, nichts Weicheres, Schöneres, Himmlischeres
gewesen sei, als diese seltsame Träumerei. Und später
erzählt er, daß er, schon als Knabe, mich dünkt am
Rhein, durch eine Schrift von Wieland sich den Gedanken
angeeignet habe, daß die Vervollkommnung der Zweck der Schöpfung
wäre.\1\ Nicht
sowohl aus eigenem Antrieb, als vielmehr auf den Wunsch
der Familie der alten Kleistischen Tradition folgend, trat
er im Dezember 1792 in die preußische Armee als jüngster
gefreiter Korporal beim 2. (3.) Bataillon Garde.
Im folgenden Jahre verlor er am 3. Februar seine Mutter.
Ihre Schwester, eine Frau von Massow, versammelte
die in Frankfurt gebliebenen Kinder um sich und führte den
Haushalt im elterlichen Heim fort. In den uns erhaltenen
Briefen spricht Kleist nur ein einziges Mal von seiner Mutter.\2\ Sie scheint eine weiche,
tiefe Natur gewesen zu sein, denn Kleist bemerkt gelegentlich:
Die ganze Empfindung meiner Mutter kam über mich und
machte mich wieder gut. Im Jahre 1794/5 macht er den
Rheinfeldzug als Junker mit. Bei Trippstadt
in der bayerischen Pfalz hatte sein Corps im Juli 1794 einen
recht ernsten und unvorhergesehenen Angriff
der Franzosen zu bestehen, den es in echt preußischer Entschlossenheit
zurückwies.\3\ Am 25. Februar 1795 treffen wir Kleist
im Dorfe Eschborn bei Höchst im
Nassauischen. Am 14. Mai wird er Fähnrich bei dem Garderegiment
<V:> Nr. 15. Unter seinen Kameraden, zu denen
auch der spätere Dichter de la Motte Fouqué
gehörte, der, im selben Jahre wie Kleist geboren, mit ihm
an der Rheincampagne teilnahm, galt Kleist als ein lebensfrischer
eleganter Jüngling, ausgezeichnet durch ein hervorragendes,
obschon unausgebildetes Talent zur Musik: ohne Noten zu
kennen, komponierte er Tänze, sang sogleich alles nach,
was er hörte, und spielte in einer von Offizieren gebildeten
Musikbande die Klarinette. Ein Brief an seine Schwester
aus dieser Zeit zeigt ihn uns als wohlerzogenen Provinzjunker.
Allein der Konflikt zwischen dem, was er nach dem allgemeinen
Sittengebot für seine Pflicht erachten mußte und den Anforderungen
seines Berufes, ward für ihn, der einst den Prinzen
von Homburg schreiben sollte, täglich mehr zur Quelle
schwerer innerer Kämpfe. Stets schwankte er, ob er als Mensch
oder als Soldat handeln sollte. Während er im Nassauischen
die Wiederaufnahme des Kampfes erwartete, erflehte er vom
Himmel nur Frieden, um die Zeit, die man jetzt so unmoralisch
töte, mit menschenfreundlicheren Thaten bezahlen zu können.
Ein jenen Tagen entstammendes Gedicht: Der höhere
Frieden ist in ähnlicher Stimmung geschrieben. Dem
menschlichen Rufe der Zwietracht und dem kriegerischen Donnerwagen
stellt er den Frieden im stillen Busen, die Unschuld, an
Gott den Glauben, der dem Hasse wie dem Schrecken wehrt
und die Freude an der Natur entgegen.
\1\ Seine Stammtafeln
reichen bis zum Jahre 1175 zurück. Ihren ersten Lehnbrief
erhielten die in Pommern angesessenen Kleiste
am 13. April 1477. Als der gemeinsame Stammvater der
drei Hauptlinien: der Villnow-Raddatzer, Tychow-Dubberower
und Muttrin-Damenschen, wird nach den neuesten Forschungen
Klest von Denzin angesehen, dessen Petschaft
mit dem Kleistschen Wappen, Umschrift und Jahreszahl 1290
im Jahre 1834 gefunden wurde. Die Glieder des Geschlechts
haben sich stets besonders durch militärische Tüchtigkeit
ausgezeichnet. Es gibt unter ihnen achtzehn preußische Generäle,
darunter zwei General-Feldmarschälle, die gelehrten Kanzler
Bogislaw X. und Pribislaw Kleist, der Physiker Domherr
Ewald von Kleist, der Erfinder der Kleistschen (Leydener)
Flasche, und die drei Dichter Christian Ewald, der kriegerische
Sänger des Frühlings, und Franz Alexander, der
jetzt vergessene fruchtbare Verfasser von: Zamori, Hohe
Aussichten der Liebe u. s. w. (1769-1797) und
unser Poet.
\2\ Noch 1876 wurde
der 10. Oktober 1776 als der hundertjährige Geburtstag
Kleists festlich begangen. Wenige Tage später machte Prorektor
Schwarze in Frankfurt a. O. (Gegenwart, X, 287) darauf
aufmerksam, daß der Dichter laut dem dortigen Garnison-Kirchenbuch
am 18. Oktober 1777 geboren ist. Kleist selber gedenkt
irrtümlich des 10. Oktobers als seines Geburtstages
(vgl. Bülow, H. v. Kleists Leben und Briefe, Berlin
1848, S. 111; Biedermann, H. v. Kleists Briefe
an seine Braut, Breslau 1884, S. 96), und Ludwig Tieck
in seiner Vorrede zu Kleists Hinterlassenen Schriften (Berlin
1821) giebt das falsche Jahr und im Vorwort zu dessen Gesammelten
Schriften (Berlin 1846) auch noch den falschen Tag an. Vgl.
Siegen, Kleist und der Zerbrochene Krug, Sondershausen 1879,
S. 131, wo der Taufschein abgedruckt ist.
\1\ Joachim Friedrich
von Kleist, geboren am 13. Oktober 1728, vermählte
sich zum erstenmal am 29. September 1769 mit der erst
14jährigen Karoline Luise v. Wulffen, Tochter des weiland
Hauptmann v. Wulffen auf Steinhöfel und Kersdorf bei
Fürstenwalde. Die Kinder dieser Ehe waren zwei Töchter:
Bernhardine Friederike Karoline Wilhelmine,
geb. 7. Mai 1772, von Heinrich: Minette genannt, nachmals
geschiedene Frau von Löschbrandt, und Heinrichs Lieblingsschwester
Philippine Ulrique Amalie, geb. 26. April
1774, empfing die Nottaufe am 3. Mai, 6 Uhr früh. Um
10 Uhr desselben Tages starb ihre Mutter am Friesel, 19 Jahre
alt. Der Vater vermählte sich zum zweitenmale im Januar
1775 mit der sechsten Tochter des Erbherrn von Müschen,
Babow und Gulben, geb. 22. März (14. April?) 1746.
Die Kinder dieser Ehe sind: 1. Friderica Juliana
Christina, geb. 17. Dezember 1775, später vermählt
mit Herrn v. Stojentin auf Schorin bei Stolp, von Heinrich:
Fritz genannt; 2. Maximiliana Katharina Augusta,
geb. 4. November 1776, Gustchen genannt, vermählt mit
ihrem Vetter Wilhelm v. Pannwitz; 3. Bernd Heinrich
Wilhelm, der Dichter; 4. Leopold Friedrich,
geb. 7. April 1780, später im Garderegiment in Potsdam,
nahm als Major den Abschied, ward Postmeister zu Stolp in
Pommern und starb plötzlich bei einem Besuche des Kronprinzen
(Friedrich Wilhelm IV.) am 4. Juni 1837; 5. Juliane
Hedwig Karoline, geb. 25. September 1784, Julchen genannt,
nachmals vermählt mit Gustav v. Weiher in Felstow bei
Lauenburg (Hinterpommern). Die Familie blüht noch in den
Nachkommen Leopolds. Vgl. Siegen, Kleist und seine Familie
(Gegenwart 1882, I, 292ff.)
\2\ Der Name von
Kleists Lehrer war bisher unbekannt. Kleist erwähnt denselben
übrigens einmal in seinen Briefen. Vgl. Koberstein, H. v. Kleists
Briefe an seine Schwester Ulrike, Berlin 1860, S. 112.
Tieck erhielt Kleists Brief an Martini 1832 durch C. Eduard
Albanus in Chemnitz und veröffentlichte ihn im Janus.
Bülow (4ff.) hat jene Mitteilung fast wörtlich benutzt,
nur daß er die Legende von dem versprochenen Selbstmord,
die Albanus vorsichtig mit: Irre ich nicht, so hörte
ich auch und: Verbürgen läßt sich dies freilich
nicht erwähnt, viel bestimmter wieder erzählt. Vgl.
Briefe an Tieck, herausgegeben von Karl Holtei, Breslau
1864, II 176f.
\1\ Kleist schreibt:
Schernewitz. Vgl. Koberstein S. 12.
\2\ Dieses
kindliche Produkt lautet nach mündlicher Mitteilung eines
Sohnes von Leopold v. Kleist:
Stehe denn, du fest Gebäude,
Hundert
Jahre noch wie heute,
Und
ein Brand verwüste nie
Deine
schöne Symmetrie.
Alle Viehkrankheit und Seuchen
Mögen
ferne von dir weichen,
Jeder
Ochs und jede Kuh
Stehen
hier in guter Ruh.
Wenn mit ungeheurem Knallen
Du
wirst ineinander fallen,
Dann
sei noch die Sage wahr,
Was
das für ein Kuhstall war.
\1\ Vgl. Biedermann
S. 88. 164.
\2\ Vgl. Bülow
S. 244.
\3\ So bezeugt
Fouqué in seinem Aufsatz: Die drei Kleiste in
der Zeitung für die elegante Welt 252 (24. Dez. 1821),
S. 201. Gott bescheerte ihm das Glück, sich gleich
in den ersten frischen Jugendjahren dem Feinde gegenüber
als Soldat zu versuchen
Zu großen Hauptschlachten
blühte der Kampf dieses Jahres nicht auf; doch immer fanden
die Kriegsleute Gelegenheit, vor sich und Andern ihre freudige
Todesverachtung darzuthun und geehrt und geliebt von seinen
Waffenbrüdern zog nach geschlossenem Frieden der Jüngling
Heinrich in seine Garnison Potsdam ein. Fouqué hat
die Kämpfe jener Tage beschrieben in seiner militärischen
Biographie des Generals Rüchel (Berlin 1828, S. 288f.).
Die Kämpfe um Trippstadt, Zweibrücken, Kaiserslautern begannen
am 10. Juni, am 2. Juli warf die Kavallerie, Rüchel
mit seinem Stock in der Hand an der Spitze, die Franzosen
zurück, am 11. wurde das Corps des Generals von Kleist geschlagen
und diese Plänkeleien dauerten mit wechselndem Glück monatelang
fort, bis Ende November die Winterquartiere bezogen wurden.
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