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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Reinhold Steig (Hrsg.), Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm (Stuttgart, Berlin: Cotta 1904), 94-97

Achim v. Arnim an Jacob und Wilhelm Grimm, Berlin, Januar 1811


Lieber Wilhelm und Jacob – der Aelteste wird diesmal einen Platz unter den Jüngsten gesetzt, weil er zu wenig geschrieben. Viel Glück zum neuen Jahre und der im Packet wohlaufgehobene altdeutsche Neujahrswunsch, das glatzköpfige Mönchlein Gramalbus aus Veit Webers Sagen der Vorzeit, der Mönch Ilsan vielleicht, eigentlich aus Büschings armen Heinrich besonders abgedruckt für Freunde des neuen Jahres\1\. Es ist eben heller Morgen, und doch habe ich schon Rehbraten und Jauersche Bratwürste bei Pistor gegessen, der jetzt das von Dir bewohnte gelbe Zimmer mit dem Liebeswagen am Himmel bewohnt, nachdem er sich einen warmmachenden Ofen vom <95:> à la mode Töpfer statt des kaltmachenden hat setzen lassen, der in Deinen Tagen das Zimmer kühlte. Am Fenster hat er eine Witterungsaccise und Zollvisitation angelegt, Hygrometer, Thermometer, Barometer u. a. m., auf einem Tische und in Schränken liegen Mineralien, auf einem andern Theilungsmaschienen, an einem breiten Arbeitstische wird die Post und die Gesetzsammlung dirigirt, und auf dem Sopha wird zweimal die Woche über Göthes Farbenlehre disputirt. Hättest Du das alles in dem Zimmerchen für möglich gehalten? Es geschieht aber jetzt sehr viel. Ich bin damit beschäftigt, eine deutsche Freßgesellschaft zum 18. Januar, welches der Krönungstag unsrer Monarchie ist, zu errichten, Ihr sollt Ehrenmitglieder werden, insofern sich Dein Appetit, Wilhelm, noch erhält; sie hat große Zwecke, Adam Müller ist Mitunternehmer, ich bin Gesetzgeber. Das weiseste der Gesetze bestimmt, daß jeder lederne Philister ausgeschlossen; wer von Zehnen mit ihrer Namensunterschrift dafür erkannt ist, wird ausgeschlossen.
Aber eine andre Beschäftigung werdet Ihr vielleicht nicht errathen und vermuthen? Was hilft das Zieren, geradaus ich habe mit Bettine Verlobungsringe gewechselt und seit dem Weihnachtsabend, wo er mir bescheert wurde, prangt an meiner Hand ein golden Fingerlein mit goldnen Lilien auf schwarzemaillirtem Grunde, der mir einwachsen soll, wenn mir die erhoffte gute Zeit einen Bauch und bequeme fette Finger gewährt und kein ungeschicktes Geschick ihn mir raubt. Wir hatten uns früher verlobt auf freier Straße unter Gottes freiem Himmel. Die Ringe waren nur zur Erinnerung, doch war der Abend dieser Weihnacht recht schön. Albertis, Pistors, Zelter, La Roches waren bei Savigny versammelt, wo alle gegenseitigen Geschenke um eine lange Tafel herum aufgeschmückt waren, auf der Tafel ragte eine Christpyramide; auf den Seiten war für die Kinder aufgestapelt. Savignys Junge [Franz, geb. 1808] hatte eine schwarzsamtene, altniederländische Hosentracht mit schwarzem Baret bekommen und sah allerliebst aus, das Kind ist ungemein eigenthümlich, fest und abgesondert in seinem Willen; Bettinchen, ungeachtet sie recht gescheidt, verliert neben dem Buben, Du würdest, Wilhelm, bei Deiner Kinderliebhaberei ungemeines Wohlgefallen an ihm haben. Nachdem die Freude vorüber war, wurde in einem Zimmer, das als Laube gemalt ist, wo ein Faun den Ofen verziert, an vielen kleinen Tischen – Thee mit rothem Wein, nein\1\ – sehr ordentlich wurde da gegessen und getrunken, und die verschiednen Tische behandelten einander wie fremde Leute in einem Wirthsgarten und die Bekanntesten saßen beisammen. Mir hatte die <96:> Bescheerung außer dem Zuckerwerke eine Weste, sechs Schnupftücher, einen Stiefelknecht, eine Papierscheere und ein Federmesser gebracht.
Doch jetzt von der Literatur ein paar gründliche Worte. Reichardt, der geniale Reisebeschreiber, ist diesmal hier den Leuten zu ungemeinem Verdruß. Neulich hat er beim Pistor in einem Zug ein ganzes Fäßchen Caviar ausgefressen und dabei noch ganz stolz erzählt, er sei als Kind von seinen Aeltern mit einem viel größern Fasse auf die Probe gestellt worden, ob er es für Eingemachtes halten würde; er aber habe, der Tebel hole mer, gleich solch einen vortrefflichen Wohlgeschmack an dem Zeuge beim ersten Lecken gefunden, daß er das ganze Faß sich an den Kopf gesetzt und nicht eher abgelassen, bis ihm nichts mehr davon in den Rachen gelaufen. Während wir uns alle auf die Lippen bissen, hatte Clemens noch die Bosheit, nach Ziegenmolken zu fragen\1\; wir lachten alle, er merkte nichts. Neulich hat er in großer Freßwuth in einer hier bestehenden Tischgesellschaft, wo er als Gast war, dem Geheimen Staatsrath Sack eine Schüssel weggerissen, weil es sein Lieblingsgericht gewesen, Enten mit Kastanien. Bettinen faßt er zuweilen mit großer Ostentation an die Kniee in großer Gesellschaft, dann sagt er wieder, er verbäte sich ihre Reichsspäße, dann sagt er ihr wieder, daß sie liebenswürdig, dann wieder, daß ich wohl eine bessere Braut hätte bekommen können, kurz und gut, er hat die Tramontana verloren und faselt. Seine Oper ist noch nicht gegeben, seine Composition von der Cantate des Clemens hat in einigen Proben wenig Beifall erhalten, sie hätte wohl ein gutes musikalisches Geschick verdient, Clemens hatte sie mit großem Fleiße ausgearbeitet, und sie enthält beinahe alles Gute, was sich über den Tod der Königin als allgemeine Erscheinung sagen ließ. Ich danke Dir für die gute Gesinnung, die Du von meiner Arbeit (d. i. meiner Cantate) hast; es ist keine Lüge darein, wir fühlen jetzt erst recht, nachdem sie todt, wie viel Berührungen des Königs mit dem besseren Theile seines Volkes mit ihr verloren gegangen sind. Deine Räthsel sind sehr angenehm, ich will sie dem Kleist für die Abendblätter geben [1811 Nr. 19]; freilich kommen sie da nicht immer in die beste Gesellschaft, aber der arme Kerl hat seine bittre Noth mit der Censur, der wegen einiger dem hiesigen Ministerio darin anstößiger Aufsätze beinahe gar nichts mehr abdrucken darf, beinahe zehn Aufsätzen von mir ist das Imprimatur verweigert. Hättest Du wohl gedacht, daß der [Friedrich von] Raumer, zu dem ich Dich, wenn ich nicht irre, einmal führte, einmal den Staat durch den Staatskanzler beherrschen würde? Es thut mir unendlich leid, daß ich bei Deiner Anwesenheit den Niebuhr <97:> noch so wenig kannte; es ist der einzige eigentliche Gelehrte, der mir je vorgekommen, der durch alle Sprachen und Literaturen verbindend fortgeschritten und beinahe alles Einzelne aus der Einsiedlerzeitung kennt, während er den Römerton auf den Zahn führt, daß die Gelehrten Ach und Weh über seine Entdeckungen schreien; seine merkwürdigen Vorlesungen über Römische Geschichte werden bei Reimer erscheinen. Er hat an Deinen Aufsätzen, Jacob, in Hagens Journal besondre Freude gehabt\1\, ich theilte sie gern, ich habe aber das Heft noch nicht bekommen können. Euer beider ergebner Achim Arnim. [Nachschrift:] Hagen hat mit der Abschrift [oben S. 92] lange gezögert, aber es ist wirklich schwer, hier Abschreiber zu bekommen.

\1\ Der „altdeutsche Neujahrswunsch“ ist noch vorhanden: eine Neujahrskarte, die einen Mönch darstellt, dem, wenn man eine Klappthür öffnet, eine phantastisch aufgeputzte Frauensperson mit dem Neujahrsbecher in der Hand entgegeneilt. Das Bild ist etwa in der Art, wie von Chodowiecki die Mönchsbilder zu Veit Webers (Leonhard Wächters), Bürger gewidmeten Sagen der Vorzeit (2. Aufl. Berlin 1790), oder wie die in Büschings Ausgabe des Armen Heinrich 1810. Daher der Scherz mit dem Zusatz „altdeutsch“, während das Neujahrsbild in Wirklichkeit ein recht „modernes“ ist.
\1\ „Thee mit rothem Wein, nein“ wohl ein Scherz unter den Freunden.
\1\ Die famose Geschichte im Schelmufsky mit den Ziegenmolken.
\1\ Ueber Karl und Elegast und über Hornkind und Maid Rimenild (Kleinere Schriften 6, 34. 41); aus der Meistersängersprache das Wortspiel vom Römerton über die Römische Geschichte Niebuhrs hergenommen.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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