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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Bernhard Seuffert, Kleist und Luise Wieland, in: Die Grenzboten 1911 IV, 308-315; darin: 310-313

Luise Wieland an Charlotte Geßner, Weimar, 19. 4. 1811

Weimar den 19ten April 1811.

Geliebte Schwester! Innigen Danck für Deinen theuren Brief vom 17 März – wie glückselich machten mich die vielen Beweiße Deiner Liebe und Deines herzlichen Antheils für mein gegenwärtiges und zukünfftiges Wohl und Wehe! – wie gut, ausnehmend gut und vortheilhaft denckst Du von mir, und wie unendlich viel bleibt mir noch zu thun und zu arbeiten übrig um Deine Liebe und das Lob zu verdienen daß Du mir giebst. – O thue Deiner Einbildungskraft Einhalt die so beschäftigt zu seyen scheint Dir Deine Luise so liebenswürdig vorzustellen; wie sehr stehe ich gegen Dein Ideal im Schatten – und wie muß ich bei dieser guten Meinung verlieren, wenn einst unsere Wünsche erfüllt werden uns wieder zu sehen und nach so langer Zeit unserer Trennung zu besitzen. Hast Du niemahls daran gedacht daß ich bedeutende Fehler haben könte die nicht nur mir schaden, auch denen die mit mir leben müssen, und die mit welchen ich Einst leben werde unerfreulich sind und seyen werden? Erst seit zwey Jahren habe ich recht mit Ernst an mir gearbeitet zwey unter ihnen zu beherschen: der eine ist ein Erbtheil der Wielandischen Familie! – der zweyte eine zu große Empfindlichkeit, die mir meine gütigen Eltern nachgesehen haben, weil das zärtliche Kindchen einen <311:> Verweis nicht ertragen konte. In den Jahren wo ich den Vorzug eine so vortreffliche Mutter zu besitzen erst fühlen und schätzen lernte und wo sie mir unentbehrlich wurde, hatten wir das Unglück sie zu verlieren – unser Vater zu sehr beschäftigt, überhaupt von seinen jüngern Kindern im höheren Grad verehrt als geliebt, konte mir ihren Verlust in den nächstfolgenden Jahren nicht ersetzen: und so kam es daß ich mich\1\ als ich in das jungfräuliche Alter trat, die erwachenden Gefühle, meine Freuden und Leiden, mit einen Wort mein ganzes Selbst in mich verschloß; auch die Geschwister verstanden mich nicht oder wollten es nicht. In dieser Zeit in meinen 14 Jahr, wo ich, weil wir auf den Lande lebten [und] wenig oder beinah gar nichts für meine moralische Ausbildung gethan werden konte, also im Ganzen vernachlässigt war; aber völlig phisisch ausgebildet und vieleicht in meinen Äußeren einiges Interesse erregen konte – wiewohl ich keineswegs Schön genant werden kann, wie Du zu glauben scheinst. In dieser für mich, ich glaube für alle jungen Mädchen gefahrvollen Zeit, kam Bruder Ludwig wieder zu uns, und mit ihm sein Freund Heinrich von Kleist den Du auch persönlich kenst. Eine Beschreibung von diesen eignen Sterblichen brauche ich Dir daher nicht zu machen. Dieser Freund eines Bruders den ich liebte machte von den Augenblick an wo ich ihn sah einen Eindruck auf das Herz Deiner ganz unerfahrenen Schwester der noch jetz nach 8 Jahren nicht ganz verwischt ist. Es ist schwehr alle die anscheinenden Kleinigkeiten zu beschreiben die aber alle von so großen Einfluß waren daß er durch die Umstände begünstiget mir glauben machte ich sey wieder geliebt – und ich war zu schwach an ihr zu zweifelen. Ludwig war ernstlich aufgebracht gegen K[leist] und es hat, wie ichs erst spät erfuhr, manchen unangenehmen Wortwechsel zwischen ihnen gegeben. Schwester Amalie haste ihn von ganzer Seele, und dieser Haß war allein hinreichend mich von ihr zu entfernen: Caroline war selbst zu sehr von ihm eingenommen um mich zu beobachten; im Ganzen war das Benehmen aller Drey gegen mich unverzeihlich. Ich hatte Verstand genug die unglücklichen Folgen dieser Leidenschaft zu begreifen wenn sie mir mit Verstand und Theilnahme wären vorgestellt worden, was aber nicht geschah. – Der Vater wuste Anfangs nicht von ihr – wie er sie aber erfuhr hatte sich K[leist] schon auf mein und der Caroline Wunsch entschlossen uns zu verlassen. Er reiste auch würklich ab – und ich blieb zurück! mein Gemüthszustand mußte nothwendig auch auf meinen Körper einigen Einfluß haben da ich ohnehin schwächlich war. Jetz erscheint mir K [leist]s Betragen gegen mich freilich in einen hellern\2\ Lichte; doch wünschte ich nicht daß Du schlimm von ihm dächtest. – Wenn er auch nicht zu den ganz edlen Menschen gehört, die ja ohnehin eine Ausnahme machen, so ist sein Caracter doch gut; und er würde sich dieses Leichtsinns gegen mich nicht schuldig gemacht haben, wenn <312:> er weniger Adeliches Blut (oder vielmehr unadeliches) in seinen Adern hätte. – Bald nach seiner Abreise zogen wir nach Weimar\1\; als ich da ein Jahr still und höchst eingezogen gelebt, aber leider weder Muth und Kraft gehabt hatte etwas mehr zu wollen und zu werden: erschien dieser zauberische Kleist wieder. Noch ganz derselbe liebenswürdige Mensch der durch seinen Geist, dazumahl noch sehr bescheidenen stillen Caracter und Benehmen, so interessant war. Mein Vater empfing ihn als einen alten lieben Freund, und ich mit einer Fassung die ich mühsamm errungen hatte. So erhielt ich mich in dieser Stimmung auch wie ich mit ihm allein war: bis zu seiner Abreise die wenige Tage [später] erfolgte. Nach diesen kurzen Besuch schrieb K[leist] zwey Briefe an Vater die aber unbeantwortet blieben und so haben wir von ihm selbst nichts wieder gehört. Hier hast Du meine Charlotte die kleine Geschichte meiner frühen Liebe die meinen Caracter einen noch ernsthafteren Anstrich gegeben hat als er wahrscheinlich sonst erhalten hätte, weil ich von Natur sehr heiterer Gemüthsart bin, die auch zulezt den Sieg über sie getragen; und was das Beste ist, vor vielen jugend [!] Thorheiten bewahrt hat. Ich weis nicht hast Du Etwas von K[leist] gelesen? ich habe ein Lustspiel von ihm hier aufführen sehen welches aber gänzlich durchfiel\2\. Diesen Winter bekam ich Gelegenheit wieder ein Schauspiel, Käthchen von Heilbronn und 3 Erzählungen von ihm zu lesen. Ich dächte man könte keinen von diesen seinen Werth absprechen, aber es kann sehr viel an alle getadelt werden, so wie viel fehlt bis sie vollendet genant werden könten. Er ist aber einer von den ausgezeignenden [!] Poetischen Genien dieses Zeitalters gegen die aber jeder Vernünftige Mensch viel einzuwenden hat: hauptsächlich daß sie selbst mit ihren Werken so vollkommen zufrieden sind – und gröstentheils die verachten die sich anmaßen ein gescheites Urtheil über sie zu fällen. – Habe die Güte wenn Du mir über diese Eröffnung Deine Gedanken und Gefühle schreibst, sie allein auf ein Papier zu sagen. Dieser Gegenstand ist bei uns schon so verjährt als daß ich wünschen könte ihm beim Vater und besonders bei den Übrigen in Erneuerung zu bringen. – Wenn Du nicht schon ermüdet bist, so folge mir wieder nach diesen kleinen Vorsprung zu der Fortsetzung meiner eignen Beschreibung zu der Du mich nach meinen Gefühl in Deinem Brief aufmunterst – ohne die freimüthigste Mittheilung gegen die die ich liebe möchte ich nicht leben. Also so zurück im allen was zur weiblichen Bildung gehört machte ich nur sehr langsamm Fortschritte, es würde mehr für mich gethan worden seyn wenn es nicht an vielen Mitteln, und mir an Entschluß gefehlt hätte. Wodurch ich mehrere Menschen für mich einnahm weis ich nicht, genug ich wurde geliebt und diese Liebe erweckte vieleicht zum ersten mahl eine Aufmerksammkeit auf mich selbst die mir höchst nothwendig war. Schwester Julie die dazumahl meine einzige Freundin <313:> war, fing ernstlich an zu kränklen, ich muste mich auch auf diesen neuen Verlust gefast machen den wir alle voraussahen. Die Erwartung der Reinholdischen Familie\1\, die Freude des Wiedersehens mit dem Schmerz über meine Julie würkten vereinigt zu gewaltsamm auf mich und sie fanden mich deswegen schwächer als ich sonst war. Durch Reinholds Hierseyn machte ich die Bekantschaft von der Schiller, Griesbachs\2\ und ihre[n] Hausfreundinnen alle so vorzügliche und liebenswürdige Menschen zu denen ich mich sogleich hingezogen fühlte –. So wurde mir ein neuer Genuß des Lebens aufgeschlossen, über den ich leichter die erlebten Leiden verschmerzen konte. Schon früher hatte ich mein[e] angebohrne Schüchternheit durch die zärtlichste Liebe für Dich überwunden und schrieb Dir: – Dein Herzliches ermunterntes Entgegenkommen brach mit einen mahl die Schrancken die zwischen Dir und mir lagen\3\, und ich fühlte mich in Deinen Besitz ganz glücklich! – Gern möchte ich Dir einen klaren anschaulichen Begriff von meiner gegenwärtigen Lage in den Verhältnissen worin ich mit Vater und den wenigen im Haus stehe, geben: mündlich würde es mir eben so leicht werden als es mir schriftlich schwer ist. Wir viere leben ganz verträglich und vergnügt zusammen wie wohl wir mit den einen und andern sehr wenig Berührungspunkte haben, also im Ganzen wenig Einheit und Harmonie herschen kann. Eine jede besitz[t] ihre Eigenthümlichkeit die zusamen einen wunderlichen Contrast bilden der aber den Einzeln mehr nüzlich als schädlich ist. Ein Mittelpunkt ist es immer worinn wir völlig zusammen treffen – er ist die Liebe und der Genuß vereinnigt mit unseren Vater leben zu können, und vieleicht, mehr oder weniger von Einfluß für ihm zu seyn. Aber das beneidenswürdigste Loß hat auch schlimmen Seiten und auch unser gewöhnlich heiterer Himmel hat trübe Wolken die sehr nah an uns vorüberziehen und zuweilen nicht unsanft [lies: sanft] berühren –! Diese Seite ist so zart daß ich über sie nichts weiter zu sagen nöthig habe Du wirst Dich dennoch leicht an unsere Stelle versetzen können. Ich freue mich mit Dir daß ich wie Du vermögend bin den ganzen hohen Werth unseres Vaters zu fühlen und zu erkennen.

\1\ „mich“ ist überschüssig, die Schreiberin ändert die Wendung.
\2\ klarerem ist gemeint, nicht: freundlicherem.
\1\ Osmanstätt ging am 1. Mai 1803 an seinen neuen Besitzer über.
\2\ Die Weimarer Aufführung des „Zerbrochenen Krugs“.
\1\ Den Sommer 1809 verbrachte Reinhold, Professor in Kiel, mit seiner Frau Sophie Luisens ältester Schwester, in Weimar.
\2\ Der Kirchenrat und seine Frau in Jena.
\3\ Charlotte war ihrem Gatten Geßner 1795 nach Zürich gefolgt, also zu einer Zeit, da Luise sechs Jahre alt war.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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