Edmund Stengel
(Hrsg.), Private und amtliche Beziehungen
der Brüder Grimm zu Hessen. 3 Bde. (Marburg: Elwert
1886/1910), Bd. 3 (1910): Briefe der Brüder Grimm an Paul
Wigand, 90-95
Wilhelm Grimm an Paul Wigand, Kassel, 31. 10. 1811
Caßel
am 31 Octbr 1811.
Lieber Gevatter und
liebe Frau Gevatterin herzlichen Dank für diesen neuen Beweis
Eurer wohlwollenden Gesinnung zu mir, daß Ihr mich dazu er-
<91:> wählt habt, Pathe zu dem hoffnungsvollen Sohne
zu seyn, wodurch unsere Freundschaft nun auch eine geistige
Verwandtschaft wird: könnte ich dort seyn bei der Taufe, so
würde ich gewiß einen vergnügten Tag haben und Ihr würdet
selbst sehen, wie sehr mich Eure Liebe gerührt und erfreut
hat. Meinem kleinen Pathen gebe ich, außer was von meinem
christlichen Namen paßen wird, welcher ganz gut und wenigstens
bei andern, wenn auch nicht bei mir berühmt geworden (ich
brauche nur an William Shakespeare und an Carl
den Großen zu erinnern) meinen besten Segen. Wir wollen
allesammt hoffen, daß er wohl gedeihe und er seinem Pathen
recht ähnlich werde, an dem ich selber nichts auszusetzen
weiß, so vortrefflich wohl ist er geworden. Da er die neunte
Ader bekanntlich von ihm hat, so werd ich für seine Erziehung
in den beiden gefährlichen Jahren 9 u. 19 (29 wirds seine
Frau nicht mehr leiden, daß ich mich einmische, sonst steh
ich auch dann noch zu Diensten, wenn ich überhaupt noch stehe)
gut sorgen, das beste wird indessen der liebe Gott thun, worauf
ich mich verlaße. Du, lieber Gevattersmann, sollst mir nur
mit meinem Pathen ordentlich und ruhig umgehen, und wenn ich
ein einzigmal sehe, daß du heftig gegen ihn wirst, so nehm
ich ihn weg und erziehe ihn selber freilich mit vielem Ernst
und Strenge, aber mit lauter Liebe. Sie, liebe Frau Gevatterin
werden gewarnt, ihm nicht allen Willen zu thun und nicht alles
zu geben, jedoch so viel Obest als er Lust hat, wenns auch
noch ein wenig grün ist. Ja, beide liebe Freunde, Ihr sollt
euere Lust an ihm erleben. <92:> Sobald er spielen kann
muß ihm der Gevatter den Maikäfer abtreten, da hilft
nichts, wenns ihm auch schwer ankommt. Wenn er sprechen kann,
komme ich selber hin, und sehe zu wie alles steht.
(S. 2) Jetzt hab ich dir noch auf verschiedene Briefe
zu antworten, die ich mit Vergnügen von dir empfangen. Die Numancia
und der Schwan haben richtig beigelegen. Da dir dies Trauerspiel
so wohl gefallen, so wollt ich könntest du ein anderes lesen
von Lope de Vega, welches, wo nicht ganz
so groß, doch in einer andern Art ungemein herrlich ist. Es
hats jemand mit aus Spanien gebracht, wo es für das Meisterstück
aller Tragödien gilt, und hier zu Land ists wohl nicht leicht
zu haben. Es heißt Sancho Ortiz de la Roelas und ist
sehr einfach in der Fabel; er tödtet, weil es ihn der König
heißt und er an seine Gerechtigkeit glaubt, den Bruder seiner
Braut, sagt darnach nicht, wer es ihn geheißen, ob er sich
gleich das Leben damit retten kann, und entsagt, als er frei
wird, seiner Braut, weil sie den Mörder ihres Bruders nicht
lieben könne. Es ist in diesem Charakter eine seltene Reinheit
und Herrlichkeit, wiewohl dagegen die andern nicht sehr bedeutend
sind. Eben komme ich von Göthes Leben
1ster Band, du mußt dir das Buch gleich kaufen, es ist wohl
lange nichts von solcher Anmuth, Zierlichkeit Einfachheit
geschrieben, was zugleich so unschuldig und ansprechend und
so bedeutsam ist; die erste Liebes Geschichte mit Gretchen,
die in Egmonts Clärchen verherrlicht worden, ist das allerlieblichtse,
was sich nur denken läßt, und es kann niemand auf der Welt
seyn der diesem Zauber widersteht. <93:>
Ich
schicke dir hierbei einige Bücher. Schuberts Nachrichten
wollte ich ließest du zuerst wieder zurückgehen: meine Absicht
ist eigentlich, daß wenn du ein Stück darin gelesen, dir das
(S. 3) Buch, welches den Erwerb der neuern Philosophie
so angenehm und deutlich ausspricht, wenn auch hin und wieder
nur bezeichnet, so schätzbar wird, daß du es dir selber kaufst.
Ohnehin muß es mehrmals gelesen werden. Sodann der spanische Lazarillo;
man begreift nur nicht, warum so gar viel Aufhebens in der
Literatur von dem Buch gemacht wird, wie wohl es nicht schlecht
ist. Der Goldfaden ist gefällig und kann der Frau
Gevatterin vorgelesen werden. Die beiden Shakespeare,
mein ich, hättst du mir auf meine Anfrage gesagt, seyen dir
noch fremd, irr ich mich so hats weiter nichts zu sagen. Den Aristophanes
hab ich noch nicht ausgelesen, es bleibt aber dabei, daß du
ihn erhältst. Weil es mich freut, daß
du dir den Kleist kaufst, so thuts mir leid, daß
ich ihn nicht dir schicken kann, du wirst dich recht erfreuen,
es kommt bei ihm recht aus frischer Quell, zuweilen sprudelnd
und brausend, aber es ist nichts falsches, gemachtes darin;
vor allem trefflich ist die erste Erzählung von Kohlhaas und
die Hochzeit auf St. Domingo, ich schreib dir nicht ausführlicher,
weil du vielleicht eine Recension von dem Buch lesen wirst,
welche von mir ist (GVmr). Die von der Dolores
kann ich dir fürerst nicht senden, weil sie in der Lesegesellschaft
ist verloren gegangen, ich laße sie aber wieder kommen. Warum
hast du der Mde Gehrken nur den zweiten
Theil gegeben, wenn sie über den ersten so gesprochen, <94:>
sie hätte es nicht thun sollen, sondern (S. 4) allerlei
gutes aus dem Buch lernen.
Wenn
ich nicht schon längst gewußt, Gevatter, daß du ein geborner
Maitre des plaisirs bist, so würd ich mich über ein
Concert dort verwundert haben. Daß du paukst lob ich auch,
ich hätte mein Leben gern einmal so leicht und laut um mich
geschlagen, die Arbeit kam mir immer appetitlich vor beim
Zusehen. Der seelige Schmerfeld paukte auch bei
einer marburger Feierlichkeit im großen Saal einmal allerliebst,
ich denke immer daran. Indeß fehlt es dir doch an einem und
dem andern guten Gedanken sonst hättest du den Rocholl
[den Schnarrpeter] als natürliche Trompete angestellt; was
imposanter als wenn er zuweilen ein Solo mit der Nase geblasen?
für ein Raschelbrot oder acht hätts der mit Vergnügen
gethan. Mir ist nichts lustiger gewesen, als daß der Huisier
ihn für einen Juden bei ihm selber ausgegeben, man sieht wie
einer, der sich verbergen will, gleichsam wieder mit der Wahrheit
herausplatzt.
Bisher
an dich allein nun an die Frau Gevatterin wieder besonders
viel schönes und Sie möge mir auch fernerhin gut bleiben.
An
Euch beide zum Schluß viel Grüße von den meinigen, Bruder
und Schwester. Ich sehe einem Brief entgegen mit ausführlicher
Beschreibung wie es auf der Taufe zugegangen, was allda delicates
zu haben gewesen und wie viel mal auf meine Gesundheit getrunken
worden. Ich wollte dir mit einem langen Brief aus Dankbarkeit
einiges Vergnügen machen und hab das alles unter ziemlich
heftigen <95:> Kopfschmerzen geschrieben, du kannst
daraus sehen wie groß meine Freundschaft. Euer getreuer Gevatter
- W. C. Grimm.
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