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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Albrecht Weber (Hrsg.), Briefe der Familie Körner (1804-1815), in: Deutsche Rundschau 4 (1878), H. 10 (Juli), 115-136; darin: 115-117

Emma Körner an Friedrich Benedikt Weber, Dresden, 28. 11. 1809

Dresden den 28ten November 1809.

Nachdem uns die verschiedenen politischen Ereignisse in diesen Mauern festgehalten hatten benutzten wir die augenblickliche Ruhe des Waffenstillstands, um doch wenigstens die schöne Natur noch etwas dieses Jahr zu genießen. Wir brachten dießmal acht Tage in Leipzig zu, welche uns außerordentlich angenehm vergingen in dem Kreise unsrer Verwandten und Freunde. Bey Ihrem Bruder Christian machte ich die Bekanntschafft von Krugs und der Fräulein Zängen und sie gefielen mir gleich sehr wohl, die letztere hat ein sehr schönes musikalisches Talent und gleich nach Tische ließen wir unsre beyderseitigen Kehlen im Auditorium erschallen, wo uns Ihr Bruder hinführte\1\ und wo wir ganz stolz vom Katheder herabsangen. Von Leipzig aus giengen wir nach Frohburg wo wir 14 Tage zubrachten und von Zeit zu Zeit nach Gnandstein herüber giengen. Blümner hatte uns immer so viel von seinen flachen Boden erzählt, daß wir ganz überrascht waren als wir das Schloß ins Gesicht bekamen und die Gegend sahen, welche es umgiebt, und die wirklich sehr lieblich ist. Das Aeußere des Schlosses ist zwar nicht regelmäßig (wofür das Innere reichlich entschädigt) aber wenn man es in der Ferne von der Landschafft umgeben sieht, macht es dennoch einen hübschen point de vue. Die Lage von Gnandstein ist zwar romantischer, aber als Wohnung betrachtet hat Frohburg viel Vorzüge vor diesen, besonders wenn man sie beyde, wie Blümner und Einsiedels thun, zum Winteraufenthalt wählt, wo Gnandstein durch den Schnee ganz unzugänglich werden muß. Julie hat die alten Zimmer in Gnandstein recht artig eingerichtet und die Außicht aus den Fenstern ins Thal ist sehr schön, nur schade daß die gegenüber stehenden Berge ihr jede weitere Außicht verschließen. Wie wir wieder hierher kamen, fanden wir das ganze Haus voll französischer Einquartierung und der Zweck unsrer Reise das Abziehn von politischen Gegenständen gieng gänzlich verlohren da wir wieder in die alte Unruhe zurückkehrten, und meine gute Mutter wieder tausend Ärgernissen über die Einquartierung ausgesetzt war. Sie ist seitdem immer leidend gewesen und vorige Woche war sie bedeutend <116:> krank, so daß wir unendlich oft Gelegenheit gehabt haben zu bedauern, daß wir nicht während des Waffenstillstands nach Carlsbad gegangen sind.
Ich habe mich sehr gefreut wie ich die bestimmte Nachricht von der Realisirung der Berliner Universität laß und diesmal nicht allein um Ihretwillen, sondern um unser aller willen da mein Bruder nun wahrscheinlich Berlin zu seiner Universität wählen wird, wo so bedeutende Sammlungen für sein Fach sind und auch mehrere der Gelehrten welche dort angestellt sind lebhaftes Interesse an Naturwissenschaften nehmen, wo er dann sehr viel lernen könnte; und auf diese Art denke ich denn auch noch nach Berlin zu kommen, welches ich so lange schon zu sehen gewünscht. Ich gratuliere Ihnen herzlich lieber Cousin, daß Sie in Erwartung einer Anstellung in Berlin doch wieder einen kleinen Cirkel von Freunden in Frankfurt gefunden haben; Heinrich Kleist wird Ihnen gewiß immer mehr gefallen, je länger Sie ihn kennen werden; er hat kleine Eigenheiten in seinem Charakter die anfänglich auffallen, die aber so unumgänglich zu den ganzen Menschen gehören, daß man sich sehr bald daran gewöhnt wenn man das große dichterische Genie, welches er besitzt, zu schätzen weiß. Wenn Sie ihm sehen, so haben Sie die Güte ihm für sein Andenken zu danken und ihm vielmals von uns allen zu grüßen.
Nun lassen Sie uns von den neuen Schöpfungen Goethens sprechen; ich habe erst seit kurzen die Wahlverwandschafften gelesen und der Eindruck ist noch ganz neu den es auf mich gemacht hat, aber ich würde es für ein Mädchen von meinen Alter sehr arrogant finden über ein Werk dieser Art zu urtheilen; indessen da Sie mich um meine Meynung darüber fragen, will ich Ihnen so gut als möglich Genüge zu leisten suchen, nur bitte ich Sie nicht zu vergessen, daß bey allem was mir aufgefallen seyn könnte an diesem Werke blos von meinen individuellen Gefühl dabey die Rede ist, denn es können mir eine Menge Dinge entgangen seyn die ich nicht zu beurtheilen oder zu schätzen verstehe. Der Styl und die ganze Schreibart dieses Buchs hat mir unendlich gefallen und das ausmahlen einer Menge kleiner Nebenumstände, was so deutlich zeigt daß der Meister mit Liebe bey seinen Werke verweilt, und sich ungern davon losreißt, ist äußerst anziehend und interressant; aber mit den Personen welche diesen reichen Hintergrund beleben bin ich weniger zufrieden gewesen. Ottilie revoltirt mich oft durch ihr Betragen gegen Charlotten, sie wird als ein zart organisirtes Geschöpf geschildert, folglich auch für jede Regung empfänglicher, und doch gleichwohl denkt sie bey ihrer Liebe zu Edward kein einzigesmal an das Unrecht, welches sie Charlotten zufügt, über welche sie sich doch keineswegs zu beklagen hatte. Nach meinen Gefühl wäre Ottilie weit weiblicher und interressanter erschienen, wenn sie Edward sich selbst unbewußt geliebt hätte, denn es ist unnatürlich daß sie während der ganzen Zeit ihrer Leidenschafft für ihm, auch nie die mindeste Regung hat, daß sie Unrecht handelt und die kleine Klatscherei wo sie Edward sagt, was der Hauptmann über sein Flötenspiel geurtheilt ist ihres Charakters unwürdig, und macht das man für einige Zeit alles Interesse an ihr verliehrt. Gegen das Ende hebt sie sich wieder, nur habe ich nicht begreifen können, wie vier Menschen welche in einer so äußerst gespannten Situation sind als gegen das Ende des Romans die vier Hauptpersonen sind, wie diese wieder ihr altes Leben vornehmen und ganz gelassen Clavier spielen können. Gegen Charlotte kann man nichts einwenden, aber sie hat etwas trocknes in ihrer Natur, welches ihr Betragen weniger interressant macht als es vielleicht gewesen, wenn sie mit mehr Grazie tugendhaft wäre, und dann kann ich wieder nicht begreifen wie sie die Liebe zwischen Edward und Ottilie so ruhig ansehen kann, ohne daß sich je wieder ein leidenschafftliches Gefühl für den erstern in ihr regt, da sie ihm doch nach den ersten Seiten des Buches zärtlich zu lieben scheint. Im Anfang hat mich der Edward am meisten interessirt aber später hin misfällt mir ebenso sehr an ihm wie an Charlotten, daß auf einmal jeder Gedanke an seine frühere Liebe vernichtet ist, ohne daß die geringste Spur davon zurükehrt und er Charlottens Existenz gänzlich ignorirt. Der Architekt ist eine der interessantesten Erscheinungen des Romans, so wie noch mehrere Nebenpersonen eine angenehme Em- <117:> pfindung machen, welche wenn sie auch nicht unmittelbar nöthig sind zum Gang des Romans doch eine Menge Stoff zu lieblichen Bildern geben und den Leser die ganze Sorgfalt zeigen mit welcher Goethe sein Werk ausgeführt hat. In Ottiliens Tagebuche sind sehr schöne Stelln und es sind überhaupt eine Menge Bemerkungen in diesen Buch von deren Wahrheit man unendlich ergriffen wird. Kennen Sie das Fragment aus Wilhelm Meisters Wanderjahren von Goethe, welches in den Cottaischen Almanach auf 1810 steht? Diese kleine Dichtung würde Ihnen gewiß recht gefallen, es herrscht ein wunderbares Spiel einer reichen Phantasie darinn, welche den lieblichsten Eindruck macht. Das Stück von Apel welches Sie mir nennen, kenne ich nicht und werde es mir zu verschaffen suchen, aber den französischen Werther habe ich nicht Lust kennen zu lernen.

\1\ Christian Weber (1768-1838) war, wie vor ihm sein Vater und nach ihm sein zweiter Sohn Leopold (1805-1868), Actuar der Juristenfacultät in Leipzig. – Mit Krug ist jedenfalls der bekannte Professor der Philosophie, der von 1801-4 College meines Vaters in Frankfurt a. O. war, 1804 als Kant’s Nachfolger nach Königsberg und 1809 nach Leipzig kam (gest. 1842), und mit „Frl. Zängen“ Louise Zenge gemeint, die zweite Tochter des Generals Z. in Frankfurt a. O.

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