Christian
Wilhelm Spieker, Familiengeschichten für Kinder.
2 Bde. (Leipzig: Voßsche Buchhandlung 21818 [EA: Dessau, Leipzig:
Georg Voß 1808; Bd. 3, T. 1]), Bd. 2: Die glücklichen Kinder. Ein
Geschenk für gute Söhne und Töchter, 113-145; darin: 138-145
Die Familie Schroffenstein als moralische Erzählung
Indem er noch so redete, kam der Schloßpater, warf sich dem Grafen Sylvester zu
Füßen, und unter Vergießung häufiger Thränen sagte er: o verzeiht, edler Graf,
daß ich ein Geheimniß tief in meiner Brust verschloß, das vielleicht den Ausbruch der
Fehde zwischen euch und Graf Rupert verhindert haben würde, wenn ich es euch
mitgetheilt hätte. Ich weiß, daß man die Vergiftung eures Sohnes allgemein auf Rechnung
des Grafen Rupert setzte, und so sehr ihr auch jede Aeußerung eines so
schändlichen Verdachtes straftet, so hat sich doch diese Meinung unter dem Volke erhalten
und die Erbitterung gegen Rossitz vermehrt. Aldöbern ward ein Opfer seiner
Wuth, Ruperts Rache entbrannte dadurch noch mehr. O, ich Elender, war Schuld an
dieser unseligen Verblendung. Es hat mir jede Freude getrübt, die Ruhe der Seele geraubt.
Länger aber kann ich es nicht tragen. Der Mörder eures Antons bin
ich.
Bei diesen Worten fuhren die
Grafen zurück, und ahneten eine böse That. Nach einer langen Pause fuhr der Pater fort:
Als euer <139:> Sohn krank ward, wollte ich ihm stärkende Arzenei geben,
und aus sträflicher Nachläßigkeit rührte ich ihm statt der Medicin einen Gifttrank
ein. Erst als dieser seine verderbliche Folgen äußerte, ward ich den schrecklichen
Irrthum gewahr, verschwieg ihn aber bis jetzt, aus Furcht vor Bestrafung.
Das Schicksal hat uns
hart mitgespielt, sagte Rupert und es scheint sich Alles verschworen zu haben, um
den Funken des Hasses zur immer verderblichern Flamme anzufachen. Ach und immer erblicke
ich mich als den Schuldigen! Dafür ist mir nun aber auch alle Freude geraubt,
jede Hoffnung mit meinem Ottokar gemordet! Sylvester
suchte ihn zu trösten, und es gelang ihm auch, den unglücklichen Vater durch herzliche
Theilnahme und durch Beweise ungeheuchelter Freundschaft zu beruhigen. Rupert ließ
seine Gemahlin nach Warwand kommen, und Ottokars Leiche ward still und ohne
Prunk zur Erde bestattet. Ueber dem Grabe des Entschlafenen schwuren sich die beiden
Grafen ewige Freundschaft.
Damit das Haus Schroffenstein
nie <140:> wieder durch Zwist in solches Unglück gestürzt werden möchte,
setzte Rupert den Grafen Jeronimus auf Wyk zum einzigen Erben aller
seiner Güter ein, und Sylvester gab ihm seine Tochter Agnes zur
Gemahlin. Rupert blieb noch lange bei Sylvestern, und beide
lebten die übrigen Jahre hindurch in brüderlicher Einigkeit. Es ging kein Tag hin, an
welchem sie nicht zusammen kamen. Die Zeit linderte Ruperts Kummer, und er hatte
noch manche frohe Stunde. Das Spiel mit Jeronimus Kindern erheiterte die Tage
seines Alters. Das Unglück hatte sein Herz weich und milde gemacht. Beide Greise starben,
wie sie es oft in traulichen Stunden gewünscht hatten, in Einem Monate, und das Haus Schroffenstein
blühete noch über ein Jahrhundert.
Seht da, lieben Kinder, fuhr Geronio nach einer kleinen Weile
fort, wie Mistrauen und Neid zwei edle Familien zu Grunde richteten, und Unglück und
Elend um sich her verbreiteten. Beide Häuser hätten in friedlicher <141:>
Eintracht bei einander wohnen und sich das Leben angenehm machen können, wenn sie sich
mit Vertrauen und Freundschaft entgegen gekommen wären. So harte Schicksale mußten Ruperts
wildes Herz erst erweichen! Hätte er Sylvesters edlen und aufrichtigen Sinn
erkannt, und ihn mit Freundschaft aufgenommen, es würde nie so weit gekommen seyn. Aber
der böse Verdacht hatte seine Augen verblendet. Darum, meine lieben Kinder, traget nie
heimlichen Groll im Herzen, sondern wenn ihr etwas gegen Jemanden habt, so sagt es ihm
offen und frei. So kommt es zu gegenseitigen Erklärungen, wir sehn dann oft die Sache in
einem ganz anderen Lichte, erkennen den Irrthum und gehn versöhnt auseinander. Aber wenn
wir den Argwohn in uns verschließen, und ihn Wurzel fassen lassen; dann legen wir in die
unschuldigsten Handlungen des Andern böse Deutungen, und es entspinnt sich daraus die
bitterste Feindschaft. Also offen und frei sey eure Art zu handeln, so dürft ihr
Niemanden scheuen und fürchten, könnt Jedem wohlgemuthet unter die Augen treten, und
erspart euch die Schmerzen später Reue. <142:>
Zugleich kann euch dieses
kleine historische Gemälde einen Vorschmack von dem Genusse geben, den ihr zu erwarten
habt, wenn ihr bei reiferem Alter die Geschichte fleißig studirt. Schon jetzt hört ihr
mit innigem Vergnügen die kleinen Geschichten, die euch der Vater aus Beckers
Weltgeschichte vorlieset; welche Freude wird es euch nun nicht erst machen, wenn ihr alle
die großen Begebenheiten fassen und richtig beurtheilen könnt; wenn ihr die Thaten und
das Leben einzelner Männer und das Schicksal ganzer Staaten gehörig zu würdigen wißt,
und so die ganze Vorwelt, wie ein großes Gemälde, vor den Augen eures Geistes
ausgebreitet seht. O es ist ein köstliches Vergnügen, in dem großen Buche der
Geschichte zu lesen.
Die Kinder dankten Geronio
herzlich, und sprachen noch viel über die erzählte Geschichte. Dann nahm Herr Müller
seine Flöte aus der Tasche, und spielte manches schöne und liebliche Lied, welches die
Kinder mit ihrem Gesange begleiteten. O singt mir doch, lieben Kinder, rief ihnen Geronio
zu, den schönen Abendgesang, den ich euch neulich lehrte, als wir auf dem Bagowschen
Mühlberge so froh <143:> waren und, wie heute, die strahlende Sonne still und
freundlich hinter den ruhigen See sich hinabsenken sahen. Mit Freuden erfüllten die
Kinder die Bitte des geliebten Greises, und zum sanften Ton der Flöte erhoben sie ihre
Stimme und sangen:
Wie geht so klar und munter
Die liebe Sonne unter!
Wie schaut sie uns so freundlich an
Von ihrer hohen Himmelsbahn!
Das ist so ihre Weise,
Sie zeiget still und leise:
Wer flink am Tage Gutes thut,
Dem ist am Abend wohl zu
Muth!
Sie läuft den Weg behende,
Von Anfang bis zum Ende,
Erhellt und wärmt die ganze Welt
Aus ihrem himmlischen Gezelt.
Auf allen ihren Wegen
Ist lauter Licht und Segen;
Dann schließt sie freundlich ihre Bahn,
Und lächelt uns noch einmal
an. <144:>
Jetzt geht sie klar und munter
Am Abendhimmel unter!
Bald aus des Morgenhimmels Thor
Steigt sie mit neuem Glanz
empor.
Drum wallt nur frohen Muthes
Wie sie und thuet Gutes!
Dann schließt ihr fröhlich euren Lauf
Und steht frohlockend wieder
auf.
Unterdeß war Andres mit dem Wagen angekommen, und auch der rüstige Hans
näherte sich in geschäftiger Eile dem Ufer. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne
belebten noch alle Geschöpfe auf der weiten Flur mit Fröhlichkeit und Wohlseyn. Die Roskowsche
Familie nahm Abschied, und mit Leichtigkeit rollte der Wagen dahin. Hans half das
Kaffeegeräth einpacken, legte es mit Vorsicht in den Kahn, und jeder nahm nun seinen
angewiesenen Platz ein. Es herrschte schon friedliche Stille in der ganzen Natur, als sie
in Pevesin ankamen, wo sie der muntere Gesang fröhlicher Mädchen und Knaben des
Dorfs empfing. Geronio erhöhete unserer <145:> glücklichern Familie
den Genuß der letzten Abendstunden dadurch, daß er heute nicht von ihnen schied, sondern
in ihrer Mitte blieb.
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