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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Adolf Wilbrandt, Heinrich von Kleist (Nördlingen: Beck 1863), 205f.

Kleists Flucht aus Paris


Kleist hatte sein Leben auf den Wahlspruch gestellt: „Alles oder Nichts“; nun lag das Nichts offen vor ihm, und in dieser fürchterlichen Krise begann sein Geist sich zu verwirren. Er reiste mit Pfuel weiter, über Lyon nach Paris; aber er dachte nur noch an den Tod. Er forderte Pfuel von Neuem vergeblich auf, mit ihm gemeinsam zu sterben. Seine Seele verbitterte sich auch gegen den Freund, wie sie sich gegen alle Andern verbittert hatte; und da er sich eines Tages mit dem vollen Hochmuth des Elends gegen ihn ausgeschüttet und ihn zu heftigem, zurechtweisendem Widerspruch gereizt hatte, eilte er verzweifelnd davon, verbrannte seinen „Guiskard“ und alle seine Papiere\1\ und entfloh aus Paris. Während Pfuel, von dem entsetzlichsten Verdacht ergriffen, ihn am andern Tag und wieder am Tag darauf in der Morgue unter den aufgefundenen Leichen suchte, wanderte Kleist nach Norden, ohne Paß, zu Fuß, seinen Untergang suchend. In Boulogne rüstete man gerade damals die große Expedition gegen England aus: er machte sich auf den Weg dorthin, um auf <206:> diesem Kriegszug zu sterben, und von St. Omer aus schrieb er (am 26. Oktober) an Ulriken einen letzten Abschiedsgruß: „Meine theure Ulrike! Was ich Dir schreiben werde <…> Du wirst mein letzter Gedanke sein“!

\1\ Es soll, nach Bülow, auch ein Drama „Peter der Einsiedler“ darunter gewesen sein, das er während dieses Pariser Aufenthalts soll geschrieben haben. Das Letztere indessen ist nicht möglich, denn aus den Daten von den Briefen Kleist’s aus Genf und St. Omer (5. und 26. October) ersieht man, daß Kleist nur wenige Tage in Paris gewesen sein kann. Ueber diese ganze Krisis war Bülow überhaupt höchst dürftig und zum Theil irrig unterrichtet; seine Darstellung auf S. 40 muß in wesentlichen Punkten nach der oben gegebenen berichtigt werden, die, wo sie neu ist, auf mündlicher Mittheilung beruht. In den Kleistschen Briefen finden sich nur ein paar Andeutungen über das Treiben in dieser Zeit: in einem der Briefe, die er (im Frühjahr 1807) aus Chalons schrieb, erinnert er sich (Bülow S. 49) des Zusammenlebens mit Pfuel „in jenem Sommer vor drei Jahren, wo wir in jeder Unterredung immer wieder auf den Tod als auf den ewigen Refrain des Lebens zurückkamen“ – und in dem 27. Brief an Ulrike stellt er seinen Zustand nach der Flucht als ein Gemisch von körperlicher und geistiger Krankheit dar (Briefe an Ulrike S. 94f.).

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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