Erich Schmidt (Hrsg.), H. v. Kleists Werke. Im Verein mit Georg
Minde-Pouet und Reinhold Steig, 5 Bde. (Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut
[1904/05]), Bd. 5, 466-468
Wilhelmine v. Zenge an Heinrich v. Kleist, Frankfurt (Oder),
10. 4. 1802
Frankfurth am 10ten Aprill 1802
Mein lieber Heinrich. Wo Dein jetziger Aufenthalt ist, weiß ich zwar nicht bestimmt,
auch ist es sehr ungewiß ob das was ich jetzt schreibe Dich dort noch treffen wird wo ich
hörte daß Du Dich aufhältst; doch ich kann unmöglich länger schweigen. Mag ich auch
einmal vergebens schreiben, so ist es doch nicht meine Schuld wenn Du von mir keine
Nachricht erhältst. Über zwei Monate war Deine Familie in Gulben, und ich konnte auch nicht einmal durch sie erfahren ob Du
noch unter den Sterblichen wandelst oder vielleicht auch schon die engen Kleider dieser
Welt mit bessern vertauscht habest.
Endlich sind sie wieder hier, und, da ich schmerzlich erfahren habe;
wie wehe es thut, gar nichts zu wissen von dem was uns über alles am Herzen
liegt so will ich auch nicht länger säumen Dir zu sagen wie mir es geht.
Viel Gutes wirst Du nicht erfahren. <467:>
Ulricke wird Dir geschrieben haben daß ich das Unglück hatte, ganz
plötzlich meinen liebsten Bruder zu
verlieren wie schmerzlich das für mich war, brauche ich Dir wohl nicht zu
sagen. Du weißt daß wir von der frühesten Jugend an, immer recht gute Freunde waren und
uns recht herzlich liebten. Vor kurzen waren wir auf der silbernen Hochzeit unserer Eltern
so froh zusamen, er hatte uns ganz gesund verlassen, und auf einmal erhalten wir die
Nachricht von seinem Tode Die erste Zeit war ich ganz wie erstarrt, ich
sprach, und weinte nicht. Ahlemann, der während
dieser traurigen Zeit oft bei uns war, versichert, er habe sich für mein starres Lächeln
sehr erschreckt. Die Natur erlag diesem schrecklichen Zustande, und ich wurde sehr krank.
Eine Nacht, da Louise nach dem Arzt schickte weil ich einen sehr starken Krampf in der
Brust hatte, und jeden Augenblick glaubte zu ersticken, war der Gedanke an den Tod mir gar
nicht schrecklich. Doch der Zuruf aus meinem Herzen es werden geliebte Menschen um
dich trauern, Einen kannst Du noch glücklich machen! der belebte mich aufs
neue, und ich freute mich daß die Medezin mich wieder herstellte. Damals! lieber
Heinrich, hätte ein Brief von Dir, meinen Zustand sehr erleichtern können, doch
Dein Schweigen vermehrte meinen Schmerz. Meine
Eltern, die ich gewohnt war immer froh zu sehn, nun mit einemal so ganz niedergeschlagen,
und besonders meine Mutter immer in Thränen zu sehn das war zu viel für
mich. Dabei hatte ich noch einen großen Kampf zu überstehn. In Lindow war die Domina
gestorben. Und da man auf die älteste aus dem Kloster viel zu sagen hatte, und ich die
zweite war konnte ich erwarten daß ich Domina werden würde. Ich wurde auch
wirklich angefragt, ob ich es sein wollte, Mutter redete mich sehr zu, da dieser Posten
für mich sehr vortheilhaft sein würde, und ich doch meine Zukunft nicht bestimmen
könnte. Doch der Gedanke in Lindow leben zu müssen (was dann nothwendig war) und
die Erinnrung an das Versprechen was ich Dir gab, nicht da zu wohnen, bestimmten mich, das
Fräulein von Randow, zur Domina zu wehlen,
welche nun bald ihren Posten antreten wird. Bedauerst Du mich nicht? ich habe viel
ertragen müssen. Tröste mich bald durch eine erfreuliche Nachricht von Dir, schenke mir
einmal ein paar Stunden und schreibe mir recht viel.
Von Deinen Schwestern höre ich nur daß Du recht oft an Sie schreibst, höchstens noch den Nahmen Deines
Auffenthalts, Du kannst Dir also leicht vorstellen wie sehr mir verlangt etwas mehr von Dir
zu hören. Panwitzens sind sehr glücklich. Ich
habe mich aber sehr gewundert daß Auguste als Braut so zärtlich war, da sie sonst immer
so sehr dagegen sprach, doch es läßt sich nicht gut, über einen Zustand urtheilen den
man noch nicht erfahren hat.
Freuden giebt es jetzt für mich sehr wenig unsere
kleine Emilie macht mir zuweilen frohe Stunden.
Sie fängt schon an zu sprechen, wenn ich frage was macht Dein Herz? so sagt
sie ganz deutlich mon coeur palpite, und dabei hält sie die rechte Hand aufs
Herz. Frage ich wo ist Kleist? so macht sie das Tuch von einander und küßt
Dein Bild. Mache Du mich bald froher durch einen
Brief von Dir ich bedarf es sehr von Dir getröstet zu werden.
Der Frühling ist wieder gekehrt, aber nicht mit ihm die frohen
Stunden die er mir raubte! Doch ich will hoffen!! Der Strom der nie
wiederkehrt führt durch Klippen, und Wüsten endlich zu fruchtbaren schönen Gegenden,
warum soll ich nicht auch vom Strome der Zeit erwarten, daß er auch mich endlich
schönern Gefilden zuführe? Ich wünsche Dir recht viel frohe Tage auf Deiner Reise, und
dann bald einen glücklichen Ruhepunkt. <468:>
Ich habe die beiden Gemälde von L und ein Buch worin Gedichte
stehn in meiner Verwahrung. Das übrige von Deinen Sachen hat Dein Bruder. Man glaubte
dies gehörte Carln und schickte mir es heimlich zu.
schreibe recht bald an Deine Wilhelmine.
Minde-Pouets Vorlage ist das Autograph im Besitz von Alexander Meyer
Cohn; seit 1929 ist die Handschrift verschollen. Auf dem zugehörigen Umschlag, mit
schwarzem Zengeschen Siegel, lautet die Adresse: A Monsieur de Kleist ci-devant
lieutenant dans les gardes prussiennes à Thun en Suisse, poste restante.
Erstdruck: Karl Biedermann, Aus Heinrich von Kleists Lebens- und
Liebesgeschichte. Ungedruckte Briefe des Dichters, in: Nord und Süd 23 (1882), 120f.
Ediert in BKA IV/2, 547-549.
Gulben] Gut der Familie v. Pannwitz
Bruder] Karl v. Zenge
Ahlemann] Ernst Heinrich Friedrich A.
Schweigen] lt. Überlieferung seit Kleists
Brief aus Frankfurt am Main vom 2. 12. 1801.
Fräulein von Randow] Charlotte v. R.,
Tochter des 1785 als Capitaine und Flügeladjutanten verstorbenen Herrn von Randow
aus dem Hause Zabakub (Paul Hoffmann, Zu den Briefen Heinrichs von Kleist,
in: Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte 3 [1903], 332-366; hier: 353); 1802 bis
zu ihrem Tod 1815 Domina des weltlichen Fräuleinstiftes Lindow.
recht oft an Sie schreibst] die Überlieferung
spricht eher für die von Karl Biedermanns Erstdruck vertretene Lesart nicht
oft; aus der Zeit seit 12. 12. 1801, Kleists Ankunft in Basel, sind an
Briefen an Familienmitglieder lediglich vier Briefe (16. 12. 1801; 12. 1.,
19. 2. und 18. 3. 1802) an Ulrike v. Kleist bekannt geworden.
Panwitzens] das frischvermählte Ehepaar Wilhelm
v. Pannwitz und Auguste v. Kleist; Kleists Vetter und seine Schwester heirateten
am 14. 1. 1802.
Emilie] Wilhelmine v. Zenges jüngste Schwester
Bild] das in Berlin von Peter Friedel gemalte
Miniaturporträt, das Kleist am 9. 4. 1801 an Wilhelmine schickt; angekündigt
in den Briefen vom 22. 3. 1801 (Mein Bild schicke ich Dir, und Deines
nehme ich mit mir.) und vom 28. 3. 1801 ([
] indem ich schon in
einer Stunde zu dem Maler gehen [
] muß, [
]).
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