Hans Joachim Schoeps,
Aus den Jahren preussischer Not und
Erneuerung. Tagebücher und Briefe der Gebrüder Gerlach
(Berlin: Haude & Spener 1963), 430-434
Friedrich Meier an Wilhelm v. Gerlach, Dresden, 9./13. 6. 1808
Dresden,
den 9. Juni 1808
Deine Schilderung
der Abendgesellschaft bei Schleiermacher hat mich sehr amüsiert
und die nachfolgende schändliche Geschichte\142\ ebenso empört als Euch wahrscheinlich
beim Dabeisein. Ich sage das Euch, denn ich will doch von
<431:> Leopold hoffen, daß er diesen infamen Menschen
nicht wieder in Schutz nehmen und so wenig daran finden wird
als an der Marautzschen Geschichte. Ich begreife Euch nur
nicht, wie ihr bei einer so empörenden Niederträchtigkeit
habt Zeuge sein können, ohne Euch drein zu mischen und durch
Wort und Tat euren Abscheu gegen so einen eklen Menschen an
den Tag zu legen, ja nachher noch weiter mit ihm zu gehen,
wohl gar nach wie vor Euch freundlich mit ihm grüßen; doch
das letztere erwarte ich von Dir wenigstens nicht. Ich bin
überzeugt, ich würde mich nicht haben zurückhalten können;
ich hätte Teil genommen, obgleich ich, da ich nicht in der
Lage bin, nicht sagen kann, auf welche Art. Elender aber kann
wohl eine Sache nicht enden, die so schändlich angefangen,
und man kann es gar nicht klassischer ausdrücken als Du es
getan hast. Nun, Focke wollte sich dann den Tag darauf nicht
mehr schießen pp. Es ist aber wirklich eine abscheuliche Lage.
Feigheit ist es nicht bei mir, das fühle ich deutlich, denn
ich könnte mich gleich mit einem ordentlichen Menschen, der
mich beleidigt hätte, schießen; aber es hat etwas Empörendes
für mich, und alle meine Gefühle lehnen sich dagegen auf bei
mir, einen solchen Menschen wie diesem niederträchtigen Varnhagen
(laß ihn doch stets mit diesem Namen von uns genannt werden,
wenn wir ihn überhaupt nennen) mich gegenüberzustellen, um
mich mit ihm zu schießen und ihn somit zu behandeln wie einen
ordentlichen Menschen. Als ein würdiges Instrument erscheint
mir hier mit einem Male die akademische Hetzpeitsche, und
es ist schade, daß diese elende nicht öfter an einen Borries
gerät, der bereit ist, sie ihm anzubieten. Ich könnte einen
Haß auf Deinen Bruder werfen, wenn er nach dieser Geschichte
noch mit Varnhagen umgegangen wäre. Sehr wohl hat mir Schleiermachers
Benehmen danach gefallen, allein wie paßt sich seine freundliche
Unterhaltung auf dem Picknick dazu? Ich kann mir nicht helfen,
das zeigt eine geringe Würdigung dieses Vorfalles, einen Mangel
an moralischem Gefühl und Gesinnung
Ich
begegnete damals abends einem hiesigen jungen Künstler namens
Naecke\143\, von
dem ich Dir vielleicht sonst schon erzählt habe; doch da ich
dies nicht gewiß weiß, so will ich, da er vielleicht in meinen
Briefen oft vorkommen wird und damit ich ihn geradezu einführen
kann, und Du weißt, weß Geistes Kind er ist, so will ich Dir
vorläufig weniges zur Kenntnis seiner sagen. Es ist dies ein
junger Mensch von etwa 21 Jahren, nach meiner Einsicht
bei weitem der talentvollste und geistreichste von allen jungen
und alten hiesigen Künstlern. Ich glaube, ich habe Dir schon
damals von einer von ihm gemalten Skizze aus Goethes Faust
erzählt, die Szene vorstellend, wo Faust und Gretchen und
Mephistopheles und Marthe im Garten spazieren und den Moment,
wo Gretchen die Sternblume zerpflückt. Dies und mehrere andere
Skizzen zeigte mir schon damals ein vor allen anderen sich
auszeichnendes Talent, durch seine jetzigen Arbeiten aber
sehe ich immer mehr, daß er ein vortrefflicher Künstler werden
wird und schon ist. Er hat ein kleines Bild gemalt, eine heilige
Familie, das <432:> ganz herrlich ist. Beschreiben hilft
Dir weiter nichts, ich hoffe, daß ein Umriß davon zum Phöbus
kommen wird
Ich sehe und treffe zwar oft und zum Überdruß viele Bekannte
und vorzüglich junge Künstler; dieser Naecke aber ist fast
mein einziger und liebster Umgang. Wir treffen uns gewöhnlich
abends auf Spaziergängen. Daß er außerdem noch mehr zu mir
paßt als alle andere hiesigen jungen Künstler, ist, daß er
auch in Hinsicht der Literatur sehr gebildet ist und durchaus
einen geläuterten Geschmack hat, zur Bezeichnung in dieser
Hinsicht für Deinen Bruder, dem ich dies mitgeteilt wünsche,
ist genug, wenn ich sage, es ist auch einer, dessen Tendenz
die neuere Ästhetik\144\ ist. Diesen also treffe ich abends an dem Tage
nebst seinem Bruder; beide hatten eben den neu herausgekommenen
vollständigen Faust von Goethe gelesen und waren so voll davon,
und so enthusiasmiert davon, daß sie mich mit einer ungeheuren
Unruhe und Begehrnis entzündeten; wenn noch Buchhandlungen
offen gewesen wären, ich hätte es mir für einen Speciesthaler
gekauft. Glücklicherweise konnten sie es mir noch an dem Abend
verschaffen und ich ging um zehn Uhr damit nach Hause. Ich
las sehr lange darin, am Ende überwältigte mich aber die Müdigkeit
doch, ich schlief ein; wachte wieder auf, wusch meine Pinsel,
und wurde dadurch wieder so munter, daß ich das Ganze noch
auslesen konnte. Am anderen Morgen, Freitag, wachte ich erst
um sechs Uhr auf, ich las den Faust aber sogleich noch einmal
ganz durch, weil ich ihn dann abgeben mußte. Er versetzte
mich aber in eine solche Unruhe, daß mir der ganze Tag verdorben
war, und ich fast gar nicht ordentlich arbeiten konnte. Zu
meinem Urteil darüber bin ich jetzt nicht aufgelegt, zumal
da ich nicht weiß, ob Du ihn schon gelesen hast. Nur soviel,
daß er mir durchaus nicht ganz gefällt, daß ich aber vieles
sehr herrlich groß und schön darin finde. So ging mir ein
Abend und ein Morgen fort an denen ich hätte an Dich schreiben
können, und es auch wollte, ja mehrere, denn es verhinderte
mich durch die nachgebliebene Stimmung und Ideen länger daran.
Heut früh war es nun ganz fest bestimmt. Aber gestern abend gehe ich am Schluß meines Spazierengehens
um neun Uhr zu dem Herrn von Pfuel\145\
und seiner Frau, die Du kennst dem Namen nach durch mich,
der vor dem Tore auf dem Wege nach dem Linkeschen Bade wohnt,
und finde bei ihm das vierte Heft vom Phöbus, welches ich
schon so lange sehr gern zu sehen gewünscht hatte; er lieh
es mir, und ich las abermals gestern abend von zehn Uhr bis
nach ein Uhr (es sind zwei einen halben Finger starke Hefte
in Quart) es ganz durch und sogleich noch einmal heute früh,
und eben las ich wieder mit großem Vergnügen drin. Ich bitte
Dich, wenn Du es noch nicht gelesen hast, such es zu bekommen,
es sind ganz herrliche Sachen darin. Vorzüglich und vortrefflich
finde ich zwei Fragmente von Kleist\146\;
ich habe, ich weiß nicht wodurch eine sehr unvorteilhafte
<433:> Meinung von diesem Kleist gehabt und ging mit
dem Vorurteil dagegen an die Lektüre; allein nicht allein,
daß es mir gefiel, sondern ich wurde enthusiastisch davon
ergriffen, und noch jetzt, da ich nicht lese, glaube ich,
daß dieser Kleist ein außerordentlicher Geist ist, von dem
große Dinge zu erwarten sind.
13. Juni
Nachmittag 1½ Uhr
Neulich war Raumer\147\ hier. Er kam von Freiberg hierher, um Friedrich
Schlegels Bekanntschaft zu machen und war nur einen Tag hier.
Ich kann Dir nicht sagen, welche unangenehme Empfindung es
mir machte, als ich ihn auf der Galerie sah und ihn bewillkommen
und küssen mußte; es war mir wie ein Judaskuß, ich dachte
immer, es wäre schändlich von mir, daß ich ihn mit solcher
Gesinnung, als ich gegen ihn hatte, küßte. Er war ganz unbefangen;
kaum konnte ich eine kurze Antwort geben, als er sich nach
meinen drei Brüdern insgesamt erkundigte. Er billigte es sehr,
daß mein Bruder von Berlin nach Bremen gegangen sei, weil
Berlin eine solche abscheuliche Stadt sei. Ich ließ ihn bei
diesem Grund und brach ab. Er sagte, er hätte jetzt auch nach
Berlin hinkommen sollen, er habe es aber von sich abgehalten.
Es war mir wahrhaft angenehm, als er sagte, daß er sogleich
wieder abreiste und nun nach Paris ginge, weil ich nun sicher
bin, daß ich ihn recht lange nicht wieder treffe, da es mir
wirklich peinlich ist, mit ihm zusammen zu sein. Ich konnte
ihm die ganze Zeit über nicht in die Augen sehen, als hätte
ich kein gut Gewissen. Friedrich Schlegel hat
sich mit seinem Bruder und der Madame Staël hier getroffen;
diese ist nur acht Tage hier gewesen, Friedrich aber wohl
14 Tage und gestern nach Wien abgereist\148\.
Ich sah die Staël auf der Galerie. Sie kam mit einem großen
Gefolge hinaus und es waren viele Leute da, um sie zu sehen.
A. W. Schlegel war bei ihr, die Art, wie er empfing,
machte einen üblen Eindruck; er sah ganz und gar französisch
aus; in weißseidenen Strümpfen und Schuhe mit ziemlich großen
goldenen Schnallen und einem feinen dreieckigen französischen
zusammengelegten Hut, mit dem er immer auf die Bilder wies,
was sich sehr übel machte. Sie ist eine große Frau, ungefähr
in den 40igern, ziemlich stark, eine Schulter ist schief nach
hinten herausstehend; das Gesicht weiß ich nicht weiter zu
bezeichnen, sie ist nicht hübsch, nicht häßlich, ziemlich
blühende Farbe, ganz schwarzes Haar; Du machst Dir doch einen
ganz falschen Begriff, wenn Du sie nicht gesehen hast. Schlegel
schien sehr vertraut mit ihr, denn er trat ihr immer ganz
nah auf den Leib, faßte sie am Arme pp. Auch Böttiger\149\ befand sich in ihrem Gefolge; es war aber sehr
lächerlich zu sehen, wie er gedehmütigt schweigend nebenher
gehen mußte, ohne Bilder erklären zu können, denn niemand
hörte auf ihn; der französische Gesandte war auch mit der
Staël. Friedrich Schlegel gefällt mir im Äußeren viel besser
als der Bruder. Er ist nicht sehr groß und fast sehr stark,
<434:> was mir sehr auffiel, da ich mir ihn lang und
dünn gedacht hatte. Er hat ein für mich sehr angenehmes Gesicht
und schwarzes Haar. Beide trugen Brillen, sodaß ich die Augen
nicht genau sehen konnte. A. W. habe ich nur noch einmal
auf der Galerie gesehen, da sah er denn deutscher aus, im
runden Hut und ohne goldene Schnallen. Die Staël ist über
Leipzig nach Weimar gereist. A. W. nach Hannover, und
Friedrich nach Wien
Es
bleibt nun nur noch, daß ich Dir sage, was ich so außer meiner
Arbeit treibe. Ich lese alles durcheinander; sehr viel in
der Bibel, sogar im griechischen Neuen Testament; bald Homer;
aber vorzüglich in der Odyssee fehlen mir ungeheuer viele
Worte und ich kann meine Faulheit nicht zum Aufschlagen zwingen.
Jetzt lese ich auch wieder den Vasari, aber auch bloß ratend
ohne Aufschlagen.
\142\ Es handelt
sich um ein beabsichtigtes Pistolenduell zwischen Varnhagen
und Focke, bei dem Schleiermacher auf die Seite des letzteren
getreten war; vgl. auch Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten
des eigenen Lebens II, Leipzig 1871, 97ff.
\143\ Gustav
Heinrich Naecke (1785-1833); über ihn ADB 52, 582.
Naecke hat Bilder zum Faust und Egmont gemalt, die Goethe
gefallen haben; vgl. R. Benz: Goethe und die Romantische
Kunst, München 1940, 175.
\144\ Bücher,
deren Tendenz die neuere Ästhetik ist hatte ein Leihbibliothekar
eine Abteilung seines Katalogs überschrieben. Dies wurde im
Freundeskreis zum geflügelten Wort und zum Anlaß mancher Scherze.
\145\ Der Freund
Heinrich v. Kleists, später General und Ministerpraesident
von 1848.
\146\ Es handelt
sich um das Fragment des Robert Guiskard.
\147\ Gemeint ist
der Mineraloge Carl von Raumer, später Professor in Erlangen.
\148\ Friedrich
Schlegel war auf dem Wege nach Wien, um zum Sekretär an der
Hofkanzlei ernannt zu werden. Vgl. P. de Ponge:
A. W. Schlegel und Frau von Staël, Hamburg 1941,
167.
\149\ K. A. Böttiger,ein
als Pedant bekannter Dresdener Archäologe und Kunstsachverständiger,
von Tieck in seiner Satire Der gestiefelte Kater
persifliert.
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