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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 252-257

Das Bettelweib von Locarno und seine Quelle

III. Kapitel

Das Bettelweib von Locarno und seine Quelle.

Wir dürfen uns nicht genügen lassen, einfach zu konstatieren, daß die bisher festgehaltene Überlieferung von dem Einflusse Pfuels auf die Entstehung des „Michael Kohlhaas“ unhaltbar ist. Wenn wir die Berichte, die aus des älteren Pfuels Munde stammen, durchgehen, so sehen wird, daß er niemals absichtlich die Unwahrheit gesagt hat, sondern daß sich die Tatsachen bei der Länge der Zeit in seinem Gedächtnis verwischten, mit anderen Worten, daß sie nicht korrekt wiedergegeben sind, aber daß doch etwas Wahres an ihnen ist. Daß bei der Beendigung der Penthesilea Tränen flossen, ist richtig, nur hat sie nicht Kleist sondern Pfuel vergossen, und es floß nicht ein Strom von Tränen, sondern Kleist sah in Pfuels Auge eine Träne. Der Bericht über eine Goethe-Episode, den ich der Vergessenheit entzogen habe\1\, ist in seinem Kern zweifellos richtig, nur alles Beiwerk, die Zeitangabe, die Ortsbeschreibung usw. ist falsch. Wenn Pfuel von einer Neigung Kleists zum gemeinsamen Selbstmord berichtet, so wird sicherlich Kleist zu dieser Angabe die Veranlassung gegeben haben, da er brieflich, und wie ich gezeigt habe auch der Gesellschaft gegenüber sehr freie, damals gewiß verpönte Anschauungen über den Selbstmord und seine Berechtigung äußerte. Und wenn hier Pfuel erzählt von einer literarischen Anregung, die ihm Kleist verdankt, so dürfen wir voraussetzen, daß auch diese Angabe nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. <253:>
Eine Aufklärung gibt eine Notiz, die ich im Pfuel-Archiv finde. Ich habe schon bemerkt, daß dieses von Pfuels Bruder angelegte Archiv ein sehr gut gesichtetes Material birgt. Hier ist nicht bloß gesammelt, sondern von sachverständiger Hand, bis in alle Einzelheiten streng gesichtet und kritisiert. Jeder, der das Material durchzusehen und die Randglossen zu prüfen Gelegenheit hat, wird sich bald überzeugen, daß die Angaben mit strenger Kritik gemacht und durchaus zuverlässig sind. Von der Hand des einstigen Archivleiters selbst finde ich unter den Papieren die folgende Notiz:
Das Bettelweib von Locarno verdankt seinen Ursprung einem Abenteuer, einer Art Spuckgeschichte, die dem Bruder von Ernst in Gielsdorf bei dem alten Onkel, dem Ritterschaftsdirector von Pfuel passirt war.
Die von durchaus zuverlässiger Seite stammende Angabe wird bestätigt durch äußere Umstände. Das Bettelweib von Locarno wurde von Kleist in den Abendblättern veröffentlicht (11. Oktober 1810) und ist von Kleist höchst wahrscheinlich erst in demselben Jahre abgefaßt worden. Um diese Zeit aber verkehrte Kleist, wie ich bereits erwähnt habe (S. I. 1.), viel mit dem in der Notiz erwähnten Bruder Ernsts, Friedrich v. Pfuel. Bei dem Austausch von gemeinsamen Erlebnissen und Jugenderinnerungen mag Kleist das Abenteuer aus der Jugendzeit die Anregung zu der Novelle gegeben haben. Wie das hier angedeutete Abenteuer verlaufen ist – die Novelle läßt die verschiedensten Kombinationen zu – darüber etwas in Erfahrung zu bringen, war mir nicht möglich, da der Zweig der Familie in Gielsdorf nicht mehr existiert. Wie dem auch sei, es ist wichtig für uns zu wissen, daß ein äußerer Vorgang der Erzählung vom Bettelweib zugrunde liegt. Denn gerade hier fehlte uns bisher jede Quellenangabe, während wir sonst immer bei Kleist nachweisen konnten, daß das mystische Beiwerk entweder in dem Stoff selbst und dem Quellenmaterial angedeutet liegt, oder daß es ihm ein Mittel ist, um in feinster Ausnutzung ganz bestimmte Tendenzen zu verfolgen. <254:>
Kleists Bettelweib ist ein eigenartiges Gemisch eines märchenhaften Stoffes mit konsequent durchgeführter und psychologisch scharf entwickelter Wirklichkeit. Die Novelle läßt ahnen, daß hier ein Märchenstoff dicht zusammenstößt mit einem tatsächlichen Geschehnis. Das hat Steig bereits hervorgehoben, und das kommt in seinen Worten zum Ausdruck, daß hier die Welt des Märchens fast nur benutzt erscheint, um hilfsweise die Wirklichkeit zu motivieren. Was an der Novelle so echt Kleistisch ist, und was Kleist vor allem gereizt haben mag, den Stoff zu bearbeiten, das ist die allmähliche Entwicklung des Wahnsinns, die Schilderung der psychologischen Vorgänge, wie sich zu der Angstpsychose alle möglichen Visionen und Halluzinationen gesellen, und wie der Befallene schließlich im maniakalischen Erregungszustande von eigener Hand in den Flammen zugrunde geht. Ich glaube deshalb annehmen zu dürfen, daß ein entsprechender Vorfall, d. h. der Flammentod eines Geistesgestörten in Gielsdorf die jugendlichen Gemüter in Aufregung versetzt hat, und daß bei der Reminiszenz vor allem das Motiv, wie die Angst die unselige Tat veranlaßte, Kleist zur Bearbeitung gereizt hat. Bei der märchenhaften Umkleidung benutzte er Jung-Stillings Vorlage.
Das Bettelweib von Locarno hat stark anregend gewirkt. Steig bringt Beispiele hierfür (Varnhagen, Hoffmann, W. Grimm). Erich Schmidt verweist auf Grillparzer und Halm. Der gleiche Märchenstoff ist, wie ich ergänzend hinzufügen kann, auch in der Form einer volkstümlichen Ballade bearbeitet worden von Ludwig Halirsch. Seine Ballade führt den gleichen Titel wie Kleists Novelle und findet sich in Gubitz’ „Gesellschafter“ vom Jahre 1824 (55. Blatt vom 5. April). Der Umstand, daß die Ballade nicht in die Sammlung Halirscher Gedichte aufgenommen ist, rechtfertigt es wohl, wenn ich sie hier der Vergessenheit entziehe: <255:>

Das Bettelweib von Lokarno.
(Volksthümlich)

Was wimmert draußen vor dem Schloß?
Was jammert durch die Gassen?
„Herr Graf! Herr Graf! thust dick und groß,
Und kannst auf Golde prassen,
So laß ein armes Bettelweib
Nicht hungern bei lebend’gem Leib;
Der Sturm heult in der Runde
Und klappert mir im Munde!“

Doch d’rinn beim reichen Schmause lacht
Der Graf mit seinen Zechern,
Und thät in einer halben Nacht
Sein halbes Gut verbechern;
„Was kümmert uns das Bettelweib
Mit dem verschrumpften Leichenleib;
Wir haben nur Erbarmen,
Was trinkt mit vollen Armen!“

Da schleicht ein alter Knecht hinab
Und öffnet Thor und Riegel,
Und denkt: ’s ist um ein ruhig Grab,
Droht oben auch der Prügel!
Er läßt das Bettelweib herein,
Und reicht ihm Brod und reicht ihm Wein,
Und streut ihm Stroh zum Bette
Auf harter Lagerstätte.

Kaum sprach sie ihr „Vergelt’s Gott!“ aus
Da sprangen alle Thüren,
Der Graf will von dem feisten Schmaus
Die Gäste heimwärts führen;
Und wie sie durch die Hallen zieh’n,
Zieht auch ein langer Seufzer hin:
So stöhnt’s zur Geisterstunde
Am Kirchhof in der Runde.

Und lang und bleich erhebt sich’s drauf
Und schleicht der Schaar entgegen,
Und hebt den dürren Finger auf
Und fluchet ihren Wegen: <256:>
„Habt Acht, wie Ihr das Bettelweib
Begrabt mit seinem Leichenleib!“
So ächzt es und sinkt wieder
Tod – auf das Lager nieder.
Und wie ein Sturmwind wirbelt schnell
Die Zecherschaar von hinnen,
Und läßt den Grafen zu der Stell
Bei seiner Buhlschaft d’rinnen;
Den Grafen, der noch roth und reich
Bei seiner Buhlschaft todt und bleich,
Die wie aus kaltem Grabe
Die Hand ausstreckt um Gabe.

Entsetzt ruft er die Diener sein,
Den Leichnam zu begraben,
Den Leichnam, der so schwer als Stein,
Sein Grab im Schloß will haben;
Sie schleppen bis zum Morgenroth
Ihn vor die Stadt mit Müh’ und Noth,
Und werfen ihn vom Karren
Und thäten ihn verscharren.

Doch als nun wieder kam die Nacht,
Da kam das Weib auch wieder,
Und legt sich, als wär’s ausgemacht,
Im Grafenbette nieder:
„Habt Acht, wie Ihr das Bettelweib
Begrabt mit seinem Leichenleib!“
So raunt’s von Stund zu Stunde
Ihm zu mit blassem Munde.

Da springt im höchsten Schreckensdrang
Er jammernd auf vom Bette,
Und hinter ihm rennt bleich und lang
Das Bettelweib zur Wette,
Und streckt die langen Finger aus
Und jagt ihn durch sein ganzes Haus,
Und klappert ohn’ Erbarmen
Nach ihm mit dürren Armen! <257:>

Jetzt faßt sie ihn – jetzt hält sie ihn –
Er nimmt mit beiden Händen
Die Fackel, im Verzweiflungssinn
Sie schleudernd nach den Wänden;
Da zischt, da leckt, da frißt es schnell,
Und bricht aus allen Fenstern hell;
Und will das Schloß umarmen
Mit tausend Flammen-Armen.

Bald ist’s gethan, bald ist’s gescheh’n,
Nun praßt und haßt es nimmer;
Hoch auf den Trümmern sieht man steh’n
Das Weib im Mondesschimmer:
Fahr hin, Herr Graf, fahr hin, fahr hin!
Der Graf ruht bei der Bettlerin,
Es wölben sich die Flammen
Zum Feuergrab zusammen!“
Ludwig Halirsch.

Der gemeinsame Titel ist das einzige, was die Ballade mit Kleists Novelle zu tun hat. Ganz abgesehen von dem inneren Werte erinnert bis auf den Flammentod nichts an Kleist weder im Inhalt noch in der Bearbeitung usw. Und der Titel ist um so unberechtigter, als die Ballade überhaupt kein lokales Kolorit aufweist. Daraus den Schluß zu ziehen, daß beide, Kleist wie Halirsch, eine gemeinsame Vorlage mit dem gleichen Titel benutzt hätten, ist gewiß nicht angebracht\1\. Wahrscheinlich wurde die Ballade angeregt durch „die alte Bettelfrau“ in Grimms Märchen, wo seit 1822 sich der gedruckte Hinweis auf „das Bettelweib von Locarno“ findet.

\1\ Sonntagsbeilage der Vossischen Zeitung 1. c.
\1\ Es sei der Kuriosität wegen erwähnt, daß im Jahre 1801 in Leipzig auch eine Novelle von F. Horn herauskam, die den Namen „Guiskardo“ trug, deren weichlicher in Sonetten schwelgender Held nicht das mindeste gemein hat mit dem Normannenfürsten oder mit Kleists Drama.


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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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