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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 400-407

Kleists Tod


Sauer bedauert, daß der religiöse Standpunkt Kleists noch nicht zum Gegenstand eingehender Untersuchung gemacht worden ist. Wollen wir in dieser Frage Klarheit gewinnen, so müssen wir die in den beiden erwähnten Lebensphasen auftretende Neigung zur mystischen Schwärmerei als das auffassen, was sie ist, und als was ich sie eben gekennzeichnet habe, als Symptome heftiger seelischer Erschütterungen. Die periodisch auftretende religiöse Schwärmerei würde an sich, auch wenn wir keine weiteren Belege hätten, nach der Analogie zahlreicher moderner Geister den Rückschluß gestatten, daß Kleist ein religiöser Freigeist war, der dem Christentum gegenüber einen durchaus unabhängigen Standpunkt einnahm. Dafür finden wir Belege fast auf jeder Seite seiner Briefe. Seine Auffassung vom Selbstmord, nach welcher der Mensch das Recht hat, frei über sein Leben zu verfügen, seine Notiz an Ulrike, daß dem Menschen etwas heilig sein müsse, daß er aber wie seine Schwester sich frei gemacht habe von den Zeremonien der Religion, seine Bemühungen, die offenbar streng religiös erzogene Wilhelmine zu freieren Anschauungen vorsichtig zu erziehen und unabhängig zu machen von allen kleinlichen <401:> religiösen Bedenken und Zeremonien – alles spricht dafür, daß Kleist schon von Jugend an, wohl unter dem Einfluß seines Lehrers Wünsch einen unabhängigen, freigeistigen Standpunkt dem Christentum gegenüber einnahm. Seine Religion und seine ethische Anschauung ist: der Mensch hat die Pflicht, sich schon auf dieser Welt bis zur höchsten Vollendung zu entwickeln, sich um das künftige Leben nicht zu kümmern; er hat die Bestimmung seines irdischen Daseins zu erfüllen (Würzburg 16. IX. 1808); er soll sich über sein Schicksal erheben und sein Schicksal selbst leiten lernen. Die Anschauung seiner Jugendjahre kommt mit besonderer Schärfe und Klarheit zum Ausdruck in den Worten des Prinzen von Homburg:

Eine neue Sonne – sagt man – scheint auch dort,
Und über buntre Felder noch als hier:
Ich glaub’s, nur Schade, daß das Auge modert,
Das diese Herrlichkeit erblicken soll.

Man hat es niemals genug gewürdigt, daß schon Kleists Stellung zum Christentum jede tiefere und innere Gemeinsamkeit mit den Romantikern ausschließt, daß seine freigeistige Auffassung in religiösen Fragen jede Kampfesgemeinschaft mit dem streng orthodoxen Adam Müller gradezu unmöglich erscheinen läßt. Wie Kleist unter den Romantikern überhaupt als ein durchaus klassisches Naturell erscheint, so hat auch Kleists Christentum etwas ausgesprochen Hellenisches.
Fassen wir kurz das zusammen, was ich im vorausgehenden klarzulegen versucht habe. In dem Lebensideal, das sich Kleist in früher Jugend entworfen, spielt das Verlangen nach einer Frau, die Sehnsucht nach Kindern den hervorstechendsten Zug; es ist das Herzensbedürfnis, das in allen möglichen Variationen immer von neuem offen zum Ausdruck kommt; die Sehnsucht nach Ruhm und Anerkennung tritt dagegen ganz erheblich zurück. Kleists Lebensideal, sein höchstes Ziel war vernichtet, als seine große Liebe ihm die schwerste Enttäuschung brachte. Kleist besaß einen ungewöhnlichen Freundschafts-Enthusiasmus, wie er nicht bloß in den Briefen, sondern <402:> auch in seinem tatsächlichen Verhalten zu den Freunden zum Ausdruck kommt. Mit diesem maßlosen Enthusiasmus opfert er nach allen Enttäuschungen sein Liebesbedürfnis einer Frau, mit der ihn neben dem Gefühl der Dankbarkeit seit früher Jugend sicherlich ein inniges Verhältnis verband. Ob und wieviel Leidenschaft dieses Verhältnis einschloß, das zu erörtern halte ich für überflüssig; es ist für das psychologische Verständnis gleichgültig. Maßgebend für die Beurteilung und die Bewertung dieses Freundschaftsbundes, wie des zwischen Lenau und Sophie ist der Umstand, daß ihm das Gelübde ehelicher Treue (sexuelle Abstinenz) zu Grunde lag. Das lesen wir aus Lenaus Briefen, und ohne diese Voraussetzung sind die letzten Äußerungen Kleists an Marie unverständlich. Nichts empfindet Kleist peinlicher, als daß Marie in dem Anschluß an die Vogel einen Treubruch vermuten könnte.
Zu Marie, welche sicherlich mehr die gebende und leitende war, gesellte sich in der letzten Zeit eine neue Freundin, die empfangende, die Schülerin, die dem stark ausgesprochenen erzieherischen und belehrenden Bedürfnis Kleists entgegenkam. Dieses Freundschaftsverhältnis, in dem Kleist einen Ersatz für die Liebe suchte, war eine große Selbsttäuschung, es konnte auf die Dauer an seinem so ungewöhnlich empfindlichen Nerven- und Seelenleben nicht spurlos vorübergehen und in sehr richtiger Erkenntnis schrieb er an Maria in den letzten Lebenstagen: ja, es ist wahr, ich habe Dich hintergangen, oder vielmehr ich habe mich selbst hintergangen. Sein Gemütsleben, das bisher den schwersten Stürmen getrotzt hatte, kam aus dem Gleichgewicht, und als der Ehemann der Vogel mit Forderungen an ihn herantritt, als er sich definitiv für die eine oder die andere Freundin entscheiden mußte, war er dem Gewissenskonflikt nicht mehr gewachsen. Eine so feige, charakterlose Entscheidung, wie in Lenaus Konflikt zwischen Marie Behrends und seiner Freundin Sophie war bei Kleist ausgeschlossen, er verliert den Lebensmut und geht in den Tod. <403:>
Was meine Auffassung vom Selbstmord Kleists unterscheidet von der, die Erich Schmidt und auch andere vertreten, das ist, daß von ihnen äußere Umstände: die Erfolglosigkeit des Dichters, die Lebensnot, die Verzweiflung am Vaterland, Familienzwist in den Vordergrund gestellt werden, während nach meiner Auffassung die Vita sexualis den Untergrund bildete jener seelischen Verstimmung, welche die eigentliche Ursache des Todes bedingte. Das ist ein Motiv, das man ungern berührt, aber die Psychologie kann sich an solche Empfindsamkeiten nicht kehren. Was beweisen denn solche Schlagworte, wie dichterische Erfolglosigkeit, Lebensnot und ähnliche! Über die Schulden Kleists und seine materiellen Verhältnisse habe ich mich oben ausgesprochen. Und die Erfolglosigkeit? Kleist kannte seinen Wert, das liest man in seinen Briefen, dazu bedurfte es nicht der Äußerung Brentanos, und Kleist wußte wie Adam Müller, daß er ein „Verfechter für die Nachwelt“ sei. Nein, Kleists Wunsch war nicht der äußere Erfolg, sondern der Erfolg seiner dichterischen Bestrebungen. Als sein dichterisches Streben versagte in der Guiskard-Periode, da geriet sein Gemütsleben ins Schwanken, und er geriet an den Rand des Abgrundes. Und neben dem ehrgeizigen Wunsche nicht nach dichterischem Gegenwartserfolge, sondern nach dichterischer Erfüllung, beherrschen ihn erotische Wünsche. Als diese erotischen Wünsche nicht in Erfüllung gehen, und er sich in der Folge über sie selbst hinwegzutäuschen versucht, da gerät seine Konstitution ins Schwanken, es wiederholt sich das Bild aus der Guiskard-Periode, und ein unglückseliger Zufallskonflikt stößt ihn in den Abgrund. Pfuel hat ein richtiges Gefühl, wenn er, wie ich oben gezeigt habe, Kleists Tod mit der Dresdener Liebesaffäre in Verbindung bringt, nur daß Kleist nicht eigentlich am gebrochenen Herzen, d. h. nicht unmittelbar an den Folgen des schweren Seelenschmerzes zugrunde ging, sondern an den Konsequenzen, die das Ereignis für sein ganzes Sexualleben herbeiführte.
Es erübrigt noch mit einigen Worten auf die beiden Frauen zurückzukommen, welche das Geschick Kleists bestimmt <404:> haben. Zu Maria v. Kleist habe ich oben (I. 1) einige neue Beiträge geliefert, die zum ersten Male wenigstens flüchtig die Ansichten von Zeitgenossen über sie wiedergeben. Sie stammt aus einer Familie, deren Vater und Sohn uns genauer bekannt sind: Menschen von geistig hervorragenden Eigenschaften, aber von zweifelhaftem Charakter. Sie selbst offenbar eine tüchtige Hausfrau und gute Mutter, dabei die geistreiche Dame der Gesellschaft, die einen großen Kreis um sich versammelt, deren intime Beziehungen bis an den Königlichen Hof reichen, die es versteht, auch nach ihrer Scheidung (nachweisbar bis 1825) sich die Gnade und das Wohlwollen des Königs zu erhalten. Dabei besitzt sie einen ausgesprochen praktischen Sinn, einen scharfen Blick für Menschen und Verhältnisse. Sie gibt dem jungen Pfuel die Direktive für sein Verhalten dem Könige gegenüber (s. S. 19f.), sie greift tatkräftig in die materiellen Verhältnisse des unglücklichen Dichters ein und setzt für ihn und Pfuel die Unterstützung der Königin Luise durch. Auf sie trifft ein Ausdruck zu, den Goethe wiederholt auf Charlotte von Stein anwendet; Marie ist das „Korkwams“, das Kleist über Wasser hält. Auf ihren Charakter und ihr Verhältnis zu Kleist wirft ein eigentümliches Licht ein Brief an den König vom 26. XII. 1811, der bisher bruchstückweise veröffentlicht ist. Minde-Pouet bringt Andeutungen aus diesem langen Briefe, in der Absicht, dadurch meine Folgerungen aus den drei Briefen Kleists an Marie zu widerlegen. Er hat damit weder der Beteiligten noch seinem eigenen psychologischen Scharfblick einen Dienst erwiesen. Denn dieser Brief oder diese brieflichen Andeutungen sind nicht eine Widerlegung, sondern eine Stütze meiner Anschauung; ja wenn dieser Brief allein uns erhalten wäre, und wir nichts von Kleists Briefen wüßten, er müßte ein eigenes Licht werfen auf die Beziehungen der Briefschreiberin zu dem unglücklichen Dichter. Der Brief ist voll von gereizten Ausfällen gegen die Todesgefährtin Kleists; sie nennt sie einen „lebendigen Teufel“, spricht Kleist, „dessen ganzem <405:> Sein und ganzer Natur Selbstmord zuwider war“, von jeder Schuld frei und wälzt die ganze Schuld auf Henriette, „eine Heldin aus dieser Klasse und von diesem Kaliber“, deren „gräßliche Krankheit“ sie „den ekelhaftesten Tod voraus sehen ließ“. Die Ausfälle gegen die Vogel, das wußte Marie so gut wie wir, und ihre Freundin sind ungerechtfertigt, und die Andeutungen von einer gräßlichen Krankheit sind unsinnig (s. u.). Man vergleiche damit die Äußerungen von Kleists Freunden, die gewiß alle auf die Vogel erbittert waren; auch nicht einer von ihnen sieht bei dem unheilvollen Schritte in der Vogel die treibende Kraft, keiner spricht von ihr in gleich gehässigen Ausdrücken, und jeder einzelne schreibt ihr bei der Katastrophe nur eine Statistenrolle zu. Ich glaube, daß jeder Einsichtige aus Marias Andeutungen die gekränkte Liebe herauslesen muß, die Eifersucht, die ja Kleist selbst schonen wollte, die Neigung, das Bild ihres Ideals für sich selber zu reinigen und so alle Schuld auf die Rivalin zu schieben. Ohne diese Erklärung würde der Brief ein sehr eigentümliches Licht auf den Charakter der Briefschreiberin werden, selbst zugegeben, daß sie dabei die Tendenz verfolgt, vor dem Könige Kleist nach Möglichkeit zu reinigen. Der Brief würde dann nur den befremdenden Eindruck verstärken, den Marias Brief an Tieck hervorrufen muß, ein Brief, der mit vielen schönen Redensarten einen nichtssagenden Bescheid gibt. In keinem Falle ist Maria von dem Vorwurf freizusprechen, sehr leichtsinnig mit dem Geschick des Mannes umgegangen zu sein, den sie den Teilnehmer an allen ihren Freuden, an allen ihren Leiden genannt hat. Nach der Äußerung an den König war ihr bekannt, daß Kleists lebensfroher Natur jede Selbstmordabsicht vor den Ereignissen, die mit seinem Tode zusammenhingen, fern lag. Wenn Kleist wie wir aus seinen ersten Briefen ersehen, sie selbst ernsthaft auffordert, mit ihm in den Tod zu gehen, wenn er ihr dann mitteilt, daß er eine andere Todesgefährtin gefunden, und wenn er ihr dann erneut seine Absicht mitteilt, obgleich sie ihn schriftlich davon abzubringen versucht hat, dann bleibt es ganz unver- <406:> ständlich, daß sie still blieb, daß sie nicht seine Familie, seine Freunde, den Ehemann Vogel von seiner Absicht benachrichtigte, dann ist es ein ewiger Vorwurf, daß Kleists Tod den Nächstbeteiligten und aller Welt überraschend kommen konnte. Daß der Charakter der Frau, welcher Kleist sein ganzes Leben lang in Verehrung und Liebe treu blieb, ein schlechter gewesen ist, können wir nicht annehmen, dann bleibt aber für Marias Brief an den König nur die Erklärung, daß aus ihm neben gekränkter Liebe und Eifersucht, das geängstigte Gewissen und das Schuldbewußtsein spricht.
Das Bild, das wir uns bisher von der Gattin des Rendanten Vogel allein nach dem Berichte Peguilhens bilden konnten, wird bestätigt durch die Charakterschilderung des französischen Offiziers, die ich oben (S. 148) wiedergegeben habe. Sicherlich ein Gewinn und eine Genugtuung, wenn wir die, mit welcher Kleist gemeinsam aus dem Dasein schied, schöner und würdiger auch im Vergleich mit den großen Zügen seiner Seele uns vorstellen dürfen. Was Peguilhen von ihr über eine unheilbare Krankheit berichtet, und was in dem zitierten Schreiben Marias den schroffsten Ausdruck findet, ist ein Unsinn, den wir ins Reich der Fabel verweisen müssen. Selbst zugegeben, daß sich bei der Sektion ein versteckter Krebs bei ihr gefunden hat, so ist die Annahme, daß dieser wirklich bei Lebzeiten diagnostiziert worden ist, entschieden von der Hand zu weisen. Einen Arzt gar, der der Patientin die Diagnose ins Gesicht sagt und ihr einen qualvollen Tod in Aussicht stellt, gibt es nicht. Die ganze Darstellung beweist nur, wie eifrig bald nach dem Tode die Legendenbildung bei der Hand war. Was ich zugeben will, ist, daß die junge kränkelnde Frau von der Vorstellung gequält und verfolgt wurde, daß ihre Beschwerden mit einem Krebsleiden in Zusammenhang stehen. Das mag die Unterlage gebildet haben für das Gerücht, die Vogel sie in den Tod gegangen, weil der Arzt bei ihr das unheilbare Leiden konstatiert habe. Die krankhaft hypochondrische <407:> Vorstellung der Frau, die auch nach einem Worte Adam Müllers zu schließen, eine Hysterica war, wird die Ursache zu einer Gemütsdepression gewesen sein, die sie geneigt machte, freudig und opferbereit auf den unglückseligen Vorschlag Kleists einzugehen, der seinem und ihrem Leben am Ufer des Wannsees ein Ziel setzte.

Emendation
Charlotte] Chalotte D

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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