Reinhold Steig, Clemens Brentano und die Brüder Grimm (Stuttgart, Berlin: Cotta
1914), 164-171
Jacob Grimm, Aufforderung an die gesamten Freunde deutscher Poesie und Geschichte
erlassen, Kassel, 22. 1. 1811
Die Erkenntniß, welche sich endlich wie ein langverhaltener Regen auf den Garten
altdeutscher Poesie ergossen, hat nicht blos an dieser ihre Wirkung eingeschränkt,
sondern, wir wagen es zu sagen, einen frischenden Geruch über das ganze Feld unserer
Geschichte und Literatur verbreitet. Still und rein steht das Wesen unserer Vorfahren
hinter uns, in Unscheinbarkeit der Aeußerung, in Unwandelbarkeit eines innerlichen,
warmen Reichthums; seit wir es so recht empfunden haben, ist uns gleichsam ein Aug mehr
für die treue Natur deutscher Begebenheit aufgegangen, und dadurch, daß wir sie sehr
lieben gelernt, lieben wir uns desto unverbrüchlicher auch einander. Mit dieser Gesinnung
ist es jetzo, wenn jemals, thunlich geworden, eine Geschichte unserer Poesie zu bereiten,
dergleichen keine noch geschrieben worden ist, entweder weil es an durchdringender Achtung
fehlte zu des eigenen Volks Alterthum, oder weil schon die Gegenwart alles Band der
Vorwelt abgerissen hatte, das abgerissene nicht wiederum anknüpfen konnte. Wir aber
stehen noch in der Mitte, die freilich schlechter als der Anfang, hoffentlich <165:>
schlechter als die Zukunft, in keinem Fall jedoch unglückselig zu nennen ist, da sie so
trostreich; noch reicht uns die vergangene Zeit die Arme herüber, noch mögen wir sie
fassen und im Druck der Hand die leisen und leiseren Schläge altes Blutes fühlen.
Später könnte es immer zu spät geworden sein und die Critik am Vorrath zerstreuter
Materialien zwar Uebung, allein nicht die Nahrung finden, woraus das historische Bild der
Vergangenheit erzeugt und geboren werden muß. Auf hohen Bergen, in geschlossenen Thälern
lebt noch am reinsten ein unveralteter Sinn, in den engen Dörfern, dahin
wenig Wege
führen und keine Straßen, wo keine falsche Aufklärung eingegangen oder ihr Werk
ausgerichtet hat, da ruht noch an vaterländischer Gewohnheit, Sage und Gläubigkeit ein
Schatz im Verborgenen. Wir Unterzeichnete haben seine Wahrheit vielfach erfahren, aber
auch wie schwer es, ihn zu heben, nunmehr geworden; es gehört dazu nicht nur unschuldige
Einfalt, um ihn selbst zu fassen, sondern auch wieder Bildung, um jene Einfalt zu fassen,
die ihrer ganz unbewußt ist, vor allem gehört dazu strenge Treue und dagegen milde
Freundlichkeit, welche sich an ihrem Geschäft selber nicht nur wollen freuen, aber auch
ehren.
Erfüllt von solchen Gedanken
und währenddem die Herrlichkeit alter Gesänge wieder aufsteigt, durch Druck und
fleißige Bearbeitung gesichert wird, auch auf der andern Seite zu retten suchend, was zu
retten ist; ermuthigt durch den schönen Fortgang, welchen das Sammeln der Volkslieder
bereits gehabt hat, halten wir nicht länger zurück, unsern Plan allen Freunden der
Literatur ans Herz und hiermit vorzulegen. Er kann kein anderer als folgender sein:
<166:>
1) wir gehen aus, alle
mündliche Sage des gesammten deutschen Vaterlandes zu sammeln, und wünschen nur in dem
nachstehenden die Allgemeinheit und Ausgedehntheit des Sinns, worin wir die Sache nehmen,
nicht verfehlt zu haben. Wir sammeln also alle und jede Traditionen und Sagen des gemeinen
Mannes, mögen sie traurigen oder lustigen, lehrenden oder fröhlichen Inhalt haben, auch
aus welcher Zeit sie seien, mögen sie in schlichtester Prosa herumgehen, oder in bindende
Reime gefaßt sein (ja es scheint uns die erstere in so fern wichtiger, als sie
reichhaltiger verspricht), mögen sie mit unserer Büchergeschichte übereinstimmen, oder
ihr (was der häufige Fall sein wird) stracks zuwiderlaufen und gar in einem andern Sinn
sich als ungereinigt darstellen. Gegen das vornehme Absprechen über die Sage brauchen wir
blos die Beispiele edler, wahrer Geschichtsschreibung von Herodot an bis auf Johannes
Müller zu setzen. Ist nicht die Volkspoesie der Lebenssaft, der sich aus allen Thaten
herausgezogen und für sich bestanden hat? und es so thun müßte, weil anders keine
Geschichte zum Volk gelangen und keine andere von ihm gebraucht werden könnte? Und diese
Volksgeschichte ist wahrhaftig Bienenlauterkeit, keine Spinne hat dazu gesogen und keine
Wespe papieren daran gearbeitet; ihr Geist aber von jeher ist allzu flüssig, rührig und
bewegig gewesen, als daß er sich von Namen oder Zeiten hätte binden lassen, darum ist er
doch unerlogen geblieben, ja äußerlich fast niemal gefälscht worden, obwohl er sich
unaufhörlich von innerhalb neu gestaltet und wiedergeboren hat. Wenn wir also hiermit
ganz besonders die Märchen der Ammen und Kinder, die Abendgespräche und
Spinnstubengeschichten gemeint haben, so wissen wir zweierlei recht wohl, daß es
verachtete Namen <167:> und bisher unbeachtete Sachen sind, die noch in jedem
einfach gebliebenen Menschengemüth von Jugend bis zum Tod gehaftet haben. Sodann aber
denken wir uns, daß auch in der abgeschlossenen Kraft der besonderen Stände wie unter
kühlem Baumschatten die Sagenquelle nicht so versiegen können, während was in die
Mitte, in die allgemeine Sonnenhitze geflossen, längst vertrocknen gewußt; gewiß, unter
ehrsamen Handwerken, still wirkenden Bergmännern, den grünen freien Jägern und
Soldaten hat sich manche Eigenthümlichkeit und damit eigenthümliche Rede und Sage, Sitte
und Brauch forterhalten, welche zu versammeln hohe Zeit ist, bevor völlige Auflösung
erfolgt, oder neue Formen jener Traditionen Bedeutung mit sich fortgerissen. Dieses alles
nun wünschen wir höchst getreu, buchstabengetreu aufgezeichnet, mit allem dem
sogenannten Unsinn, welcher leicht zu finden, immer aber noch leichter zu lösen ist, als
die künstlichste Wiederherstellung, die man statt seiner versuchen wollte. Worauf wir
durchaus bestehen zu müssen glauben, ist die größte Ausführlichkeit und
Umständlichkeit der Erzählung, ohne alles Einziehen eines noch so kleinen gehörten
Umstandes, ob wir uns gleich da, wo jene Genauigkeit der Tradition ausgeht, lieber noch
mit dem bloßen Verlauf der Begebenheit begnügen,
als auch seiner entbehren. Sowohl in Rücksicht der Treue, als der trefflichen Auffassung
wüßten wir kein besseres Beispiel zu nennen, als die von dem seligen Runge in der
Einsiedlerzeitung gelieferte Erzählung vom Wacholderbaum, plattdeutsch, welche wir
unbedingt zum Muster aufstellen und woran man sehen möge, was in unserm Feld zu erwarten
ist.
2) unser weiteres Absehen ist
auf Localität der Niederschreibung. Bei der Allgemeinheit, worin wir ganz <168:>
Deutschland umfassen, wird es andererseits möglich für die einzelnen Länder eine
besondere Austheilung des Plans zu machen und zu vollführen; überzeugt, daß an Ort und
Stelle es sei, wo die Pflanze am höchsten gewachsen, und am tiefsten eingeschlagen hat.
Aus diesem Grund nun machen wir zum Gesetz oder Anliegen, daß die Aufzeichnung in
Mundart, Redensweise und Wendung des Erzählenden geschehe, selbst wo solche fehlerhaft
und sich gegen die Regeln versündigend erschienen, welche zum großen Glück unseres
freien Sprachstammes selber noch keinmal festgestanden haben. Wie denn ferner alle Namen
der Länder, Städte, Leute ganz gerade aufzunehmen und etwa untermische Reime und
Sprüche genau beizubehalten sind. Wer die Wichtigkeit unseres Unternehmens einsieht, dem
sind alle deutsche Dialecte werth und heilig, wie denn auch jede Auflösung
(Uebersetzung)
derselben keineswegs als nur gewaltig und mit Schaden vor sich gehen könnte, da wir
außerdem durch unsere Genauheit selbst in diesem Stück der Geschichte unserer Sprache
förderlich zu werden hoffen.
3) das schwierigste scheint
und ist auch in der That die Bewerkstelligung des Einsammelns. Ob wir gleich in manchen
deutschen Gegenden Freunde, durch diese anderweite Bekannte zählen, so wünschen wir doch
eigentlich in jeder Provinz einen verständigen Mann für unsere Absicht zu gewinnen,
wodurch wir ein Doppeltes bezwecken. Einmal, was zwar die Hauptsache, daß dieser nunmehr
seinerseits fortgehe und sich an eigene Freunde wendend, diese für sich oder uns zu
gewinnen wisse. Sodann aber, daß sie an ihn als unsern Mittelsmann die gehabte Ausbeute
übersenden, indem wir anders bei dem jetziger Zeit unerträglichen Porto die Kosten nicht
auf- <169:> bringen würden, auf dem vorgeschlagenen Weg hingegen unser Vermittler
das Eingelaufene nach bestimmten Fristen und mit Buchhändlergelegenheit an uns
Herausgeber befördern könnte. Anlangend jenen ersten Zweck, so rechnen wir auf die
Beihilfe rechtschaffener und einsichtiger Pfarrer und Schullehrer, auf die treugehaftete
Erinnerung des Alters, am meisten aber doch auf den einwärts gewandten Sinn deutscher
Frauen, wogegen wir der Männer Feder, welche jene zu führen scheu und ungewohnt, desto
mehr in Anspruch nehmen.
4) so wie unsere Unternehmung
durchaus kein sogenannt unterhaltendes Buch liefern soll, vielmehr ein gänzlich gelehrtes
ernstes Ziel vor Augen hat, das sich nichts destoweniger von jedermanns Ergötzlichkeit
nicht entfernen wird, so haben wir auch dabei auf irgend andern Vortheil nicht die
mindeste Hinsicht. Wir wollen Materialien zusammentragen zu einer Geschichte deutscher
Poesie, wie diese Poesie eine solche Geschichte verdient, die Ausarbeitung bleibt hernach
andern Werken, überdem ist ohne eine gewisse erst zukünftige Vollständigkeit daran
nicht zu denken. Was wir bei der Herausgabe zu thun haben, ist leicht zu sagen. Alles
Eingehende lassen wir, wofern es den Stempel der Aechtheit an sich trägt, abdrucken, und
das wörtlich, wofern es mit jener Ausführlichkeit der Umstände, worin die Sage leibt
und lebt, gezeichnet ist. Beides zu prüfen, so wie zu unterscheiden, setzt uns ein
mehrjähriges mit Vorliebe und Fleiß getriebenes Studium der Mythen und Sagen, nicht blos
der deutschen, in Stand. Durchaus wollen wir nichts aufnehmen, was schon in Büchern,
selbst seltenen, gedruckt zu lesen ist, es sei denn, daß wir es etwa in neuer Abweichung
besser mittheilen könnten, aus welcher Ursache <170:> auch zwei oder mehr
abweichende Recensionen derselben Sage mit einander gegeben werden müssen. Noten sollen
keine hinzukommen als hinweisende, berichtigende und weiter nachzuforschen auffordernde,
nicht aber erklärende noch untersuchende.
5) die einzelnen Aufsätze
werden so, wie sie einkommen, hinter einander abgedruckt, mit Bemerkung des Orts davon sie
ausgegangen, und wenn es verlangt wird, des Namens des Einsenders, ohne alle Trennung nach
Fächern, die bei der zarten, eingreifenden und alles mischenden Tradition auch am
übelsten angebracht wäre; womit natürlich einer eigentlich critisch historischen
Läuterung so wenig abgesprochen sein soll, als diese recht genommen bei dem gemeinen
Fachwerk ohnehin nirgends bestehen kann. Selbst eine gewisse äußere Eleganz würde da
unpassend verwendet werden, wo ein correcter, geringer Druck ganz am Platz ist. Den
einzelnen Traditionen sollen fortzählende Nummern vorgesetzt und beim Schluß jeder
Abtheilung Wort und Sachregister zugefügt werden; wir könnten im günstigen Fall alle
Oster- und Michaelismessen, oder doch jährlich zur Weinlese einen Band oder Heft unter
dem Titel: Altdeutscher Sammler für einen mäßigen Preis um so mehr ausgehen
lassen, als wir vom Verleger kein Honorar verlangen, sondern nach Abzug der Kosten den
Ueberschuß nach dem Ertrag der Zeilen unter die beitragenden Einsender pflichtmäßig
theilen wollen.
So fordern wir anmit jeden
Liebhaber unseres Plans, welcher dessen dringende Nothwendigkeit eingesehen und für seine
Gegend thätige Mitwirkung zusagt und halten will, auf, uns brieflich oder im
Reichsanzeiger Namen und Wohnort zu erkennen zu geben, und so bald <171:> möglich
Mitarbeiter und Unterstützer zu erwecken, worauf wir dann, sobald sich eine hinlangende
Anzahl derselben gefunden hat, nicht mangeln werden, die Namen der Theilnehmer öffentlich
bekannt zu machen, an welche aus jedem Ort Deutschlands die Sendungen am bequemsten
gerichtet werden. Mögen sie aus den reichen Gebirgen des nördlichen und südlichen nicht
ausbleiben, woher sie aber auch kommen, sollen sie uns erwünscht sein! Vieles Gold auf
Meeresgrund ist vergangen, aber auch so manch theurer Ring Jahrelang hernach im stummen
Leib der Fische wunderbar unversehrt wieder gefunden worden und hat die alten Bande
wunderbar erneuert. Zweige, die nach der Sündflut dürr schienen dazustehen, ergrünten,
auch einer Sage gemäß, sobald Noahs Pfeil sie getroffen hatte, in neues Laub. Wir als
Herausgeber können nur Fleiß und treue Handhabung anbieten, und wünschen, daß es nicht
scheine, als hätten wir aus übergroßem Eifer für altdeutsche Literatur, welche nichts
ist denn Bescheidenheit, irgend ohne Bescheidenheit hier gesprochen, indem wir die
größte hegen.
Schließlich ersuchen wir die
Redactionen des Morgenblatts, der Zeitung für die elegante Welt, des Freimüthigen und
Reichsanzeigers unsern Plan, jedoch vollständig, in ihre weitgelesenen Blätter
einzurücken, zu welchem Ende wir uns die Freiheit genommen, ihnen denselben frei
zuzufertigen; aber auch andere, namentlich alle provincielle Zeitschriften werden sich
durch dessen Wiederholung der guten Sache und aller Gleichgesinnten Dank zuziehen.
Emendation
Verlauf] Verlanf D
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