Maria
v. Üchtritz, Erinnerungen an Friedrich v. Üchtritz und seine
Zeit in Briefen von ihm und an ihn (Leipzig: Hirzel 1884), 339-342
Friedrich v. Üchtritz an Rudolf Köpke, Görlitz, 27. 12. 1865
Görlitz, den
27. December 1865.
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Sie haben, mein
hochverehrter Freund, in Ihrem Briefe vom 5. Oktober eine ebenso beredte als herbe
Philippika gegen unsre Zeit gerichtet, welcher gegenüber ich mich, so sehr ich in höchst
wesentlichen Beziehungen damit übereinstimmen muß, schon im Gefühle des Unvermögens,
hier etwas hinzusetzen oder gar überbieten zu können, einigermaßen in die Rolle des
Vertheidigers einzutreten gedrängt fühle. Gewiß, die Richtung, die unsre Zeit auf das
Reale, Materielle, Faktisch-praktische, besonders auf den abstracten Materialismus des
Geldes, der Staats- und Werthpapiere, hinweg von dem Idealen und Geistigen und von einer
poetischen Verklärung des Lebens genommen hat, muß Einem, dessen Erinnerungen, wie die
meinigen, noch in Tage eines wärmeren Cultus des Schönen zurückreichen, oder der, wie
Sie, noch im trautesten Lebensverkehre mit Repräsentanten und Reliquien dieser früheren
Tage gestanden hat, schwer genug fallen. Ich kann mit Ihnen nur darin übereinstimmen,
daß unsre Zeit durch dieses Streben und die damit zusammenwirkenden nivellirenden
Tendenzen vielfach verarmt und abgeblaßt ist, sich vereinförmigt und vermittelmäßigt
hat, ja sich trotz ihres das Verständniß des Höchsten und Heiligsten gefährdenden
naturalistischen Hanges in der freien, frischen, originalen Entfaltung auch des natürlichen
Lebens im höheren Sinne verkümmert sieht. Nur dürfen wir anderseits nicht verkennen,
daß auch Manches und sehr Wichtiges besser geworden ist, daß das überwiegende
Interesse, das die realen Verhältnisse des Staatslebens in unseren Tagen erlangt haben,
die Entwickelung des politischen Sinnes und politischen Talentes ihre große und
erfreuliche Seite im Vergleiche zu dem politischen Klatsch und den Kannegießereien einer
früheren Zeit haben; so sehr wir es für unser eigenes Bedürfniß mit gutem Fuge
bedauern mögen, daß sich (ähnlich wie in England wo, wie Heine eben so witzig als wahr
bemerkt, mit Karl dem Ersten der Poesie der Kopf abgeschlagen worden) <340:> der
Sinn für das Schöne und für das reine, sich in sich selbst befriedigende Wissen dadurch
beeinträchtigt findet. All dieser Beeinträchtigungen, Verkümmerungen und zweideutigen
Tendenzen ungeachtet hat vornehmlich unser Volk nach dem noch in jüngster Zeit Erlebten,
ein Volk dessen Söhne aus allen Ständen und Lebensschichten zum Bestehen solcher
Beschwernisse wie der des letzten Krieges in Schleswig-Holstein und zur Vollbringung
solcher Thaten wie der Erstürmung von Düppel und Alsen geeilt sind, sich gewiß noch
nicht als ein entartetes anzusehen oder hoffnungslos verloren zu geben.
Wenn ich mich hier in eine
Art von Controverse mit dem beredten Ergusse einzulassen wage, den Sie in Ihrem letztem
Briefe auf das Papier geströmt haben, so fühle ich mich nur um so mehr gedrungen, nach
einer anderen Stelle Ihres geistigen Wirkens hin meine unbedingte Uebereinstimmung und
Befriedigung auszusprechen. Doch befinde ich mich in der eigenen Lage, auch da, wo ich
bloß beizustimmen und anzuerkennen komme, mit einer Bitte um Nachsicht beginnen zu
müssen. Was werden Sie von mir denken und urtheilen, mein verehrter Freund, wenn ich
Ihnen ein Bekenntniß ablege, das mich eben so nachlässig als Literaturfreund wie
undankbar gegen Ihre Güte erscheinen läßt, das Bekenntniß, daß ich erst vor Kurzem
dazu gekommen bin, die von Ihnen herausgegebenen politischen Schriften Heinrich von
Kleists in dem Exemplare, welches ich Ihrer Güte verdanke, genauer in
Einsicht zu nehmen. Das Büchlein war mir schon in Düsseldorf vor Augen gekommen; ich
hatte Ihre Widmung an Raumer, wie ich auch später gegen Sie aussprach, mit theilnehmender
Befriedigung gelesen, war aber beim Blättern hinten durch Zufall auf einen Aufsatz (ich
glaube den Brief des märkischen Landfräuleins) gestoßen, der mir wenig bedeutend
schien; Zeit und Stimmung zu weiterer Kenntnißnahme hatten gefehlt und auch nachdem das
Buch in meinen Besitz gekommen war, sollte es lange, unter dem Andringen anderer
Interessen und Arbeiten, wie halb vergessen unter meinen Büchern bleiben, bis mich
kürzlich eine glückliche Regung dazu veranlaßte, es theils <341:> Abends mit
meiner Frau, theils allein vom Anfange bis zum Schlusse zu lesen. Ich würde mich scheuen,
eine so schuldbare Versäumniß mit so naiver Offenheit vor Ihnen auszusprechen, wenn ich
nicht hoffte, daß die Strafe, oder vielmehr die unverdiente Belohnung, die mir zu Theile
geworden, Sie zur Nachsicht stimmen werde. Ich habe mich nämlich selten von einer
Lectüre in solchem Grade in Anspruch genommen, ergriffen und bewältigt wie von dieser
gefunden. Zunächst war es, nachdem ich Ihre einleitenden kritischen Erörterungen mit
Interesse und hoher Anerkennung Ihres gründlich eindringenden Studiums des
Kleistschen Styls gelesen, Ihre ergreifende Schilderung der in Kleist durcheinander
gährenden, sich gegenseitig aufreibenden und zur Zerstörung Ihres Besitzers hinwirkenden
Mächte, der innern Spaltungen, des wechselnden erfolglosen Ringens nach Befriedigung, der
Tantalusqualen des so reich und doch so unheilsvoll ausgestatteten Mannes, was mich tiefer
und tiefer anzog und fesselte. Und darauf der Eindruck der Aufsätze selber, bei denen es
nach der Wirkung, die sie auf mich gehabt, kaum eines andern Zeugnisses, als des aus dem
Style und dem innern Charakter zu entnehmenden bedarf, um sie über allen Zweifel hinaus
für von Kleist herrührend zu halten. Eben so wenig scheint mir ihr hoher Werth an sich
dem geringsten Zweifel unterliegen zu können. Vor allem gehören die politischen
Aufsätze zu dem Markigsten, was wohl die Literatur irgend eines Volkes an
nachdrücklichen Zeugnissen eines schroffen heroischen Todesmuthes im gerechten Hasse
eines des Hasses würdigen Joches und in unbedingter Hingebung an das Vaterland zu dessen
Rettung aus Noth und Knechtschaft aufweisen kann. Unter den sonst mitgetheilten
Nachträgen ist allerdings manches unerfreulich, mißtönig und grell; aber auch hier
fehlt es nicht an Vortrefflichem und Bedeutendem, und auch die Grellheit trägt den
unverkennbaren Stempel des Kleistschen Geistes.
In Beziehung auf den Aufsatz
Aufruf, Seite 96, möchte ich mir eine Frage und Bitte erlauben. Findet sich etwa in der Ausgabe der Schriften Kleists von Julian
Schmidt oder in <342:> dem Briefwechsel mit seiner Schwester oder irgendwo sonst
etwas davon erwähnt, daß Kleist damit umgegangen sei, die Zerstörung Jerusalems durch
Titus als Tragödie zu behandeln? Mir selbst ist nämlich hierüber etwas durch einen mit
Kleist persönlich Bekannten, mit welchem der Dichter darüber gesprochen, in mündlicher
Mittheilung zugekommen, und ich habe vor, mich darüber in der Vorrede zu meinem jüngst
vollendeten Buche zu äußern. Ich würde es daher mit großem Danke aufnehmen, wenn Sie
mich bei Gelegenheit benachrichtigen wollten, ob schon etwas über jenen Tragödienplan
Kleists zur öffentlichen Kunde gelangt ist.
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