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Anne Louise Germaine, Baronin von Staël-Holstein, Betrachtungen über den Selbstmord. Übersetzt von Fr. Gleich (Stralsund: Königl. Regierungs-Buchhandlung 1813), 70-75

Kleists Selbstmord

Eine kürzlich sich zu Berlin zugetragene Begebenheit kann einen Begriff von der sonderbaren Exaltation geben, der die Deutschen sich schuldig machen\1\; die besondern Beweggründe die zwey Menschen so weit verirren konnten, welche sie auch seyen, sind von geringer Wichtigkeit, aber der Enthusiasmus mit dem man über eine Sache <71:> gesprochen hat, die höchstens nur unsere Nachsicht in Anspruch nehmen kann, verdient die ernsteste Aufmerksamkeit. Wenn zwey vollkommen unglückliche Menschen sich einander den Tod geben und anflehen dabey das Mitleid fühlender Menschen, und den Gebeten der Frommen sich empfehlen, so kann gewiß keiner sich enthalten seine Thränen dem Schmerz zu zollen, der sie wiedersinnig handeln läßt, welches auch die Thorheit sey die sie begehen. Aber kann man als das Höchste der Vernunft und Religion und Liebe einen wechselseitigen Mord darstellen? Kann man der Aufführung einer Frau die freywillig den Pflichten der Tochter, der Gattinn und Mutter entsagt, den Namen Tugend geben, eben so der des Mannes der ihr seinen Muth leiht um auf diese Art das Leben zu verlassen! –

Wie! diese Frau vertraut so gänzlich der That die sie begeht, daß sie sterbend schreibt: sie werde wachen aus höhern Sphären über ihre Tochter; während daß der Gerechte oft zittert auf dem Bette des Todes, hält sie sich des Looses der Seeligen gewiß. – Zwey Wesen die man achtungswerth nennt, mengen die Religion in die blutigste aller Handlungen! Zwey <72:> Christen vermengen den Mord mit dem Abendmahl indem sie neben sich die Gesänge aufgeschlagen haben die die Gläubigen singen, wenn sie sich zu dem Schwure vereinigen, dem göttlichen Muster der Geduld und Ergebung zu folgen. – Welcher Wahnsinn bey der Frau, und welcher Mißbrauch seiner Kräfte bey dem Mann! Denn, kann er sich nicht als einen Mörder betrachten, obgleich er die Einwilligung der Unglücklichen erhalten hatte, die er opferte? Giebt der immer nur augenblickliche Wille eines menschlichen Wesens einem Andern das Recht, die ewigen Grundsätze der Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu überschreiten? Man wird einwerfen, er tödtete sich zu gleicher Zeit: aber kann man sich also eine grausame Herrschaft über die Existenz eines Andern anmaßen, selbst wenn man seine eigene opfert?

Und hatte dieser Mann, der sterben wollte, kein Vaterland für das er kämpfen konnte? Gab es keine edle und gefahrvolle Unternehmung in der er ein großes Beyspiel aufstellen konnte? Welches hat er dagegen gegeben? Er rechnete nicht darauf, wie ich glaube, daß das Menschengeschlecht sich einst vereinigt um freywillig das Geschenk des Lebens im Glanz der Sonne niederzulegen; und <73:> dennoch, welche andere Folge kann man aus dem Selbstmord dieser Beyden ziehen, von denen man kein weiteres Unglück kennt, als das, zu leben?

Blieb diesen Treuverbundenen nicht noch vielleicht ein Jahr, ein Tag wenigstens, sich zu sehen und zu hören, und freywillig vernichteten sie dieses Glück? Der Eine konnte die Züge entstellen, aus denen ihm die Gefühle des Wohlwollens lächelten, der Andere konnte wünschen die Stimme nicht mehr zu hören, die jene Gefühle in seiner Brust erweckten? Und alles dieses, was sich kaum durch den Haß erklären ließ, wäre aus Liebe geschehen? Man versichert, daß die vollkommenste Unschuld in ihrem Verhältniß war: aber reicht dieß hin eine so grausame Thorheit zu rechtfertigen? Und welchen Vortheil geben sie durch eine solche Verirrung nicht denen, die den Enthusiasmus als ein Uebel betrachten?

Die wirkliche Begeisterung soll mit der Vernunft übereinstimmen, weil sie die Wärme ist, die sie umgiebt. Kann zwischen zwey, der Seele natürlichen Eigenschaften, die beyde der Ausfluß eines und desselben Brennpunkes sind, ein Wiederstreit bestehen? Wenn man behauptet, die Ver- <74:> nunft ist unvereinbar mit der Begeisterung, so sezt man an die Stelle der Vernunft die kalte Berechnung, und an die der Begeisterung, die Thorheit. Sobald beyde aus der Natur entsprungen und frey von jeder Beimischung von Ueberspannung sind, so liegt Vernunft in der Begeisterung, und diese in jener.

Man erstaunt selbst im Selbstmorde noch Ziererey und Eitelkeit zu finden; was sind diese, schon im Leben so kleinlichen Gefühle in der Ansicht des Todes? Es scheint, daß nichts tief und stark genug ist, um zu dieser schrecklichsten aller Handlungen zu bestimmen. Aber es wird dem Menschen so schwer sich das Ende seines Seyns auf Erden, vorzustellen, daß er selbst an das Grab noch die erbärmlichsten Interessen des Lebens knüpft. Man kann sich in der That nicht enthalten, eine Vereinigung von philosophischer Eitelkeit von der einen Seite, und empfindsamer Ziererey von der andern, in dem doppelten, zu Berlin begangenen, Selbstmord zu finden. Den Abend vorher ehe sie sich das Leben nehmen will, schickt die Mutter ihre Tochter in das Schauspiel, als wenn der Tod einer Mutter von ihrem Kinde als ein Fest betrachtet werden müßte, und man schon in das <75:> junge Herz die falschesten Ideen einer verirrten Einbildungskraft, pflanzen müsse; sie selbst aber schmükt sich mit neuem Putz, wie ein heiliges Opfer. In dem Brief an ihre Familie beschäftigt sie sich mit den kleinsten Umständen der Wirthschaft, um Sorglosigkeit über die That anzuzeigen, die sie begehen wird – Sorglosigkeit, großer Gott, in dem sie über sich selbst gebietet ohne Deinen Willen! Indem sie aus dem Leben in den Tod geht, ohne daß weder Pflicht noch Natur den Abgrund ihr ebnet! –

Der Mann, der bereit ist seine Freundinn zu tödten, feyert ein Fest mit ihr und begeistert sich durch Gesang und Getränke, als fürchte er die Zurückkehr wahrer und vernünftiger Gesinnungen! Gleicht dieser Mensch nicht einem geistlosen Schriftsteller, der durch eine wahre Katastrophe den Eindruck hervorbringen will, den er nicht in der Dichtung erreichen kann?

\1\ Herr von K… und Madame V… zwey Personen deren Charakter sehr geschätzt wurde, reißten von Berlin, ihrem Wohnort, gegen das Ende des Jahres 1811, nach Potsdam. Hier begaben sie sich in einen Gasthof und brachten einige Stunden damit zu, zusammen zu speisen und die Gesänge des Abendmahls zu singen. Alsdann erschoß, mit wechselseitiger Bewilligung, H. v. K… seine Gefährtinn und sich gleich nachher. Mad. V… hinterließ einen Vater, einen Gatten und eine Tochter; H. v. K… war Dichter und verdienter Offizier.

Emendationen
Stimme] Stürme D
Enthusiasmus] Euthusiasmus D
verirrten] versirten D
zu] zu zu D

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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