Ludwig Tieck (Hrsg.), Heinrich von Kleists gesammelte Schriften, 3 Bde.
(Berlin: Reimer 1826), Bd. 1, Vorrede, VI
Kleists Studium der Kantischen Philosophie
Es ist natürlich, daß die meisten Autodidakten dasjenige, was sie auf ihre
eigenthümliche, zufällige und heftige Weise erlernen, viel zu hoch anschlagen; es ist
eben so begreiflich, daß sie in andern Stunden, wenn ihnen Wissen und Lernen nicht diese
ruhige Genügsamkeit giebt, die unsre Seele gelinde erweitert, und unvermerkt bereichert,
dann alles Wissen, Denken und Lernen, alle Kenntnisse und Gelehrsamkeit tief verachten,
und einen geträumten und unmöglichen Naturstand höher stellen, als alle Cultur, ja für
ihn den wahrsten und glücklichsten halten. In dieser unglücklichen Stimmung befand sich
damals unser Freund, und er wurde nicht ruhiger, sondern nur noch aufgeregter, als er die
Kantische Philosophie kennen lernte, der er sich einige Zeit mit dem größten Eifer
ergab.
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