Reinhold Steig, Neue Kunde zu Heinrich von Kleist (Berlin: Reimer 1902), 14f.
Vossische Zeitung, Dezember 1811, ungedruckter Entwurf
Pflichtwort über die öffentlichen Anzeigen der neulichen
Selbstentleibung.
Was kann romanhafter seyn, als der Roman der Wirklichkeit, wie er jetzt gespielt wird, und
wie menschliche Verirrung ihn ausgebiert.
So lange gesunder Sinn und
christliche Sitte auf Europäischen Boden war, ist es wohl noch nicht gehört worden, daß
dem Selbstmorde so laut und öffentlich das Wort geredet wurde, als in jenen Anzeigen
einer doppelten Selbstentleibung, in welcher, seltsam genug! Mord und Selbstmord zusammen
kommen. Bedauert hat wohl jederzeit der Mensch und Christ solche unglücklich Verirrte,
die nicht Lebensfassung genug hatten, dem melancholischen Todestriebe zu widerstehn und
darum die verzweifelte Hand gegen sich selbst führten; aber öffentlich gerechtfertigt
und dem gesammten großen Publikum des In und Auslandes, wohin diese Blätter reichen, zur
feierlichen Scheu ja! gleichsam zum Muster gestellt, hat sie so weit Kunde reicht, noch
Niemand. Sie sind unter Blumen und Lobgeräusch gefallen und Blumen und Lobgeräusch
warten ihrer noch in der öden Stille des einsamen Sandes, wohin sie irrend ihre Gebeine
streckten. Wenn daher die arme Verblichene schwärmerisch in ihrem Scheide-Briefe sagt: ich
sterbe einen Tod, wie sich Wenige erfreuen können, gestorben zu sein, so kann sich
das nur auf das einzigseltene Grabgetön beziehn, welches ihr bis über <15:> die
fernesten Grenzen, vermittelst eines öffentlichen weitgelesenen Blattes nachhallt; denn
der Roman selbst ist, da er, wie alles zeigt, aus der gewöhnlichen Romanwelt gegriffen
wurde, trotz aller zu erwartenden Verlieblichung hundertmal, wenn auch in andern
Gestalten, da gewesen, und kann morgen wiederkommen, wenn solcher Leichen und
Lobgesänge unglücklicher Selbstentleibung mehrere kommen, und in
versprochenen Werken recht poetisch ausgeführt werden sollten. Man
verschone daher mit diesem ausgemalten Bilde verirrter Phantasie die ohnedem genug geirrte
Welt Man lasse solche Unglückliche ruhen, und verfolge nicht Blumenstreuend ihren
Unglückspfad. Man decke nicht auf, was man decken (sic!) soll. Man kümmere
sich, wenn man ihnen zugehört, über ihren Fehlschritt in der Stille, oder tröste sich
darüber so gut man kann, und sey zufrieden mit der Stimmung des Zeitalters, die den
unglücklichen Sand dieser Armen nicht aufwirft, um ihrer Gebeine oder ihrer Familien zu
spotten, indem jedermann sich vor den Gefühlen seiner eignen Brust genug zu fürchten
hat. Man übergebe sie der öden Stille, die sie suchten, und ihren bleibenden Theil der
Hand dessen, dessen Ruf sie abzuwarten nicht stark genug waren. Man rechtfertige
endlich den gerechten Trieb des Verfassers von Gegenwärtigem, der das Wort dieser kurzen
und treugemeinten Wahrheitsrüge, dem nahen und fernen Publikum, das jene Aufsätze las,
ja der Gesetzlichkeit des Landes, in dem er lebt, schuldig zu seyn glaubt. W.
H (1902): Geh. Staatsarchiv Berlin (Acta
betreffend die Censur-Angelegenheiten. II Vol. fol. 127) – lt. Steig (S. 16)
steht auf der ersten Seite des Originals unten: Vossische Zeitung. Am
Kopf des Aufsatzes, von Gruners Hand: ad acta | da die Betrachtung
zu spät ist. | Gruner.
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