Reinhold
Steig (Hrsg.), Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm
(Stuttgart, Berlin: Cotta 1904), 101-104
Wilhelm Grimm an Achim v. Arnim, Kassel, 22. 1. 1811
1001 Dank, lieber Arnim, für Deinen lieben Brief und das Evangelium darin. Eine
fröhlichere Botschaft und eine größere Freude hätte mir nicht kommen können.
Unerwartet kam sie mir nicht in Deinem Schreiben, aber in der Nachricht, die mir Lullu ein
paar Tage früher davon gab, die ihren Glückwunsch schon in einer Sinnbildlichkeit
abgestattet zu haben versichert. Wenn Du mich zur Hochzeit einladen willst, so verspreche
ich mich mit meinen besten Erfindungen anzugreifen, und um ein Beispiel zu geben von dem
was ich leiste, so will ich erscheinen mit rothen Strümpfen, weißem Papier-Leibrock und
einer Stange Siegellack im Mund, welches für einen jungen Gelehrten ausgegeben wird, der
sich zur Correspondenz bereitet, die Verständigen aber merken, daß es einen
Klapperstorch präsentirt nach einem alten Volkswitz. Es freut mich, daß es dort so gut
und vollauf geht, hier ist der Läbensgenuß gewaltig schlecht, nachtrinken können wir
gar nicht, wir müssen uns mit einer Nachlese begnügen im Lesen alles dessen, was von
dort hergelangt. So hat mir Halle und Jerusalem ein doppeltes Vergnügen gemacht, als
Erinnerung an vieles, selbst an die gelbe Stube [bei Pistors 1809] worin Du es vorgelesen,
es war mir doch noch vieles davon im Sinn geblieben, und beim Wiederlesen kam es wie die
Sterne in dem Lied darin [S. 43] nacheinander wieder hervor. So muß ich Dir auch
einen doppelten Dank sagen. Mein Urtheil darüber ist aber folgendes. Der erste Theil ist
durchaus vortrefflich, vieles darin ist ebenso herrlich, so groß, und hat mich ebenso
berührt wie Shakespeare und Göthe, weil es mit eben so sicherer und kühner Hand gefaßt
worden ist. Es hält alles fest zusammen und wird streng regiert. Der zweite Theil ist mir
als Ganzes aber nicht so lieb und recht ich rede hier nicht gegen die
äußerlich vernachlässigte Form, das ist mir gar nichts, sondern recht, weil es eine
innere Nothwendigkeit hat und ich habe folgende Gründe: erstlich hast Du den
Fluß, der in dem ersten Theil in seinem Bett lief, oft heftig und einreißend, aber immer
gezügelt von einem Felsenufer, in dem zweiten Theil das ganze Land überschwemmen lassen.
Die Gränzen entziehen sich oft unsern Blicken, Du freilich schwebst darüber hin, Du
läßt auch schöne grüne Inseln hervorgehen, oft hast Du aber eine Lust wie ein Vogel,
der in seinem Element ist, darauf zu schwimmen, Dich zu erlustiren, unterzutauchen,
unbekümmert auch bisweilen für die <102:> Zuschauer. So ist mir die
Bassascene [S. 378] entstanden, die mir recht angenehm ist, nur nicht gerade da.
Dabei erkenn ich wohl, daß alles angebunden ist durch die Idee, die durch alles geht, ja
in keinem Zug verabsäumt oder hintangesetzt ist, allein die Willkühr liegt manchmal in
der Wahl des Gegenstandes, durch welchen Du sie schlingst. Es ist ein Mangel, der aus
Ueberfluß entstanden ist. Ein zweiter Fehler ist aus dem ersten geworden, daß indem Du
die ganze Welt, und ihr letztes und größtes Capitel, die Vergebung ihrer Sünden,
hineingebracht, die erste einfache Geschichte darin zu klein wird, wie Halle nur noch im
Hallelujah erscheint, und von ihrer Wichtigkeit verliert. Ein indischer Büßender, dessen
heiliges Leben uns unendlich interssirt, wird, wenn er vollendet hat, wie ein Tropfen in
das Meer der Gottheit aufgenommen, das ist philosophisch ganz richtig, aber poetisch oder
sinnlich hab ich ein Gefühl dagegen. Ein ander Bild ist, daß der Gott als Zwerg so groß
ein Stück Land verlangt, als er braucht darauf zu stehen, und wie es ihm gewährt worden,
wächst er, und wächst so sehr, daß er Himmel und Erde einnimmt und so das All erobert.
Einem Gedicht das Bewußtsein zu geben, daß die große Idee wie die Sonne über allem
stehe, und das einsamste wie das Ganze umfließe, ist mir genug, und wie in Cardenio die
Ueberzeugung beim Streit gegen Wagner, daß [S. 29] das heilige Grab der Mittelpunkt
der Welt. Du bist dadurch auch gezwungen worden, eine Mythe zu beendigen, wie die vom
ewigen Juden, wogegen ich ein Gefühl habe, weil sie gleichsam dadurch untergeht. Der
dritte Fehler ist mir, daß zuletzt die Personen immer mehr Fleisch und Blut verlieren,
immer durchsichtiger werden, sodaß wir nur noch an der Idee darin, die ungemein
geistreich ist, ein Interesse haben, nicht mehr an ihnen selbst. Die Poesie soll aber
durch unsere Sinne in uns einziehen. Darum werd ich immer viel lieber und öfter den
ersten Theil lesen, wo alles in dem vollsten Leben steht. Damit will ich meine Critik
endigen, und Du wirst mir auch glauben, wenn ich noch von ihr sage, daß die geringste
Seite im Gedicht mehr werth ist.
Du wirst bemerkt haben, daß
ich mit indischen Bildern um mich werfe, aber ich bitte Dich Polier sur la Mythologie
des Indous zu lesen. Wiewohl die Einkleidung schlecht mit einer albernen modernen
Ironie, und es nur Auszüge aus den großen Gedichten der Indier in Prosa sind, so ist
doch das Buch in dieser Gestalt so wunderbar, reich und neu, wie wenige. Es sind alle die
Märchen der indischen Mythologie darin erzählt, die all voll tiefer Bedeutung mit dem
reizendsten poetischen Leben ausgestattet sind. Es kann nun nicht länger zweifelhaft
sein, daß unsere heiligen Bücher aus dem indischen entstanden, indem in einer
Incarnation des Vichnou als Chrisnen das Leben Christi offen- <103:> bar
erscheint. Das ist gewiß, daß in Zukunft die Erlernung des indischen ebenso nothwendig
sein wird als der andern alten Sprachen, und daß unsere Geschichte in allen Zweigen einen
neuen Grund und ein neues Leben erhalten muß.
Was Du von Niebuhr schreibst,
ist schön zu hören; hat er gar nichts geschrieben, das ich lesen könnte? Von der
Universität erzählt man hier, daß es nicht fort wolle damit, namentlich eine große
Partheiung der Mitglieder entgegen stehe. Diese Nachrichten kommen aber sämmtlich aus
Göttingen, wo man sich sehr fatal vornehm gegen Berlin nimmt, wie überhaupt gegen alles
bessere Neue. In ihren gelehrten Anzeigen benehmen sie sich immer pedantischer, thun immer
als wüßten sies heimlich gar wohl, hätten aber jetzt gerad keine Lust es zu sagen; so
hättest Du einmal [in den Göttl. gel. Anzeigen 1810, S. 1041] die Recension von Polier
lesen sollen, als wenn es ein ganz unbedeutendes Buch wäre: pure Erfindung und Lüge
könne man das Zeug wohl nicht nennen. Wo kann einem ein hölzerner Gelehrter verruchter
vorkommen, als wenn er gegen alle große Resultate verstockt ist und dagegen schreit? Man
darf wohl Göttingen prophezeien, ungeachtet den ganz ungemeinen äußerlichen Vortheilen,
daß es insich zu Grunde gehen und veralten wird, wenn es so fortfährt.
Wir
haben von den diesjährigen Abendblättern noch nichts bekommen, und glaubten sie seien
eingegangen. Hierbei folgen noch einige nordische Räthsel [Kleists Berliner Kämpfe
S. 446]. Hagen hat mir endlich von dem Verlangten etwas, aber gerad das am wenigsten
interessante gesendet. Die Kämpe Viiser sind halb fertig gedruckt, und ich werde sie Euch
bald zusenden können. Louis hat mir einen Titel dazu stechen müssen, ich habe ihn aus
Albrecht Dürers zusammengestellt\1\ und ich will
einmal sehen, wie er Euch gefallen wird. Außerdem ist noch eine besondere Invention dabei\2\. Ich bin noch schuldig für die delikaten
Nachrichten von dem genialen Rachen [Reichardt] zu danken. Ein gleiches liegt mir ob, für
die Ehre eines Ehrenmitglieds bei der Freßgesellschaft: schlimm ist das einzige, daß es
hier nicht bildlich ist, wenn man sagt: von der Ehre werd ich nicht satt, und ich habe am
18ten gewaltig an wäßrigem Mund leiden müssen. Leb immer wohl und vergnügt,
lieber Arnim, wenn Du uns schreibst, so machst Du uns die Fenster auf und läßt uns
wieder einmal hinausschauen, denn wenn wir nicht hier so zusammenlebten und uns lieb
hätten, so säßen wir in <104:> einem Gefängniß, wo wir keine Lust hätten.
Grüß Bettine vielmals, Savigny, Kinder, die Betty [Pistor] nicht zu vergessen und bleib
mir gut, Wilhelm Grimm.
Nachschrift: Der Jacob gibt
mir seinen Brief, da haben wir zu meinem Erstaunen gleiche Invention vom Evangelium
gehabt, so daß wir uns darum prügeln können. Was 1000 angeht, so bin ich mit 1 voraus,
wozu mir die 1001 Nacht verholfen hat. Dagegen sind wir im Urtheil über Halle und
Jerusalem wieder auf verschiedenen Wegen: am ersten Theil weiß ich nichts zu finden, das
ich tadeln sollte, und wenn ich hungern sollte. Die verschiedenen Stimmen über Mystik
sind mir vortrefflich, weil sie ungemein wahr aus der Zeit ergriffen sind &c.
\1\ Namentlich nach dem damals eben durch Strixners
Steindruck bekannt gewordenen Gebetbüchlein Kaisers Max.
\2\ Versteckte Anspielung auf die Zueignung des
Buches an Arnim und Brentano.
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