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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 389-394

Kleists Tod


Genau so wie mit den vermeintlichen Schulden Kleists liegt es mit den übrigen Motiven, die zur Erklärung von Kleists Tat herangezogen werden: die gleichgültige Haltung der Massen und das schroffe, ablehnende Verhalten der maßgebenden Instanzen erklären in letzter Linie ebensowenig wie der Unwille über die Not und die Bedrängnis des Vaterlandes. Erich Schmidt hat sehr recht, wenn er darauf hinweist, daß Kleist Zeit seines Lebens eine zähe Widerstandskraft gezeigt hat, und daß es staunenswert ist, mit welcher Energie er der grausamsten Feindseligkeit des Schicksals so lange und zäh getrotzt hat. Unter diesen Umständen spitzt sich aber die schwierige Frage nach den Ursachen und Bedingungen der unheilvollen Tat darauf zu: welche besonderen und eigenartigen Verhältnisse haben so verheerend und lähmend auf die so lange bewährte seltene Schaffenskraft und Energie eingewirkt, daß sie dem Ansturm äußerer Konflikte nicht mehr widerstehen konnten?
Eine Psychologie des Selbstmordes im allgemeinen besitzen wir bis heute nicht; wir lassen uns gemeinhin daran genügen, wenn wir das letzte Motiv kenne, welches die Katastrophe <390:> auslöste, den letzten Tropfen, der das schon volle Gefäß überfließen machte. In den meisten Fällen, welche die lokale Chronik uns bietet, in denen verletzte Eitelkeit, Liebessachen, Eifersucht, Geldverluste, oft ganz sinnlose und kindische Beweggründe die Tat herbeiführen, können wir mit Recht die psychopathische Veranlagung, die Depression des Augenblicks als ausreichende Erklärung heranziehen, das sind zumeist Fälle, auf die man schon nach kurzer Zeit mit Achselzucken zurücksehen kann. Aber anders liegt es, wenn, wie in dem Falle Kleist, sich lebendiger Reichtum so plötzlich bankerott erklärt, wenn der vielgerühmte Überschuß des Lebens durch die Tat selbst in Frage gestellt wird, wenn, wie hier, für die Hypothese einer krankhaften Veranlagung, einer angeborenen Disposition auch nicht die Spur einer Handhabe sich bietet. Die ganze Haltlosigkeit der Legende von Kleists Selbstmordtrieb habe ich zu wiederholten Malen nachgewiesen, und sie wird dadurch nicht berechtigter, wenn sie trotz meiner Nachweise immer wieder hervorgeholt wird. Kleist, der ehemalige Offizier, besaß den Mut, jeden Augenblick sein Leben in die Schanze zu schlagen, ja er bekennt, daß das Leben nur dann ein schätzenswertes Eigentum ist, wenn wir auf dem hohen Standpunkt stehen, es jederzeit zu opfern, aber er verachtet den Selbstmord, die Lebensbejahung ist ihm Naturgesetz. Wir ersehen seine Auffassung aus einem Briefe an Wilhelmine vom 21. Juli 1801. Dieses Bekenntnis erscheint mir wichtig genug, es an dieser Stelle wörtlich und ungekürzt anzuführen.
„Ach es ist nichts ekelhafter als diese Furcht vor dem Tode. Das Leben ist das einzige Eigenthum, das nur dann etwas werth ist, wenn wir es nicht achten. Verächtlich ist es, wenn wir es nicht leicht fallen lassen können, und nur der kann es zu großen Zwecken nutzen, der es leicht und freudig wegwerfen könnte. Wer es mit Sorgfalt liebt, moralisch todt ist er schon, denn seine höchste Lebenskraft, nämlich es opfern zu können, modert, indessen er es pflegt. Und doch – o wie unbegreiflich ist der Wille, der über uns waltet! – Dieses räthselhafte Ding, <391:> das wir besitzen, wir wissen nicht von wem, das uns fortführt, wir wissen nicht wohin, das unser Eigenthum ist, wir wissen nicht, ob wir darüber schalten dürfen, eine Habe, die nichts werth ist, wenn sie uns etwas werth ist, ein Ding, wie ein Widerspruch, flach und tief, öde und reich, würdig und verächtlich, vieldeutig und unergründlich, ein Ding, das jeder wegwerfen mögte, wie ein unverständliches Buch, sind wir nicht durch ein Naturgesetz gezwungen, es zu lieben? Wir müssen vor der Vernichtung beben, die nicht so qualvoll sein kann, als oft das Dasein, und indessen mancher das traurige Geschenk des Lebens beweint, muß er es durch Essen und Trinken ernähren und die Flamme vor dem Erlöschen hüten, die ihn weder erleuchtet noch erwärmt.“
Das ist das Glaubensbekenntnis Kleists. Er hat gegen dieses Glaubensbekenntnis gehandelt und gegen das Naturgesetz, welches er bejahte. Fragen wir, wie das gekommen ist, und wie das kommen konnte, so werden wir nicht bloß den äußeren Konflikt nachweisen müssen, wie es schon in richtiger Erkenntnis Steig getan hat, sondern wir werden auch nachweisen müssen, wie überhaupt Kleist in einen solchen Konflikt hineingeraten konnte, welche Wandlungen er durchmachte, und wie sich eine seelische Verfassung ausbildete, die ihn aus einer Zwangslage keinen Ausweg mehr erblicken ließ.
Knüpfen wir mit unserer Darstellung dort an, wo wir im vorigen Kapitel die Betrachtung von Kleists Liebesleben abgebrochen haben. Nachdem Kleist sein Verlöbnis mit Juliane Kunze im Jahre 1808 gelöst hat, hören wir nichts mehr von neuem intimen weiblichen Verkehr Kleists. Nicht bloß, daß uns keine Tatsache, die auf ein neues Verlöbnis hinweist, überliefert ist, auch das Gerücht, welches bis dahin immer neue Liebesaffären des Dichters kolportierte, schweigt völlig. Ich habe schon früher, (Kleist-Problem S. 155) auf diese auffällige Erscheinung hingewiesen, und wie ich nachträglich sehe, haben auch früher andere die Tatsache nicht unbeachtet gelassen. <392:> Max Ring\1\ sagt: „Kleist aber liebte seitdem (nach Emma Kunze) kein irdisches Weib mehr, nur noch die Muse, welche ihm treu blieb und sein Grab mit ihrem unverwelklichen Lorbeer kränzte. In dem Briefe Pfuels (S. 45) finden wir die Erklärung. Kleists Herz war gebrochen, wie er sich ausdrückt, und Kleist hat seitdem völlig der Liebe entsagt. Statt dessen treten in seinen Lebenskreis eine Anzahl Frauen, mit denen ihn eine intime Freundschaft verband, außer der Rahel, der Sander, der Hendel-Schütz und anderen in den letzten Lebenstagen vor allem die Vogel und Maria v. Kleist.
Das Verhältnis Kleists zu seiner Cousine habe ich versucht in ein helleres Licht zu stellen und dabei auf die Rolle hinzuweisen, welche sie neben der Vogel bei dem Zusammenbruch Kleists gespielt hat. Ich bin allgemein gründlich mißverstanden worden, und meine allerdings nur flüchtig gehaltene Darstellung, mit der ich zunächst ja nur beabsichtigte, die Legende von Kleists Wahnsinn zu zerstören, ist in einer Weise gedeutet worden, an die ich selbst nicht im entferntesten gedacht habe. Hier zunächst meine im Kleist-Problem geäußerte Auffassung in den Grundzügen.
Meiner Darstellung ist der Ausspruch des Kleist gewiß nicht wohlgesinnten Peguilhen vorausgeschickt: Kleist dachte viel zu streng, um jemals die Ehre einer Gattin zu verletzen. Sodann habe ich auf die drei kurz vor Kleists Tode an Maria v. Kleist gerichteten Briefe hingewiesen, von denen ich sagte, daß sie für mich der zweifellose Beweis eines sehr innigen Verhältnisses sind, das zwischen den beiden bestanden hat. Über den Charakter dieses Verhältnisses habe ich mich so vorsichtig und so allgemein ausgesprochen, als nur möglich. Ich habe gesagt, daß man das Verhältnis deuten kann, wie man will: als verlangende Leidenschaft oder als entsagungsvollen Bund zweier sich tief verstehender Menschen. Kein Wort in meiner Darstellung von einer verbrecherischen Leiden- <393:> schaft, von einem sündigen Verhältnis usw. Was ich gesagt habe, war nur, daß die drei Briefe Dokumente sind, die auf ein inniges Verständnis, auf ein sehr intimes Freundschaftsverhältnis des Dichters und der Frau hinweisen. Für dieses Verhältnis waren die Briefe und nur die Briefe das entscheidende Beweisstück. Nebenher habe ich als einen weiteren Beweis – aber auch ohne den Charakter des Verhältnisses zu berühren – auf die Tatsache der Ehescheidung und auf die für Kleist demütigende Szene im Hause der Frankfurter Verwandten hingewiesen..
Was ist aus diesem sehr einfachen Sachverhalt alles herausgelesen und wie falsch ist er ausgelegt worden. Die nebenher von mir erwähnte Ehescheidung Marias und des Majors Christian v. Kleist ist in den Vordergrund der Diskussion gestellt worden. Man machte die Entscheidung abhängig von dem an sich sehr gleichgültigen Ehescheidungstermin, man glaubte mich widerlegt zu haben, als es gelang herauszufinden, daß die Ehe etwa erst ein Jahr nach Kleists Tode geschieden wurde. Was soll im Grunde genommen damit bewiesen sein, was wissen wir davon, wie weit die ehelichen Störungen zurücklagen, wie lange Zeit das Prozeßverfahren sich hinzog?\1\ Die definitive Scheidung ist ja für die inneren Vorgänge so belanglos, daß ich nicht verstehe, wie man diesem Datum irgendwelche Bedeutung beilegen kann; ebenso wie es schließlich ganz gleichgültig ist, daß der Ehemann als der schuldige Teil erklärt wurde, und daß Maria auch in der Zukunft sich das Vertrauen des Hofes erhalten konnte. Was soll das bedeuten für ihre vor der Öffentlichkeit geheimgehaltene Beziehung zum Dichter? Im übrigen betone ich, daß die Ehescheidung in meiner Deduktion nur ein nebensächliches Argument ist, ebenso wie ich dem Konflikt im Hause der Verwandten\2\, der brieflichen Äußerung <394:> des alten Körner nur wenig Gewicht beilege. Das Entscheidende für mich bleiben immer die drei an Maria gerichteten Briefe vom 9., 10. und 12. November des Todesjahres. Was ich aus ihnen gefolgert habe, war stets, daß ein sehr inniges Verhältnis zwischen Kleist und seiner Cousine bestanden hat, ein Verhältnis, das ich mit keinem Worte in bestimmtem Sinne zu deuten versucht, das ich an keiner Stelle ein unlauteres genannt habe, dessen Lauterkeit durch neue Dokumente zu beweisen, wie es Minde-Pouet versprochen hat, an sich ganz überflüssig ist. Meine kurzen Andeutungen im „Kleist-Problem“ über das Verhältnis Kleists zu Maria, das neue Quellenmaterial, das ich damals beibrachte, sind so irrtümlich aufgefaßt, so durchaus falsch gedeutet worden, daß ich an dieser Stelle eingehender auf die Bedeutung, welche dieses Verhältnis im Leben Kleists gespielt hat, eingehen muß, weniger in der Absicht, den Konflikt, in welchem Kleist sich befand, zu rekonstruieren – ich halte Steigs Erklärung für völlig ausreichend –, als um die Gemütsverfassung Kleists im letzten Abschnitte seines Lebens, welche die Katastrophe allein herbeiführte, richtig zu beurteilen.

\1\ Gartenlaube 1865 S. 72. Herzenskämpfe eines deutschen Dichters.
\1\ Der oben besprochene Ehescheidungsprozeß Bernhardi hat sich durch Jahre hingezogen.
\2\ Wenn Kayka und andere einfach von einem Unwillen und Schrecken Ulrikens und der Verwandten sprechen, hervorgerufen durch die Geldforderung Kleists und sein heruntergekommenes Aussehen, so reicht doch diese Erklärung nicht aus, um die große Erbitterung Kleists zu erklären und die häßliche Beschimpfung der Verwandten, daß er ein ganz nichtsnutziges Glied der menschlichen Gesellschaft und keiner Teilnahme mehr wert sei. Das deutet doch auf sehr schwere Konflikte hin zwischen Kleist und seinen bisher so opferwilligen Angehörigen, die anderweitiger Erklärung bedürfen.

Emendation
völlig.] völlig, D

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Letzte Aktualisierung 31-Jan-2003
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