Edwin
H. Zeydel, Percy Matenko, Robert Herndon Fife (Hrsg.), Letters of Ludwig Tieck. Hitherto
Unpublished 1792-1853 (New York, London: Oxford University Press 1937), 230f.
Ludwig Tieck an Theodor Winkler, Januar 1823
Ihr Briefchen, lieber Freund Winkler, hat mich in einige Verlegenheit gesezt. Ich
achte Sie, halte Sie für meinen wahren Freund, und bin der Ihrige, mit Vergnügen denke
ich an unsre alte Bekanntschaft zurück. Aber lassen Sie mir meine Weise, wie ich immer
und auch damals war. Ich kann die nun alt gewordene Thorheit nicht ablegen, in der Kunst
nur die Kunst zu sehn. Ich hielt meinen Aufsatz gerade für recht milde; denn ein
Verstimmter durfte diesen schwachen Versuch wohl noch ganz anders von oben herab
abfertigen. Ich habe mich die Mühe nicht verdrießen lassen, Gehes Stücke alle zu
lesen, und mein Freund wenn Sie als Mann zu Mann sprechen
wollen wo ist denn etwas zu loben? Ich versichere, ich habe in der Anna
ordentlich ängstlich gesucht, um nur irgend etwas, seien es auch nur ein paar Verse,
Lobenswürdiges anzutreffen; allein es fand sich so gar nichts. Lassen Sie
einmal die unkritische Gutmüthigkeit des freundlichen Umgangs fahren, die der-
<231:> gleichen nicht aussprechen will, und sagen Sie mir denn einmal
aufrichtig: Kennen Sie viele Menschen unsrer Tage, die, wenn sie Schiller und
andere gelesen haben, nicht, auch in Nebenstunden eine solche Anna B. schreiben
könnten? Wenn mir Houwald, Grillparzer, selbst Müllner, so ganz
schwach und verfehlt vorkommen, und ich damit nie hinterhalten werde, wo
bleibt denn ein Gehe?
Es wird ihn erschüttern,
sagen Sie. Lieber, desto besser, wenn er einmal einen kritischen zweifelnden Blick in sich
hinein thut. Entweder giebt er die völlig undankbare Arbeit auf, oder er studirt, lernt,
giebt sich Mühe, quält sich, schüttelt nicht Tragödien aus dem Ermel. Er
erinnre sich, daß Schiller 7 Jahr am Wallenstein arbeitete. Er bedenke, daß der arme Kleist manche Scene zehn mal
umgedichtet hat. Dabei will er ja nicht von der Dichtkunst leben, sie soll ja nicht sein
Beruf sein.
Es ist fast komisch: ich
kenne die Geschichte der Anna so genau, und bin meinen Rapin, Humeund Herbertwieder
durchgegangen, Burnet und einige Chroniken, auch neuere Schriften; und habe es
nicht lassen können, bei d[ie]ser Gelegenheit mehr zu lesen, als der Autor gewiß bei
seiner Arbeit gethan hat. Sie können, sollte er sich über Sie als Freund
beklagen, ihm selbst die Summe d[ie]ses Billets bei Gelegenheit mittheil[en].
Wegen Cal. haben Sie Recht;
ich hatte es mir vorgenommen, und nur vergessen. Lassen Sie doch Beiliegendes, wo
möglich, da einschalten, wo gesagt wird, daß das Stück auf der Bühne keine Wirkung
gethan. Ich achte übrigens Gehe, und wünsche, er schriebe etwas
Trefliches.
Ihr
Freund,
L. Tieck.
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