Reinhold
Steig, Clemens Brentano und die Brüder Grimm (Stuttgart,
Berlin: Cotta 1914), 138-141
Wilhelm Grimm an Clemens Brentano, Kassel, 6. 11. 1810
Lieber Clemens, Sie werden durch die fahrende Post, und durch Pistor, weil ich Ihr
jetziges Logis nicht weiß, ein Paquet mit den Märchen und Briefe darin erhalten haben.
Wir hofften, durch die Leipziger Messe ein Paquet von Ihnen und darin auch die böhmischen
Volksbücher zu erhalten, allein es ist an Thurneißen nichts überliefert worden, und
weil ich denke, es könnte Nachlässigkeit von dem Berliner Buchhändler [sein], wie ja
auch Reimer die Dolores ein halbes Jahr hat liegen lassen, so benachrichtige ich Sie davon
und bitte, Anfrage zu thun, ob es richtig abgegeben worden. Auf den Fall aber, daß Sie
die Bücher noch dort haben, sein Sie so gut, solche uns bald hierherzusenden auf der
fahrenden Post mit der Bemerkung, daß Bücher darin: das Porto ist seit dem
1. November bedeutend verringert worden. Wir denken uns die böhmischen Volksbücher
recht interessant und haben ein großes Verlangen darnach.
Wir hoffen auch Ihre Cantaten
zu erhalten, auf die ich mich freue. Denn daß Sie eine zweite auf die
Eröffnung der Universität [gemacht], habe ich aus dem Abend- <139:> blatt
[13. October] gesehen. Die Zeitung ist recht vernünftig gedacht, und dabei nicht wie
andere Theatermäßig herausgeputzt. Nur die Polizeianzeigen nehmen sich hier oft
lächerlich aus: es ist als ob jemand, der uns raisonabel unterhalten, auf einmal mit
seltsamer Vertraulichkeit seine Taschen herauszög, die Brodkrumen herauswischte und die
Löcher zeigte, die geflickt, und die Flecken, die müßten herausgewaschen werden. Einem
dabei stehenden Schneider wäre das unstreitig das interessanteste an dem ganzen Mann, und
so mag es vielen dort, besonders rechten Hausricken das liebste sein, mithin hat es einen
Grund auch wieder, daß es da ist. Daß in der Beurteilung der Seelandschaft
[13. October] etwas von Ihnen sei, hat ich schon früher gedacht, als ich zu der sich
pulsternden Krähe im Sand kam, welches Bild schwerlich ein anderer in der Welt gehabt
hätte. Wie erklär ich mir Kleists seltsame Erklärung darnach über den Aufsatz
[22. October]? Die Anekdoten von Kleist sind sehr gut erzählt und sehr angenehm, der
Tambour, der sein Herz nicht zum Ziel will geben [20. October], hat aber ins Schwarze
getroffen.
Ich habe über die Dolores
eine Recension geschrieben und sie Arnim geschickt [Arnim und die Brüder Grimm
S. 80. 85]. Sagen Sie mir doch, was Sie davon halten, wenn Sie etwas gelesen.
Sie ist freilich zu lang, als daß ich es Ihnen zumuthen sollte, sie ganz zu lesen, allein
ich konnte mich nicht kürzer fassen, und habe noch eine Menge übergangen, was ich gern
gehabt hätte: mit welchem Gefühl ich sie geschrieben, ist darin ausgedrückt. Ich halte
das Buch für durchaus trefflich im Ganzen, ich lese eben wieder darin und erstaune über
seinen innern Reichthum. Am schwächsten ist es mir da, wo sie nach dem Unglück der
Dolores nach Italien ziehen, alles vor- <140:> hergehende hat man ganz ruhig in
seinem Fortgang betrachten können, da aber flackerts einem vor den Augen, als wenn man
grellgefärbte Blumen ohne rechte Harmonie zusammengestellt ansähe: damit will ich auch
ausdrücken, daß jedes einzelne an sich ausgezeichnet und glänzend ist. Das Ende, mein
ich, müßte näher zusammengerückt sein, die Fürstin ist zu breit darin. Ich sehe aus
Arnims Brief an Jacob, der ein paar Tage, nachdem meine Recension abgeschickt war [Arnim
und die Brüder Grimm S. 80], ankam, daß dieser sehr hart darüber geurtheilt. Ich hatte
nur weniges mit ihm darüber gesprochen, weil wir ganz verschieden gleich anfangs dachten,
und ich nicht gern mit ihm streite. Ich erkläre mir seine Ansicht recht gut, da er selten
die innere Wahrheit, die in jedem poetischen Charakter liegt, ohne daß sie empirisch sich
also gezeigt, anerkennt: er mag nur das Poetische, das auch historisch sich gezeigt, noch
lieber das er erlebt, und dafür hat er einen sehr reinen, tiefen und poetischen Sinn. Es
hängt auch damit seine Lust zusammen, sich einsam zurückzuziehen und das Leben
historisch zu betrachten: es ist ihm noch keine Gesellschaft ganz recht gewesen. So hält
er ja auch die meisten Bücher von Jean Paul, als etwas Ganzes betrachtet, für todt. Er
will die Historie, nicht die Menschen betrachten. Bei dieser Lust an Einsamkeit ist doch
eine sehr herzliche Liebe, ein rechtes Gemüth in ihm, welches ich täglich fühle im
Zusammenleben mit ihm, und warum ich ihn so liebe.
Ich möchte gern mehr
schreiben, aber ich kann nicht, da ich halb krank bin. Im Herbst wird immer stark an mir
geschüttelt, ich denk aber, es geht vorüber. Leben Sie wohl, lieber Clemens. Wilhelm C.
Grimm. [Nachschrift:] Ich muß doch eine straßenpolizeiliche Anekdote von hier
<141:> fürs Abendblatt schreiben [die aber nicht hineinkam]. Hier wird das
Straßenpflaster nach Ruthen accordirt, und nun hat jemand, ders übernommen, also
quittirt: für 1 Thaler 6 Groschen die Ruthe bekommen.
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