Karl August
Varnhagen v. Ense, Ausgewählte Schriften, 19 Bde.
(Leipzig: Brockhaus 1871-1874), Bd. 10 (1874), 202-204
Johann Benjamin Erhard an Johann Karl Osterhausen,
Berlin, 26. 11. u. 20. 12. 1811
Berlin,
den 26. November 1811.
Mein Freund!
Ob Du mir gleich nicht schreibst, erhältst Du doch Aufträge.
Dies
Jahr ist für mich ein trauriges Jahr. Meinen Freund Herbert
verlor ich durch Selbstmord, mein inniggeliebtes Kind verlor
ich durch meine Nachlässigkeit, daß ich es meiner Frau zu
sehr überließ, und ich werde Dir das mündlich
sagen! Der Tod dieses Kindes ist das erste Ereigniß
meines Lebens, das mich beugte; bisher hatte ich nur die Erfahrung
von Kränkung, Aergerniß und Betrübniß, aber gebeugt hatte
mich noch nichts nun ist mir auch dies widerfahren.
Meine
Frau treibt ihre Zanksüchtigkeit so weit, daß ich <203:>
mich, um mich meinen Kindern zu erhalten, scheiden lassen
muß. Bei allem diesem Unglück habe ich hier keinen Freund
meiner Jugend, obgleich redliche, mich liebende Männer; ihr
Rath ist gut, aber ihre Theilnahme kann ich nicht verlangen.
Von
hier findest du einige Nachrichten im Brief an S. und ich
bin zu verdrießlich, diesen mehr beizufügen. Doch auch eine
Geschichte, die vielleicht verunstaltet in Journalen gradirt.
Hier gab es vorige Woche einen gedoppelten Selbstmord, zwischen
einem Herrn von Kleist und der Frau eines Rendanten Vogel.
Diese Frau konsultirte mich vor drei
Jahren über eine unheilbare Krankheit, die sie auf die Aeußerung
eines Arztes haben sollte; ich fand die Sache nicht so schlimm,
gab ihr Mittel, und glaubte sie so weit hergestellt, worüber
ich auch Professor Froriep, der damals hier war, konsultirte,
daß sie nichts zu befürchten hätte; der Mann aber, der eine
Abneignung gegen sie bekam, entzog sich ihr, behandelte sie
aber mit Achtung. Sie war eine sehr gebildete Frau, vielleicht
verbildet, und schien sich in ihr Schicksal zu finden. Da
ich sie nun seit Neujahr 1810 nicht mehr besucht habe, so
kann ich von ihrem körperlichen Zustande nichts sagen, sie
sahe aber sehr wohl aus. An diesem Herrn von Kleist fand sie
einen geliebten Freund, der zu ihrer Schwärmerei paßte, der
in schlechten Umständen war, und sie beschlossen mit einander
zu sterben. Sie führten dies in einem Gasthof zwischen hier
und Potsdam aus. Im Freien, in dem Garten hinterm Hause, schoß
er sie durch das Herz, und sich durch den Kopf. Daß dieser
Kleist ein verschrobener Kopf war, kannst du aus einem Trauerspiel
von ihm Käthchen von Heilbronn sehen. Diese Geschichte,
die nur ein Gegenstand des Mitleidens sein kann, soll hier
von einigen Menschen als eine große That angesehen werden,
wie elend ist unser Zeitalter. Deutschland, du bist gewesen!
Die
Truppenmärsche von Frankreich aus dauern hier fort, und erschöpfen
das Land.
Ich
schließe meinen Brief, sonst verfiele ich in Klagen über alles,
und verderbte dir den Tag, anstatt daß ich vielmehr wünsche,
ein Brief von mir soll dir einen frohen <204:> Tag machen.
Lebe wohl, und stirb mir nicht ab, ehe du todt bist.
Den
20. Dezember.
Denke dir, wie mich
das Unglück verfolgt, ich glaubte diesen Brief schon längst
in deinen Händen, und nun find ich ihn kouvertirt und versiegelt
auf dem Tisch, und habe vergessen ihn abzuschicken. Ich kann
nicht begreifen, wie ich es vergessen konnte und glauben,
ich hätte ihn schon abgeschickt.
- Dein Erhard.
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