Theophil
Zolling, H. v. Kleist in der Schweiz (Stuttgart: Spemann
1882), 150-152
Christoph Martin Wieland an Ludwig Wieland, Oßmannstedt,
10. 6. 1802
O. [Osmannstädt],
den 10. Juni 1802.
Mein lieber Sohn! Ich kann mich nicht darüber
beschweren, daß mir Dein Brief vom 9. May von eurer neuesten Revolution nichts
mehreres offenbart, als was ich schon ad satietatem usque in den Zeitungen
gelesen hatte. Freilich wünschte ich über die Beschaffenheit und den Zusammenhang der
Ursachen und Wirkungen aller zeitherigen Politischen Krämpfe und Wehen der neuen
Helvetischen Republik (die für mich lettres closes sind) endlich einmal ins
Klare zu kommen, ich sehe aber wohl, daß, wenn Dir auch alle geheimen Triebräder und das
ganze dessous des cartes bekannt wäre (was doch wol schwerlich der Fall sein
mag), es doch keineswegs räthlich wäre, die Aufschlüsse, die Du mir darüber geben
könntest, einem Briefe zu vertrauen. Das, wovon ich gänzlich überzeugt bin, ist, daß
dem kleinen Helvezien, sowie dem großen Frankreich nur durch Einen Mann geholfen werden
könnte, der für Euch wäre, was Napoleon Bonaparte
für die Franzosen ist. Gäbe es innerhalb der Rhone, der Aar und des Rheines einen
solchen Mann, so müßte er sich schon lange gezeigt haben. In meiner Jugend kannte ich
einen, aber er kam vierzig Jahre zu früh in die Welt. Es war der ehemalige
Bürgermeister Heidegger in Zürich.\1\
Leider ist nicht zu hoffen, daß Seines gleichen sobald wieder erscheine. Mit bloßen
guten verständigen ehrlichen Biedermännern vom gewöhnlichen Schweizer-Schrot und Korn
ist euch so wenig gedient, als mit Spitzköpfen, Schwärmern, democratischen Knollfinken
oder vernagelten Berner und Friburger Aristocraten. Ich sehe nur Ein Mittel, wie die
Schweitz wiedergebohren werden kann, und dies ist, daß Napoleon ihr die
Barmherzigkeit erweise, die er an der Cisalpinischen Republik erwiesen hat,
und daß er selbst komme, alle Schweitzer, denen der Kopf nicht wackelt und denen aliquid
salit in laeva parte mamillae, zu sich berufe und einen Vicepräsidenten aus ihnen
erwähle, der euch, unter seinen Befehlen, regiere und mit dem Beystand einer hinlänglich
bewaffneten Macht aller Fehd, allen Fakzionen, Intrigen, Kabalen, Narrheiten und
Teufeleyen ein Ende mache. An Politische Selbständigkeit der Schweitz ist gar nicht mehr
zu gedenken; sich ihre recuperation nur träumen zu lassen, wäre das größte ridicule,
ein wahrer Lalleburger Einfall: Helvezien, sowie die Lombardische und Batavische Republik
sind nun einmahl nichts als Vorstädte der großen Gallischen Civitas, können
nichts andres mehr sein, und werden, so lange diese dauert, nichts anderes
werden. Dies ist mir so klar und evident als daß kein Ich ohne ein Nicht-Ich seyn kann.
Möge der Himmel den guten Schweitzern so viel Erleuchtung geben, daß sie dies einsehen
und sich ein für allemahl mit guter Art in ihr Schicksal finden und fügen; denn das
fysisch unmögliche kann nur ein Kindskopf oder ein Wahnsinniger bewirken
wollen. <151:>
Was ich Dir schon mehr als Einmahl geschrieben habe, lieber L., muß
ich auch itzt wiederholen: ich wünsche herzlich, daß du in der Schweitz möchtest
bleiben und einwurzeln können. Ich müßte mich sehr irren, oder du taugst nirgends
besser hin. Geht es aber nicht an, so komm immerhin auf den Herbst wieder zu mir
zurück, wiewohl ich in Deutschl. keinen Ausweg für dich sehe. Für einige Zeit wirst du
dich wenigstens um so eher bey mir behelfen können, da ich hoffe und beynahe gewiß bin,
daß ein ganz anderes Verhältniß zwischen uns Statt finden würde, als ehmals und daß
Du mir von großer ressource seyn würdest.
Der Tod Deiner Mutter hat einen unheilbaren Riß in meine Existenz
gemacht. Oßmannstädt ist nicht mehr für mich, was es war; mitten unter den
Meinigen fühle ich mich so allein, als in einer unbewohnten
Insel, und bin es auch, ungeachtet alles guten Willens derer, die mich umgeben. Was
ich mit deiner Mutter verloren habe, ist unsäglich, und den meisten Leuten unbegreiflich;
ich müßte in Medeens Kessel regeneriret werden und von neuem zu leben anfangen, wenn es
mir sollte ersetzt werden können und wahrlich auch dann müßte Sie zugleich
wieder aufleben und den Platz wieder bey mir einnehmen, den keine andre ausfüllen kann.
Von Grund aus ist mir also freylich nicht zu helfen, aber gegen den traurigen Mangel eines
Wesens um mich her, dem ich mich mittheilen kann, würde der Umgang mit dir, lieber
L. ein für mich wohlthätiges Mittel seyn. Wahrscheinlich würde ich dann den Plan, mit
dem ich seit einiger Zeit umgehe, und dessen Realisirung alle meine weimarische Freunde
mit großem Eifer betreiben, wenigstens auf ein Jahr hinaussetzen. Dieser Plan ist, das
Gut zu O. (Osmannstädt) dem Erler pachtweise zu übergeben. Den größern Theil des
Jahres mit einem Theil meiner Familie (der Schorchtin und Luise) in der Stadt zu hausen,
und zu Oßmannstädt nur einige Monate der schönen Jahreszeit zuzubringen. Die
Ausführung dieses Projects ist nicht ohne Schwierigkeiten; doch würde sich, wenn ich
mich einmahl fest dazu entschlossen hätte, vermuthlich alles applaniren lassen. Auf alle
Fälle beschließe ich hierüber nichts definitiv, bis ich weiß, ob Du kommst oder nicht.
Dein neuer Freund v. Kleist interessirt mich so
sehr, daß du mich durch nähere Nachrichten von ihm sehr verbinden würdest.
Natürlich bin auch begierig mit dem ersten Produkt, womit du
(wiewohl incognito) im Publico aufgetreten bist, bekannt zu werden. Melde mir
also den Titel, u. den Verleger, damit ich mich baldmöglichst in den Besitz eines Exemplars
setzen könne.\1\
Dem T. (Teutschen) Merkur wird vermuthlich am letzten dieses Jahres zu
Grabe geläutet werden. Der Absatz nimmt mit jedem Jahrgang ab, und was der dermahlige
Verleger pr. Honor. geben will, ist weniger als der elendeste Romanschreiber verdient.
Ueberhaupt hat es noch nie so schlecht um den Buchhandel gestanden als dermahlen. Von
Geßner habe ich seit Jahr und Tagen keine Zeile erhalten. Ich wünsche sehr zu wissen,
wie seine Sachen stehen, und was für Aussichten er in der neuen Ordnung der Dinge hat.
Wenn den Zeitungen zu glauben wäre, so ließe sich alles ganz gut bey Euch an; in
Frankreich hingegen zeigen sich seitdem sich Napoleon zu dem bekannten (wie
ich besorge) falschen Schritt\2\ hat verleiten
lassen, Aspecten von schlimmer Vorbedeutung. <152:>
Schreibe mir so oft als möglich, lieber Sohn, und sey versichert daß
itzt niemand meinem Herzen näher ist als du. Tausend herzliche Grüße an deine gute
Schwester und ihren Mann. Wollte Gott, ich könnte den Rest meines Lebens bey Euch in der
Schweitz beschließen!
Lebt wohl, meine Kinder!
W.
- \1\ Heinrich Geßners
Großvater.
\1\ Ein offenbares Mißverständnis, denn die
beiden vom alten Wieland 1803 und 1805. herausgegebenen Bände Dialogen und
Erzählungen sind das erste, was sein Sohn drucken ließ. Vielleicht handelt es sich
hier um die bald darauf anonym erschienene Familie Schroffenstein, als deren
Verfasser Ludwig Wieland noch 1820 in Meusel und Ersch, Gelehrtes Teutschland,
Lemgo IV, S. 225, genannt wird.
\2\ Damit ist wohl seine Ernennung zum Konsul auf
Lebenszeit gemeint.
Emendation
Bonaparte] Bonoparte D
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