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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 413-416

Am Grabe Kleists


Die neuere Geschichte von Kleists Grab ist bekannt, ebenso die Namen der Männer und Vereinigungen, die sich darum bemüht haben. Nur einige wenige Pressestimmen seien angeführt. Grimms Aufsatz fand eine verschiedene Aufnahme. Die „Zeitung für Norddeutsche“ (1862 Nr. 4021) druckt im wesentlichen den Aufsatz aus der Vossischen Zeitung über den Zustand des Grabes ab und fordert die Leser zur Beteiligung an der Sammlung auf. Hingegen polemisiert die „Süddeutsche Zeitung (1862 Nr. 123) gegen die Mitteilungen in der Vossischen Zeitung über den Zustand des Grabes und behauptet, daß etwa seit einem Jahre der unwürdige Zustand des Grabes nicht mehr bestehe, und daß der Prinz Friedrich Karl sehr gut dafür gesorgt habe. – Mit der Sorge um das Grab tritt auch bald die Frage nach einem Denkmal für Kleist in der Presse auf. In einem am Todestage, den 21. XI. 1868, veröffentlichen Aufsatz der Neuen Freien Presse heißt es bei einer Besprechung von Kobersteins Würdigung des Dichters in der eben erschienenen IV. Auf- <414:> lage seiner Literaturgeschichte: In Berlin ist ein ganzer Markt von Denkmälern für preußische Feldherren errichtet – der größte Dichter Preußens aber wird einer gleichen Ehre nicht gewürdigt.

Wir stehen am Grabe Kleists und überblicken in wehmutsvoller Erinnerung sein Lebensgeschick, das am treffendsten gekennzeichnet ist durch Hebbels Worte:

An Kraft sind wenige ihm zu vergleichen,
An unerhörtem Unglück, glaub’ ich, keiner.

Die Tragödie Kleists ist nicht beendet mit seinem Tode, der bald ein Jahrhundert hinter uns liegt. Wieviel ist gesündigt worden gegen den Menschen, wie arg ist sein Genie noch nach dem Tode mißhandelt worden! Ein beträchtlicher Teil seines Lebenswerkes muß als verloren gelten. Ganz abgesehen von dem, was nur angedeutet, nur vermutet werden kann, so fehlt uns von den reichen Gaben, die dokumentarisch belegt sind: „Die Geschichte meiner Seele“, Gedanken und Fragmente, patriotische Gedichte, die einen ganzen Band füllen sollten, ein umfangreicher Roman in zwei Bänden und noch manches andere. Die nächsten Freunde sind unverzeihlich mit Kleists geistigem Erbe umgegangen. Und die Bühnenwerke Kleists haben, wenigstens in der Originalfassung, nur unter schweren Kämpfen teilweise oder ganz allmählich die Bühne sich erobern können. Deutschland ist ein Shakespeare erstanden, den es achtlos hat zugrunde gehen lassen, ein Dichter von genialer Gestaltungskraft, wie das folgende Jahrhundert seinesgleichen nicht wieder gesehen hat. Es scheint, daß Kleists Wort in Erfüllung gehen soll, nach dem erst ein Jahrtausend später uns den Dichter bringen wird, welcher sein Kunstideal verwirklicht. Je mehr wir die ganze Größe dieses nicht ersten aber genialsten Dramatikers erfaßt haben, je mehr sich sein Lebensbild, wenngleich vorläufig nur <415:> schattenhaft, aus dem dichten Gestrüpp entstellender Legenden, falscher Auffassungen, tendenziöser Entstellungen abzuheben beginnt, desto größer erscheinen uns die Sünden und Vergehungen nicht verflossener Jahrzehnte, sondern gerade unserer Zeit. Frühere Zeiten handelten aus Unverstand und Kurzsichtigkeit, aber wer kann es heut verantworten, wenn Kleists Werken zum Teil noch die Stätte verschlossen ist, von der sie allein eine volle Wirkung ausüben können, die Bühne? Noch sind die Bühnenwerke Kleists zum großen Teil vom deutschen Repertoire ausgeschlossen. Das mag man hingehen lassen, soweit es sich um die Schroffensteiner handelt, über die der Dichter selbst verächtlich urteilte; das mag man noch begreifen beim Amphitryon, der trotz seiner vollendeten dramatischen Technik immer nur einer ausgewählten Gemeinde und ersten Bühnen vorenthalten bleibt –, aber wie läßt sich die Sünde unserer Zeit und unseres Theaters entschuldigen, das der Mitwelt noch immer die Penthesilea vorenthält, nachdem nunmehr die verstiegendsten pathologischen Deutungen und das klassizistische Vorurteil verstummt sind gegen dieses inkommensurable, einsame Werk. Kleist selbst, das ist die billige Entschuldigung, soll sich gegen die Aufführung und die Aufführungsmöglichkeit ausgesprochen haben. Das ist ebensowenig im Geleitbrief zum ersten Phöbusheft an Goethe noch sonstwo geschehen. Kleist wußte wohl, daß zu seiner Zeit die Bühne „weder vor noch hinter dem Vorhang“ so beschaffen war, um eine Aufführung zu ermöglichen, aber aus Kleists Worten spricht immerdar die Zuversicht, daß Schauspieler wie Publikum dereinst seiner Penthesilea gerecht werden, und daß sie festen Fuß fassen werde auf der Bühne. Was alles Kleists Zeitgenossen an dem Menschen und die folgenden Jahrzehnte an dem Dichter gesündigt haben mögen, es reicht nicht heran an den Indifferentismus unserer Zeit, die Bühnenschwierigkeiten technischer Natur kaum noch kennt, die mit seltener Experimentierlust an die sonderlichsten dramatischen Produkte herangeht und an das Lampenlicht zerrt, was der Dichter <416:> selbst nur für das unsichtbare Theater geschrieben, und die doch achtlos vorübergeht an dem rauschenden Schwung eines Dramas, in das der genialste dramatische Dichter sein innerstes Wesen hineingelegt hat, den ganzen Schmerz zugleich und den Glanz seiner Seele. Das deutsche Volk kann verzichten auf einen in Marmor gehauenen Kleist, gleichgültig, ober er unter den Linden aufgestellt wird oder auf dem Harz, von wo herab der Dichter mit einer Stimme von Erz den Deutschen seine Lieder absingen wollte, aber das deutsche Volk müßte es als eine nationale Schmach empfinden, wenn der hundertste Todestag anbrechen sollte, ohne daß das Drama Kleists, seine Amazonenkönigin, Besitzstand des Theaters und der Allgemeinheit geworden wäre.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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