Christoph
Martin Wieland über Heinrich von Kleist, in: Orpheus 3 (1824), 155-160
Christoph Martin Wieland an Georg Christian Gottlob Wedekind, Weimar,
10. 4. 1804
Weimar den 10. April 1804.
- Der Inhalt der Zuschrift vom 3. d. M. womit ich mich von Ihnen
beehrt finde, hat mich nicht wenig gerührt und betrübt. Es ist nun beinahe ein Jahr seit
ich von Herrn von Kleist keine Nachricht habe, und ob ich gleich nicht sonderliche Ursache
hatte, viel Besseres zu hoffen, so hätte ich mir doch auch nicht einbilden können, daß
ich, nachdem ich diese Zeit her immer auf meinen vor ungefähr ¾ Jahr nach
Leipzig an ihn geschriebenen Brief gewartet hatte, durch die dritte Hand so traurige
Nachrichten von seinen Umständen erhalten würde.
Meine Bekanntschaft mit diesem Herrn von Kleist ist
die Frucht eines freundschaftlichen Verhältnisses, welches sich im Jahre 1801, ni
fallor, zwischen ihm und meinem ältesten Sohn Ludwig (der jetzt in Wien ist) in der
Schweiz, wo beide sich damals aufhielten, entsponnen hatte. Schon
damals schrieb mir mein Sohn von ihm als einem ausserordentlichen Genie, der sich mit
aller seiner Kraft auf die dramatische Kunst geworfen habe, und von welchem etwas viel
Größeres, als bisher in Deutschland gesehen worden, in diesem Fache zu erwarten sei. Im
Herbst des Jahres 1802 verließen beide die Schweiz und Kleist fand Gelegenheit, meinem
Sohn einen sehr wesentlichen Dienst zu leisten. Sie reiseten eine Zeitlang mit einander,
trenn- <156:> ten sich sodann und Kleist gieng nach Jena, mein Sohn aber zu mir nach
Oßmanstätt, 2 Stunden von Weimar, wo ich damals noch auf einem Gute wohnte, welches
ich aber wieder zu verkaufen entschlossen war und auch wenige Monate darauf einen Käufer
dazu fand, dem ich es acht Tage nach Ostern 1803 einräumte. Kleist zog nach einem kurzen
Aufenthalt in Jena nach Weimar, miethete sich ein Quartier, so gut es in der Eile zu haben
war, und besuchte mich ein oder zweimal auf meinem Gut. Es gieng mir mit ihm wie Ihnen.
Wiewohl mir nichts mehr zuwider und peinlich ist als ein überspannter Kopf, so konnte ich
doch seiner Liebenswürdigkeit nicht widerstehen. So oft dies, in meinem ganzen Leben, bei
einer neuen Bekanntschaft, die ich machte, der Fall war, entrainirte mich meine
natürliche Offenheit und Bonhommie weiter als die Klugheit einem kaltblütigen Menschen
erlauben würde. Desto zurückhaltender hingegen war Herr von Kleist und etwas
Räthselhaftes, Geheimnißvolles, das tiefer in ihm zu liegen schien, als daß ich es für
Affectation halten konnte, hielt mich in den zwei ersten Monaten unserer
Bekanntschaft in einer Entfernung, die mir penibel war, und vermuthlich alles nähere
Verhältniß zwischen uns abgeschnitten hätte, wenn ich nicht durch meinen Sohn erfahren
hätte, daß Kleist sich in seinem Quartier zu Weimar so schlecht befinde, daß er eine
Einladung, die übrige Zeit, die er sich noch in unserer Gegend aufzuhalten gedächte, bei
mir in Oßmanstätt zu wohnen, mit Dank annehmen würde. Sogleich ergieng diese Einladung
an ihn, er nahm sie an, bezog an einem der ersten Tage des Ja- <157:> nuars 1803 ein
Zimmer in meinem Hause und war von dieser Zeit an 9 bis 10 Wochen mein Commensal auf
eben dem Fuß als ob er zu meiner Familie gehörte. Alles was Sie mir von seinem Benehmen
in Ihrem Hause erzählen, ist auch die Geschichte der Rolle, die er bei mir spielte.
Er schien mich wie ein Sohn zu lieben und zu ehren; aber zu einem
offenen und vertraulichen Benehmen war er nicht zu bringen. Unter mehrern
Sonderlichkeiten, die an ihm auffallen mußten, war eine seltsame Art der Zerstreuung,
wenn man mit ihm sprach, so daß z. B. ein einziges Wort eine ganze Reihe von Ideen in
seinem Gehirn, wie ein Glockenspiel anzuziehen schien, und verursachte, daß er nichts
weiter von dem, was man ihm sagte, hörte und also auch mit der Antwort zurückblieb. Eine
andere Eigenheit und eine noch fatalere, weil sie zuweilen an Verrücktheit zu grenzen
schien, war diese: daß er bei Tische sehr häufig etwas zwischen den Zähnen mit sich
selbst murmelte und dabei das Air eines Menschen hatte, der sich allein glaubt oder mit
seinen Gedanken an einem andern Ort und mit einem ganz andern Gegenstand beschäftigt ist.
Er mußte mir endlich gestehen, daß er in solchen Augenblicken von Abwesenheit mit
seinem Drama zu schaffen hatte, und dies nöthigte ihn, mir gern oder ungern
zu entdecken, daß er an einem Trauerspiel arbeite, aber ein so hohes und vollkommenes
Ideal davon seinem Geiste vorschweben habe, daß es ihm noch immer unmöglich gewesen sei,
es zu Papier zu bringen. Er habe zwar schon viele Scenen nach und nach aufgeschrieben,
vernichte sie aber immer wieder, weil <158:> er sich selbst nichts zu Dank machen
könne. Ich gab mir alle nur ersinnliche Mühe, ihn zu bewegen, sein Stück, nach dem
Plan, den er sich entworfen hatte, auszuarbeiten und fertig zu machen, so gut es gerathen
wollte und es mir sodann mitzutheilen, damit ich ihm meine Meinung davon sagen könnte;
oder wenn er das nicht wolle, es nur wenigstens für sich selbst zu vollenden, um es dann
desto besser zu übersehen, das nöthige zu ändern, kurz alles gehörig auszutheilen und
zur Vollkommenheit bringen zu können. Sed surdo narrabam fabulam. Endlich nach
vielen vergeblichen Versuchen und Bitten, nur eine einzige Scene von diesem fatalen Werk
seines Verhängnisses zu sehen zu bekommen, erschien einsmals zufälliger Weise an einem
Nachmittag die glückliche Stunde, wo ich ihn so treuherzig zu machen wußte, mir einige
der wesentlichsten Scenen und mehrere morceaux aus andern, aus dem Gedächtniß
vorzudeclamiren. Ich gestehe Ihnen, daß ich erstaunt war, und ich glaube nicht zu viel zu
sagen, wenn ich Sie versichere: Wenn die Geister des Aeschylus, Sophokles und Shakspear
sich vereinigten eine Tragödie zu schaffen, sie würde das seyn was Kleists Tod
Guiscards des Normanns, sofern das Ganze demjenigen entspräche, was er mich
damals hören ließ. Von diesem Augenblicke an war es bei mir entschieden, Kleist sei dazu
geboren, die große Lücke in unserer dermaligen Literatur auszufüllen, die (nach meiner
Meinung wenigstens) selbst von Göthe und Schiller noch nicht ausgefüllt worden ist; und
Sie stellen sich leicht vor, wie eifrig ich nunmehr an ihm war, um ihn zur Vollendung des
Werks zu bewegen. Er schien zwar damals über <159:> die Wirkung, die er auf mich
gethan hatte, ungemein erfreut, und versprach alles Gute: aber dabei blieb es auch, und,
um ihn nicht zu quälen, fand ich nöthig, ihm während der übrigen Zeit, daß er mein
Hausgenosse war, so wenig als möglich von seinem Werk zu sprechen. Gegen die Mitte des
Märzes trennten wir uns endlich wieder, er verweilte noch mehrere Tage zu Weimar, gieng
dann nach Leipzig und Dresden und schrieb mir nach Verlauf einiger Monate ein kleines
Briefchen, worin er mir einen über Weimar reisenden Freund empfahl, ließ aber seit
dieser Zeit nichts weiter von sich hören. Auch klagt mein Sohn zu Wien, daß er seit
ihrer letzten Trennung nichts von ihm wisse. Da mir so eben zufälliger Weise das Concept
meines dem Herrn von Kleist nach Dresden (oder Leipzig) in Antwort auf sein besagtes
Briefchen geschriebenen Briefes unter meinen Papieren in die Hände fällt, so sei mir
erlaubt, die sein Drama betreffende Stelle abzuschreiben: Sie schreiben mir, lieber
Kleist, der Druck mannigfaltiger Familienverhältnisse habe die Vollendung Ihres Werkes
unmöglich gemacht. Schwerlich hätten Sie mir einen Unfall ankündigen können, der mich
schmerzlicher betrübt hätte. Zum Glück läßt mich die positive Versicherung des Herrn
von W*, daß Sie zeither mit Eifer daran gearbeitet, hoffen und glauben, daß nur ein
mißmuthiger Augenblick Sie in die Verstimmung habe setzen können, für möglich zu
halten, daß irgend ein Hinderniß von Aussen Ihnen die Vollendung eines Meisterwerks,
wozu Sie einen so allmächtigen innerlichen Beruf fühlen, unmöglich machen
könne. Nichts ist dem Genius der heiligen Muse, der Sie begeistert, unmöglich. Sie
<160:> müssen Ihren Guiscard vollenden, und wenn der ganze Kaukasus und
Alles auf Sie drückte u. s. w. Ich glaubte ihm durch diesen
Eifer, womit ich ihn zur Vollendung seines Werks bestürmte, den größten Dienst zu thun:
wie traurig wäre es für mich, wenn es nur dazu gedient hätte, ihn in das Schicksal, das
ihn zu verschlingen droht, vollends hinein zu stossen!
Wenn ich nun alle diese Umstände, seinen auf Selbstgefühl
gegründeten, aber von seinem Schicksal gewaltsam niedergedrückten Stolz,
die Excentricität der ganzen Laufbahn, worin er sich, seitdem er aus der
militärischen Carriere ausgetreten, hin und her bewegt hat, seine fürchterliche Ueberspannung,
sein fruchtloses Streben nach einem unerreichbaren Zauberbild von
Vollkommenheit und seinen bereits zur fixen Idee gewordenen Guiscard,
mit seiner zerrütteten geschwächten Gesundheit und mit den Mißverhältnissen, worin er
mit seiner Familie zu stehen scheint, zusammen combinire, so erschrecke ich vor den
Gedanken, die sich mir aufdrängen und fühle mich beinahe genöthigt zu glauben, es sei
sein guter Genius, der ihm den Einfall, sich in Coblenz zu einem Tischler zu verdingen,
eingegeben. Gewiß ist, (in meinen Augen wenigstens) daß das Project, welches Ihnen Ihre
so edelmüthig theilnehmende Zuneigung zu diesem liebenswürdigen Unglücklichen
eingegeben, ihn in einem Büreau, bei Ihrem Freunde M* unterzubringen, allein schon aus
der Ursache von unbeliebigen Erfolg seyn würde, weil diese Art von Beschäftigung
und Abhänglichkeit ihm in kurzer Zeit ganz unerträglich fallen
würde &c. &c.
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