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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Reinhold Steig (Hrsg.), Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm (Stuttgart, Berlin: Cotta 1904), 71-75

Jacob Grimm an Achim v. Arnim, Kassel, 24. 9. 1810


Du wirst es mir glauben, lieber Arnim, daß mir Dein letzter Brief ganz besonders hoch und lieb gewesen ist, da ich jetzt wie allein und abgeschnitten lebe, der Wilhelm ist schon über drei Wochen verreist nach Marburg und Fuld, und ich habe noch dazu aus bloßer Formalität nach Napoleonshöh ziehen müssen, wo die Hofhaltung ist, denn zu thun habe ich gar nichts, und bin aufs unbequemste und dabei auf meine Kosten eingerichtet, so daß ich strebe wöchentlich nur ein paar mal in die Stadt zu gehen, um ordentlich zu essen oder um mir Bücher und eingegangene Briefe zu holen. Mit welcher Freude fand ich Deinen und daneben einen vom Wilhelm auf dem Tisch liegen\1\; überhaupt wie gern schüttele ich den Staub aus meinen Seidenstrümpfen, um die alten zu Haus gebliebenen weiten Hosen anzuziehen und einen Abend bei den andern Geschwistern zu bleiben. Von diesen habe ich zwar manchen Kummer und gewiß durch ihre Schuld, aber wir haben <72:> uns dennoch von Herzen lieb und so mags gehen, wie Gott will. Auf der einen Seite ist es mir klar, daß ich stark an ihnen, an Einrichtung und Gewohnheit hänge, dann aber steht es mir auch lebhaft und wahr vor, daß ich manchmal über Berg und Thal möchte, an eine andere Lebensart. Denn Du müßtest es hier versucht haben, um zu glauben, wie gebunden man ist durch jeden Dienst, es fehlt an aller Anhänglichkeit und Sicherheit; ich weiß es, daß man mich jeden Tag entlassen kann aus irgend einem zufälligen Grund, weil man glaubt, daß ein anderer eben so tauglich sein könnte; ich wüßte keinen unter denen, die mir vorgesetzt, der mir Achtung eingeflößt hätte und den ich ehrte. Es ist etwas sündhaftes darin, ich aber steh ohne Schuld, es ist ein Zoll, der auf mir liegt; daß er schwer, kann ich viele Tage vergessen, und es fällt mir manchmal aufs Herz, so wird es mir durch den Gedanken wieder leicht, daß ich Geld verdienen muß für mich und meine Geschwister, und ich mag nicht freier sein, ohne sie, um alles in der Welt. In jedwedem andern Dienst hätte ich mehr zu arbeiten, aber ich wollte es tausendmal lieber thun, und nach jeder Arbeit bleibt auch ein Vergnügen darüber. Diese Klagen sind die innersten meiner Seele – eigentlich ist es auch keine Klage, sondern blos Beichte über einen Mangel im Leben; ich sage niemand davon und hätte auch jetzt, ohne eine besondere Stimmung, nichts davon berührt. Denn überhaupt bin ich glücklich und zufrieden und denke den Morgen nicht an den Mittag und weiß den Abend auch nichts mehr vom Mittag: deswegen nichts mehr darüber.
Die Gräfin Dolores kam schon vierzehn Tage eher an [als der letzte Brief vom 3. September], und dafür unser herzlichster Dank, ich habe sie gleich ausgelesen. Da ich keinen Augenblick unaufrichtig gegen Dich sein möchte, so bekenne ich gleich, daß mir der Wintergarten viel lieber ist. Warum? das wird schwer zu sagen sein. Einzelnes erkenne ich für herrlich an, das Drama von der Päpstin Johanna ist leicht das Trefflichste, was Du geschrieben. Aber das ganze Buch, wenn es z. B. ein Mädchen wäre, möchte ich nicht heirathen, weil ich daran nicht glauben könnte. So wie es Kinder gibt, welche des Nachts nicht schlafen können, wenn ihnen die Mutter nicht die Hand in ihrer hält, z. B. bei meiner Schwester sonst, so vermisse ich auch eine solche Hand in Deinem Buch, die Geschichte ist mir unwahr, wie auch fast allen von Jean Paul der Lebensstrick fehlt. Wie gesagt, im einzelnen, in Gefühl und Wahrnehmung stehe ich Dir die größte Lebendigkeit und Wahrheit zu, ich glaube daher bestimmt, daß Dein Talent ein rechtes dramatisches ist und Du nichts als Trauer- und Lustspiele dichten solltest, wo die Nähe ihre volle Macht hat. Dein Roman wird sich nicht gut <73:> vorlesen lassen, ich meine so, daß man immer daran bleiben möchte; ich gestehe, daß ich die zwei Hauptpersonen, die Dolores und noch weniger den Graf, nicht gern habe, auch die Clelia selbst nicht, sondern nur den Johannes, von dem mehr vorkommen sollte. Die satyrischen Capitel besser zu verstehen, hätte ich wohl den Klingklingelalmanach lesen oder anderes wissen müssen; Baggesen, wie es heißt, soll seitdem wirklich gestorben sein, hat also nichts profitiren können. Daß der Beireis hineingebracht worden\1\, ist meines Dafürhaltens sehr zu loben, überhaupt sollten die Dichter mehr aus der Gegenwart aufnehmen und bewahren, sie werden dadurch historisch und leisten etwas, was gerade die Historie ausläßt; wie auch so viel Romane des 16. und 17. Jahrhunderts gutes Beispiel geben. Die Päpstin Johanna mach ja noch einmal aus, oder wenigstens ein so großes Stück, wie Göthes Faust; hast Du eine vor einigen Jahren zu Regensburg gedruckte Abhandlung über die Johanna gelesen? sie ist recht gut, und ich möchte wissen, von wem? Ich bin neugierig auf die nachgeschriebene Volkscomödie von Faust, die Hagen im 4ten Stück des Museums liefern will. Hast Du mehrere solcher italienischen Stücke mitgebracht, wie das eine im ersten Band [S. 287: Tragikomödie von dem Fürstenhause und der Judenfamilie; vgl. unten S. 76]? ich möchte es wohl einmal im Original lesen, der sehr passende Eingang vom Juden und erwarteten Messias ist am End wohl nicht in diesem. Daß Du den Maler Grimm [2, 286] verewigt, wird auch von mir schuldigst zu Dank erkannt; wenn einmal etwas aus ihm wird, so kann die Stelle nach ein paar hundert Jahren großes Kopfbrechen kosten. Auch den Frohreich [2, 377] hab ich gefunden, sonst aber weniger Anspielungen, als ich dachte.
Herzlichen Dank für die Bemühungen in Berlin wegen der spanischen Romanzen, es ist mir recht fatal, daß Hitzig zuvorgekommen, denn ich habe mir viel Mühe damit gemacht, und nicht nur den Cancionero de Amberes 1555 – freilich den besten – abgeschrieben, sondern auch andere verglichen. Außerdem wollte ich alles ganz neu anordnen und historische Noten liefern. Nun fürchte ich, er läßt auch die schlechten Lieder mit abdrucken, indessen mag ich mich nicht an ihn wenden (er hat mir nicht geschrieben) und muß sehen, wie ich meine Arbeit sonst brauche. Zimmer und Dieterich und noch einige hier herum hatten <74:> mir den Verlag schon abgeschlagen, und die Speculation war doch an der Zeit\1\.
Ueber einen Hauptpunct möchte ich Deine Meinung einmal recht eigentlich wissen oder verstehen. Du äußerst auch in Deinem letzten Brief, daß Du den altdeutschen Gedichten kein historisches Interesse einmal nicht abgewinnen könnest; daraus folgt, daß Du Arbeiten, welche das unternehmen, nicht lesen magst, sondern blos die Resultate einsehen. Nun ist mir das nicht begreiflich, da Du doch das Arbeiten an sich nie gescheut und stets geschätzt, z. B. wenn ich nicht irre, Creuzers Schriften gern gelesen hast. Warum soll denn der altdeutschen Literatur nicht das selbe recht sein, was dem griechischen Alterthum billig ist; allein das kannst Du auch nicht eben meinen, schreib mir also einmal weitläufiger darüber. Dem Dante – ob ich ihn gleich nie ausgelesen, aber ich war verwundert, daß Du ihn nicht eher gelesen – bist Du doch zu hart und bedenkst nicht, daß die meisten seiner Strafen wahrer Volksglaube und Religion gewesen sind, wozu er nur Personen aus der Geschichte genommen, und das hat er meist mit großer Gewalt gethan. Das Ganze ist jetzt freilich nichts mehr, mag aber damals von vielen mit Angst und Bangen gelesen und gehört worden sein, wie die Reise in ein fremdes unbekanntes Land. Der Virgil kommt doch im Grund wenig vor, oder ist vielmehr blos ein dem Dichter geläufiges Adjectivum, daher muß er bei Flaxmann unangenehm sein. Ich mag ebenso wenig Petrarchs Sonette, ja auch den Ariost hintereinander lesen, als den Dante, und diesen lieber in der Prosa, als neulich erschienenen steifen Version Kannegießers. Der Dante selbst, da Du ihn dem Kleist vergleichst, kann ja mithin auch ein guter Kerl gewesen sein, sein Leben ist mir nicht im Sinn, ich stelle mir ihn aber gewiß fromm und streng und nicht bös und grausam vor.
Du weißt, lieber Arnim, daß ich auf Docens Abhandlung gegen mich zu antworten habe, und hast mich selbst einmal zur Tapferkeit ermuntert [oben S. 21]. Ich wollte anfangs gern alles auch im Museum erscheinen lassen und arbeitete es danach aus; da mir aber Hagen auf meinen Brief erst nicht antwortete, so laß ich auf gut Glück ein kleines Buch darüber eigens erscheinen, bei Dieterich. Bei Dir wird es, nach Deinem obigen Geständnis, wenig Gnade finden, auch ist der Gegenstand trocken und speciell, daß ich nur wenig Leser und Versteher voraussehe. Es ist sonst leicht die schwerste Arbeit, die ich in meinem Leben mache, denn ich habe fast alle Quellen neu durchgehen und die maneßische Sammlung allein mehremal durchlesen müssen. Sobald es <75:> fertig ist, wird es sich bei Dir dennoch einstellen, stell Dir vor, daß ich eine Vignette dazu selbst erfunden und gezeichnet habe. Die Recension des Görresschen Buchs, die Dir so gefallen [oben S. 62], ist übrigens von Docen, und nicht von Wilhelm, ich will Dir Deine gute Meinung nicht abstreiten, allein den gelehrten Theil hätte ich von Docen viel besser erwartet. Nun muß ich Schluß machen, auf die Cantate und Halle und Jerusalem bin ich im voraus erfreut. Tausend Grüße, Dein Jacob.
[Nachschrift:] Für den Clemens die Beilage.

\1\ Dieser Brief Wilhelms an Jacob und andere gelegentliche Briefe, die vorhanden sind, blieben für den „Briefwechsel aus der Jugendzeit“ unbenutzt, in dessen große, abgerundete Briefgruppen sie sich nicht fügten.
\1\ Dolores 2, 57 „Der wunderbare Doctor“ in H…, d. h. in Helmstädt. Arnim hatte ihn 1806 selbst besucht und seine Eindrücke brieflich Brentano (Arnim und Brentano S. 188) und Goethe (Schriften der Goethe-Gesellschaft 14, 120) geschildert. Von Jean Paul erbat er, vergebens, eine Beschreibung des wunderbaren Mannes für die Einsiedlerzeitung. Jetzt holte es Arnim selbst in der Gräfin Dolores nach. Vgl. Euphorion 9, 204.
\1\ Jacobs Ankündigung vom „November 1810“; Kl. Schriften 7, 590.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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