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Eduard v. Tempeltey, Eine Lücke in Heinrich v. Kleists Trauerspiel „Die Familie Schroffenstein“, in: Sonntagsbeilage Nr. 44 zur Vossischen Zeitung, 29. 10. 1911, Nr. 541, 345f.

Eine Lücke in Heinrich v. Kleists Trauerspiel „Die Familie Schroffenstein“.

Vom Wirkl. Geh. Rat Dr. Eduard v. Tempeltey.

Lange Jahre hindurch, so oft ich wieder in Heinrich v. Kleists Trauerspiel „Die Familie Schroffenstein“ hineinblickte, berührte mich der Inhalt wie etwas längst vordem Gekanntes, ohne daß ich ahnte, woher. Da durchfuhr mich einmal eine Erinnerung: meine Mutter, die 1806 in Frankfurt a. O. geboren, dort vom Superintendenten Dr. Spieker eingesegnet worden und mit dessen Töchtern befreundet war, besaß mehrere damals weitverbreitete Jugendschriften Spiekers, die ich als Knabe eifrig verschlang. Nun dämmerte mir auf, daß in einem dieser Bücher, „Die glücklichen Kinder“ betitelt, das frohe und ernste Familienleben im ländlichen Pfarrhause, der bunte Wechsel von häuslicher Tätigkeit, belehrender Unterhaltung und vergnügten Ausflügen geschildert, zwischendrein auch am Feierabend Geschichten erzählt wurden; und plötzlich wußte ich’s: eine der Geschichten behandelte das schwäbische Grafenhaus Schroffenstein.
Freilich dehnt sich zwischen dem Inhalt des Kleistschen Trauerspiels und einer Erzählung „für gute Söhne und Töchter“ eine anscheinend unüberbrückbare Kluft aus. Vorerst also galt es, des Spiekerschen Buches wieder habhaft zu werden. Das erwies sich als schwierig. Im Buchhandel war es vergriffen, auch der Verlag (Hofbuchdruckerei von Trowitzsch u. Sohn in Frankfurt a. O.) besaß kein Exemplar mehr; vergebens wurde in Frankfurter Bibliotheken danach gesucht, und ebenso ergebnislos fragte ich bei den Enkelinnen des 1858 in hohem Alter verstorbenen Verfassers an; endlich erwirkte mir die liebenswürdige Vermittlung des jetzigen Besitzers der Hofbuchdruckerei, des Herrn Joachim Trowitzsch, von dem einzigen Enkel Spiekers, Herrn Maler Spieker in Berlin, die gütige leihweise Überlassung des vermutlich überhaupt noch einzigen Exemplars. Es war die (1857 erschienene) dritte Auflage des Buches, und der Vorrede dazu war die Vorrede zur (1818 erschienenen) zweiten Auflage vorgedruckt; aus dem Inhalt beider Vorreden ergab sich, daß „die glücklichen Kinder“ zuerst etwa um 1807 erschienen sind. Zwar beginnt die Vorrede zur dritten Auflage: „Ein halbes Jahrhundert liegt zwischen der zweiten Auflage und der jetzigen;“ aber das paßt nicht, auch nicht annähernd. Gewiß hat der alte Herr sich verschrieben, statt der zweiten die erste Auflage gemeint, und dieser Schreibfehler ist dann Druckfehler geworden. Ein halbes Jahrhundert vor 1857 wäre etwa 1807, und wirklich muß das Buch, nach einer Rezension in den „Pädagogischen Verhandlungs-Blättern“, die Spiekers Enkel vorgelegen hat, aus dem Jahre 1808 stammen. Dazu stimmt nun völlig die Schilderung der Entstehungszeit in der Vorrede zur zweiten Auflage: ausdrücklich heißt es da, daß in der schrecklichen Zeit des allgemeinen Elends, unter welchem das Vaterland seufzte, die erste Auflage geschrieben worden und erschienen ist; ferner: „Die glücklichen Kinder“ waren noch nicht zu ihrer Bestimmung des Lebens geführt, als ich zu einem Amte berufen wurde, das meine ganze Tätigkeit in Anspruch nahm“ (nämlich 1809 zum Professor an der Universität Frankfurt sowie zum Diakonus und Schulinspektor, später zum Superintendenten); und endlich wird bemerkt, daß jetzt erst, in der zweiten Auflage, der Verfasser einige Hauptmomente aus den großen Ereignissen der Befreiungskriege hineingeflochten habe. Diese Konstatierung ist für das folgende nicht unwesentlich.
Was nun die im Spiekerschen Buche erzählte Geschichte betrifft, so ist darin der Inhalt von Kleists Trauerspiel „Die Familie Schroffenstein“ durch radikale und doch geschickte Umgestaltung zu einer erzieherischen Jugenderzählung gemacht worden. Das Gräßliche hat der Bearbeiter gemildert und vereinfacht. Geblieben ist als Grundlage des furchtbaren Familienzwiespalts der Erbvertrag, ebenso als äußerer Anlaß der Tod des einen Kindes und als Auflösung davon der Aberglaube in der Bauernküche. Rupert auf Rossitz und Sylvester auf Warwand werden ziemlich wie im Stück charakterisiert, die beiden Gräfinnen tauchen nur wie Schatten auf, ebenso Agnes; Ottokar, der ritterlich empfindende Jüngling, fällt im Kampfe. Das Unglück versöhnt die Gegner, die in brüderlicher Eintracht ihre Tage beschließen, während Jeronimus die Güter erbt, Agnes’ Hand erhält und auf Wyk das Geschlecht der Grafen Schroffenstein fortpflanzt. Die moralische Schlußbetrachtung aber lautet: „Darum, meine lieben Kinder, traget keinen heimlichen Groll im Herzen, sondern wenn Ihr etwas gegen jemanden habt, so sagt es ihm offen und frei. Wenn wir den Argwohn in uns verschließen und ihn Wurzel fassen lassen, dann legen wir in die unschuldigsten Worte und Handlungen des Andern böse Deutungen, und es entspinnt sich daraus die bitterste Feindschaft. Also offen und frei sei eure Art zu handeln, so dürft Ihr niemanden fürchten, könnt jedem wohlgemut unter die Augen treten und erspart euch die Schmerzen später Reue.“
Soweit könnte man allenfalls noch, wenn nicht feststände, daß Kleists Stück von ihm frei erfunden ist, an eine irgendwo verborgene gemeinsame Quelle denken. Aber die Erzählung enthält außerdem zahlreiche, fast wörtliche Benutzungen des Kleistschen Textes. Zu den nachfolgenden Beispielen ist überall in Klammer die bezügliche Versziffer des Trauerspiels (nach Erich Schmidts Ausgabe) angeführt: „Das schwarze Mißtrauen, das alles, auch das Schuldlose und Reine, in das gehässige Licht der Bosheit stellte. Das Nichtsbedeutende und Unschuldige wurde durch spitzfindiges Drehen und Deuten zu einer bösen Absicht umgewandelt.“ (V. 515-521.) „Mich schickt mein Herr, Graf Rupert von Schroffenstein, Dir wegen des an seinem Sohn verübten Meuchelmordes den Frieden aufzukündigen. Er ist gesonnen, Dich mit Schwert und Feuer zu verfolgen, Deine Burg zu verwüsten und an deren Stelle ein Hochgericht zu bauen. Es dürstet ihn nach Deinem und Deines Kindes Blute.“ (V. 582-584, 591-594.) „Dennoch will ich es versuchen. Der Mensch wagt wohl bisweilen einen abscheulichen Gedanken, aber vor der Tat entsetzt er sich.“ (V. 1220 bis 1222.) „Es ist ein Unglück für die Mächtigen der Erde, daß sich ihren Wünschen gleich ein Arm darbietet … Nicht den hundertsten Teil des Bösen würden sie verüben, müßten sie es mit eigener Hand verrichten. (V. 1824-1829.) „Denn der kleine Finger der linken Hand tut nach dem Tode weit mehr Gutes, als eines Erwachsenen Hand im ganzen Leben. Nachdem wir den Finger abgelöst hatten, kamen zwei Männer aus Warwand. Die wollten sich den kleinen Finger der rechten Hand ablösen, aber der rechte Finger hilft nicht. Wir machten uns davon, und was weiter geschehen ist, wissen wir nicht.“ (V. 2192-2194, 2198-2202.) Und dergleichen mehr. Daß Kleists Stück demnach der Erzählung in Spiekers Buch zugrunde gelegen hat, ist zweifellos.
„Die Familie Schroffenstein“ ist 1803 in der Schweiz im Druck erschienen. Geradezu unmöglich wäre also nicht, daß schon vor dem ersten Erscheinen der „glücklichen Kinder“ Spieker das Stück kennen gelernt hätte; aber wahrscheinlich ist es nicht. Denn es war nur in wenigen Zeitschriften besprochen worden, im ganzen unbeachtet geblieben, und Kleist selber, von anderen Entwürfen erfüllt, schwieg sein Erstlingswerk tot; es lag hinter ihm, und er hatte damit abgeschlossen. Noch 1821, in der „Zeitung für die elegante Welt“, klagt Fouqué, daß seines Freundes „ebenso ungestümes als zärtliches Trauerspiel leider wenig bekannt geworden“. Immerhin wäre ja interessant, wenn eine derartige Popularisierung, wie die Benutzung des Dramenstoffes zu einer Jugenderzählung, schon bald nach dem Auftauchen der Dichtung stattgefunden hätte. Aber um jene Zeit sah es in Deutschland trübselig aus, und Spieker, damals zuerst Kandidat und Hauslehrer, dann Feldprediger, wird für die Einlagen seines Buches neben den sonst von ihm benutzten und längst bekannten Geschichten, z. B. Kunz von Kaufungens sächsischem Prinzenraub, eine so fremd anmutende wie die von den Schroffensteinern wohl kaum neu gestaltet und eingefügt haben. Ich vermute vielmehr, daß er diese Bearbeitung erst der zweiten (ja auch in anderer Hinsicht vermehrten) Auflage von 1818 zugute <346:> kommen ließ. Denn für Spieker lag ein ganz besonderer Grund vor, daß gerade er des vergessenen Stücks und des vergessenen Dichters warm teilnehmend gedachte.
1809 war, wie wir sahen, Spieker nach Frankfurt a. O. gekommen, und als er dort Superintendent geworden, hatte er das Oberpfarrgebäude von St. Marien (der „Oberkirche“ von Frankfurt) bezogen; unmittelbar neben diesem Hause stand das schlichte Wohnhaus der Familie von Kleist, der Pfarrgarten grenzte dicht an den Kleistschen Garten, Zweige und Sträucher rankten sich hinüber und herüber. Und wenn auch Heinrich seit 1800 nur vorübergehend in Frankfurt weilte, so blieb doch das Haus bis zum späten Tode seiner Lieblingsschwester Ulrike Kleistscher Besitz. Was war nun natürlicher, als daß zwischen den Bewohnern der beiden Nachbarhäuser ein freundlicher Familienverkehr stattgefunden? das Gegenteil wäre unnatürlich gewesen. In gewissem Sinne spricht schon dafür, daß in dem vom Superintendenten Spieker Anfang 1811 gegründeten „Patriotischen Wochenblatt“, aus welchem die jetzt noch blühende „Frankfurter Oder-Zeitung“ hervorging, das unselige Ende des Dichters, des größten Sohnes seiner Vaterstadt, aus Rücksicht auf dessen Familie verschwiegen wurde. Aber auch an einem direkten Zeugnis fehlt es nicht, und ich verdanke es Herrn Paul Hoffmann in Frankfurt, der vielfach als Kleistforscher sich bewährt hat: es ist ein Brief Spiekers vom 22. Februar 1820, worin er seinem Amtsbruder Pastor Rogge schreibt: „Wir haben diesen Winter statt des gewöhnlichen Kränzchens einen sogenannten Singethee eingerichtet,“ und dann bei der Aufzählung der Teilnehmer an erster Stelle Fräulein v. Kleist anführt. Da die anderen Schwestern Heinrichs längst verheiratet und weggezogen waren, konnte hier nur Ulrike, die sehr musikalisch war, gemeint sein. Also auch beglaubigt ist der Verkehr, wenn es dessen überhaupt noch bedurft hätte.
Fragt man nun aber, welchem Zweck dies minutiöse Nachspüren anscheinend wenig belangreicher Dinge dient, so komme ich zu dem Punkte, um dessentwillen ich mich hierein vertieft habe. Immer nämlich ist mir aufgefallen, daß ein Dichter wie Kleist, der so peinlich motiviert und bei dem jede andeutende Stelle für die nachfolgende Entwicklung Bedeutung hat, über ein wichtiges Moment, das im ersten Akt der „Familie Schroffenstein“ sehr ausführlich herangezogen wird und noch im zweiten mehrmals auftaucht, uns völlig im Unklaren läßt. Ich meine den Tod des Kindes aus dem Hause Warwand, den seiner Mutter Argwohn auf Vergiftung durch die Rossitzer zurückführt. Von diesem kleinen Philipp handeln in der 2. Szene des ersten Aufzugs Vers 385-417, 438-484, 503-548 und 633-636 und in der 3. Szene des zweiten Aufzugs Vers 1142-1149 und 1171-1177; insgesamt also etwa 140 Verse. In all diesen wird immer wieder die Frage ventiliert, ob das Kind dem Haß des anderen Grafenhauses zum Opfer gefallen und eines unnatürlichen Todes gestorben sei. Bis endlich der dem Verdacht beständig wehrende Graf Sylvester, wiewohl selbst noch gereizt durch den anscheinenden Mordanfall Johanns auf Agnes, seiner Gattin Gertrude gebietet:
Nun genug.
Ich will mit Ernst, daß Du von Philipp schweigst.
Er sei vergiftet oder nicht, er soll
Gestorben sein und weiter nichts. Ich will’s.
In den anfangs genannten Versen 385-417, beim ersten Auftreten der Agnes mit ihrem Großvater Sylvius, wird, als beide vom toten Philipp sprechen, in Verbindung mit diesem auch noch ein Pater mehrfach erwähnt. Es heißt da u. a.:
Sylvius. Warum denn, meint der Pater,
Sollst Du nicht weinen?
Agnes. Ihm sei wohl, sagt er.
Sylvius. Glaubst Du’s?
Agnes. Der Pater freilich soll’s versteh’n,
Doch glaub’ ich fast, er sagt’s nicht, wie er’s denkt.
Nach dem 32. Verse verschwindet dann der Pater, ebenso wie nach dem 140. Verse Philipp; im ganzen übrigen Stück ist weder vom einen noch vom anderen die Rede.
Nun ist es sehr seltsam, daß die von Kleist uns vorenthaltene Lösung gerade in Spiekers Jugenderzählung uns geboten wird: am Schluß bekennt nämlich der Schloßpater, daß er dem Kinde aus Irrtum statt Arznei Gift gegeben habe. Bei aller Achtung vor der jugendschriftstellerischen Begabung Spiekers glaube ich doch nicht, daß er so fein die Lücke des Trauerspiels empfunden und durch ihre Ausfüllung selbstherrlich den Dichter ergänzt habe. Wohl aber glaube ich, daß, gleichwie mir, auch anderen das so breit ausgesponnene Rätsel von Philipp und dem Pater aufgefallen sein mag. Und da denke ich mir: Ulrike könnte sehr wohl dem Bruder einmal die Frage vorgelegt und von ihm seine ursprüngliche Intention erfahren haben. Die gelegentliche spätere Mitteilung an Spieker erklärt sich dann leicht.
Ganz klar erscheint, weshalb der Dichter diese ursprüngliche Intention mußte fallen lassen. Sein dramatisches Empfinden hat, je weiter er schrieb und je reicher er, dem knappen ersten Szenar gegenüber, die Fabel ausgestaltete, sicher zeitig erkannt, daß, neben der Aufhellung vom Tode des einen Kindes (des Söhnchens von Rupert), noch die vom Tode des anderen das Stück allzusehr befrachtet haben würde. So ließ er’s denn beim Vorhandenen bewenden, ließ es stehen, weil immerhin Frau Gertrudes und der Warwandleute Verdacht die Atmosphäre von Mißtrauen auch über dieser Seite des Gebirges verdichtete; und dem in die Versenkung niedergetauchten Pater gönnte er wenigstens Agnesens klassische Charakterisierung:

Der Pater freilich soll’s versteh’n,
Doch glaub’ ich fast, er sagt’s nicht, wie er’s denkt.
Eine Charakterisierung übrigens, die merkwürdig zur Lösung im Spiekerschen Buche stimmt!

Vielleicht werden manche urteilen, wegen eines unaufgeklärten Punktes in Kleists Erstlingswerk hätte sich solch Suchen und Kombinieren kaum verlohnt. Aber ich meine: An Heinrich v. Kleist ist zeit seines Lebens und noch lange Jahrzehnte nach seinem erschütternden Ende durch Verkennen und Vergessen so schwer gesündigt worden, daß selbst ein bißchen Zuviel von liebevoll nachspürendem Verstehenwollen ihm jetzt wohl gegönnt werden mag.

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Letzte Aktualisierung 23-Jan-2003
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