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Adolf Wilbrandt, Heinrich von Kleist (Nördlingen: Beck 1863), 152-155

„Leopold von Österreich“


Einen andern größeren Stoff fand er in der Schweizer Ge- <153:> schichte auf: ein Trauerspiel  „Leopold von Oesterreich“. Er soll es nach Bülow im nächsten Jahre in Paris (im Shakespearschen Style) geschrieben haben; gewiß ist, daß er in Paris 1803 nur wenige Tage verlebte\1\, und höchst wahrscheinlich, daß er dieses Stück schon 1802 in der Schweiz begann. Darauf deutet nicht blos der Stoff (die Schlacht von Sempach) und die Versicherung Pfuels\2\, daß der „Leopold“ zu des Dichters frühesten Arbeiten gehörte: auch eine Notiz in dem eben citirten Brief an Ulrike weist darauf hin. „Ich war vor etwa vier Wochen“, sagt er in einer Nachschrift, „ehe ich hier einzog, im Begriff nach Wien zu gehen, weil es mir hier an Büchern fehlt; doch es geht so auch und vielleicht noch besser. Auf den Winter aber werde ich dorthin“ &c. Man sieht, diese Notiz kann sich nur auf eine Arbeit beziehen, die er unter den Händen hatte, und wir wissen von keiner, auf die sie bezogen werden könnte, außer auf den „Leopold von Oesterreich“. Kleist ließ sich, wie wir ferner ersehen, zunächst an seinen schweizerischen Quellen genügen; und Pfuel erzählt, daß er diesen Quellen viele pikante Züge entnahm, die er mit gewaltiger Wirkung verwerthete. Die Hauptscene aber des ersten Aktes war, wie die Ritter Leopolds vor der Sempacher Schlacht würfeln, wer mit dem Leben davonkommen wird, wer nicht. Die stolzen Herren sitzen zechend beisammen, und sie beginnen das Würfeln wie ein übermüthiges Spiel. Drei schwarze Seiten haben die Würfel und drei weiße; die schwarzen bedeuten den Tod. Die ersten der Würfler werfen schwarz; man lacht und scherzt darüber; das Spiel geht fort, auch die Nächsten werfen schwarz, und immer mehr und mehr – allmählich verstummt der kecke Jubel und ein nachdenklicher Ernst kommt über die Gesellschaft; – zuletzt haben Alle schwarz <154:> geworfen.\1\ Wie dieser grausige Vorgang Schritt für Schritt in dem hochfahrenden Kreise die unheimlichste, zuletzt die fürchterlichste Stimmung verbreitet, das war, nach Pfuels Erinnerungen, mit überwältigender Kraft geschildert.
Man muß nach Allem vermuthen, daß Kleist diesen ersten Akt schon auf seiner Insel in der Aare schrieb; er hat überhaupt (wie Pfuel versichert) nur den einen vollendet. Uns ist er leider verloren – mit allem dem Uebrigen, das im folgenden Jahr in Paris, in des Dichters verzweifeltster Stunde, unterging.\2\
Dagegen gelang es ihm hier, mit seinen „Schroffensteinern “ ein leidliches Ende zu machen und sie auf den sauern Gang unter die Menschen hinauszuschicken. Er hatte mehr als Andere eine Scheu vor der Oeffentlichkeit zu überwinden. Während sonst die jungen Poeten oft das Licht ihres Tages kaum erwarten können, hatte Kleist sich gewöhnt, das Kind seiner Liebe, „wie eine vestalische Priesterin das ihrige, heimlich aufzubewahren bei dem Schein der Lampe“. Er war spät, und in heftigen, verborgenen Kämpfen, in den Dienst seiner Kunst gerathen; der Widerspruch zwischen seiner reiferen ästhetischen Einsicht und seiner schülerhaften Praxis hatte ihn zu Grunde zu richten gedroht; nie war er seiner Production gegenüber unbefangen gewesen. So hatte er sich in grübelnder Einsamkeit ein Ideal ausgearbeitet, und sich in den Gedanken verrannt, dieses Ideal könne er, wenn überhaupt, nur in dem „Robert Guiskard“, dem Liebling aller seiner Träume, verwirklichen; und es ist kaum zu bezweifeln, daß erst seine Berner Freunde ihm wieder ein Interesse für andere Pläne, zunächst für die „Schroffensteiner“ einflößten. Er hat auch fernerhin, wie es scheint, an den Schroffensteinern nie mit ganzer Seele <155:> gehangen. Als er das Stück endlich seiner Schwester gedruckt überschicken kann, bittet er sie und die Seinigen, es nicht zu lesen: es sei eine elende Scharteke\1\. Und wie Pfuel erzählt, war es überhaupt auf eine wunderliche, zufällige Weise entstanden. Ihm war eines Tages die seltsame Auskleidescene des letzten Aktes, rein als Scene, in den Sinn gekommen, und da die Situation ihn anzog, hatte er sie wie eine zusammenhanglose Phantasie niedergeschrieben. Dann erst fiel ihm ein, sie mit andern Fäden der Erfindung, vielleicht auch mit einem zufällig entdeckten Stoff (wir wissen nichts Näheres über die stoffliche Grundlage der „Schroffensteiner“) zusammenzuspinnen, und so wob sich allmählich um diese Scene die ganze Tragödie herum. Diese Mittheilung Pfuels widerspricht weder dem Charakter des Stücks, noch der Kleistischen Art zu dichten; dagegen wirft sie ein erläuterndes Licht auf die Tragödie selbst.

\1\ Vgl. unten Cap. 9.
\2\ Mündliche Mittheilung, wie Alles, was über den „Leopold“ folgt; vgl. das Vorwort.
\1\ Der Leser erinnert sich, daß in der That nur wenige von Leopolds Rittern dem Untergang in der Schlacht entrannen.
\2\ Vgl. unten Cap. 9 am Ende.
\1\ Briefe an Ulrike S. 85.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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