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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 79-85

Heinrich Zschokke und andere Freunde Kleists in der Schweiz


III. Kapitel

Heinrich Zschokke und andere Freunde Kleists in der Schweiz.

Über Kleists Beziehungen zu Heinrich Zschokke und über die Ereignisse während seines Aufenthaltes in der Schweiz sind wir nur mangelhaft unterrichtet, trotz der eifrigen und aufklärendenden Arbeit mancher Forscher. Bülow hat sich noch bei Zschokke selbst Bescheid holen können, aber was ihm der Greis aus seinem stillen Heimwesen, der „Blumenhalde“, schreibt, klingt dürftig und wenig aufschlußreich; Köhler und vor allem Zolling standen in eifriger Korrespondenz mit dem Sohne des Dichters, dem Pfarrer Emil Zschokke in Aarau, der das literarische Erbe seines Vaters verwaltete, und der dem Autor von „H. v. Kleist in der Schweiz“ das wichtigste Material zu seinem Buche lieferte. So reich das hier aufgehäufte Tatsachenmaterial ist, die Persönlichkeit Kleists bleibt leider im Hintergrund. Auf einem anderen Wege ist es Steig gelungen, das Verhältnis Kleists zu Zschokke zu beleuchten. Aus dem Studium von Zschokkes Miszellen hat er den Beweis erbringen können, daß Kleist noch lange nach dem Schweizer Aufenthalt in naher Beziehung zu seinem älteren Freunde stand, und daß dieser mit großem Interesse die weitere literarische Entwicklung Kleists verfolgte.
Trotz aller dieser Arbeiten bedarf das vorliegende Thema noch mancher Aufklärung, und was vor allem auffallend ist, die wichtigste Frage, welche Anregungen Kleist in dem Kreise <80:> seiner Schweizer Freunde empfangen hat, ob und inwieweit er als Dichter von Zschokke beeinflußt und gefördert worden ist, diese Frage ist bisher kaum berührt; Erich Schmidt wirft sie wohl auf, aber nur um mit wenigen absprechenden Worten über Zschokkes dichterische Qualitäten darüber hinwegzugehen. Ich will zunächst kurz das Zusammentreffen Kleists mit Zschokke skizzieren, um dann der Frage näherzutreten, inwieweit der Aufenthalt in der Schweiz auf die Lebensauffassung Kleists bestimmend gewirkt hat, ob und welche dichterischen Einwirkungen er hier empfangen hat.
Zschokke hatte den Schweizer Boden zum ersten Male im September 1795 betreten, etwa sechs Jahre vor Kleist. Den folgenden Winter hatte er in Bern verbracht und war dann 1796 nach Paris gegangen, wo er dieselben Erfahrungen gemacht hatte, wie so viele andere und empört von dem glänzenden Elend und dem elenden Glanz nach kurzer Zeit flüchtete. Darauf zweiter Aufenthalt in Bern und Streifereien durch die Hochgebirge. Im Spätherbst 1796 kommt er nach Reichenau und bleibt dort als Seminardirektor bis August 1798. Revolutionsstürme. In Aarau als Abgeordneter der verbündeten Graubündener; 1799 in den Urkantonen und Tessin als helvetischer Reigierungskommissar; 1800 nach Basel als Regierungsstatthalter. 1801 Resignation von seiner Stelle. Vom November 1801 bis Ende 1802 dritter Aufenthalt in Bern. In diese Periode fällt das freundschaftliche Zusammensein mit Kleist, Wieland und Geßner.
Eine Anzahl Briefe von Zschokke befinden sich in der Kgl. Bibliothek; sie stammen meist aus der Frankfurter Zeit, bieten aber keinen Anhaltspunkt für eine Beziehung zu Kleist oder seiner Familie. Besonders bemerkenswert ist darunter nur ein Brief, dessen Adressat nicht ersichtlich ist, welcher beweist, daß Zschokke schon damals, im Jahre 1794, der Familie der später unter dem Namen Hermine v. Chézy bekannten Schriftstellerin und Dichterin sehr nahe stand; er grüßt Minchen und ihre ersten dichterischen Versuche „der Geist ihrer würdigen <81:> Großmutter waltet über sie“. Es erscheint mir wichtig, von dieser frühzeitigen und intimen Beziehung zwischen der Chézy und Zschokke Notiz zu nehmen. Einmal ist es sicher, daß sie schon frühzeitig für Zschokkes Miszellen Beiträge lieferte, auf der anderen Seite werden wir im folgenden (S. 123 und 132) zeigen können, daß die Chézy mit Kleists vertrauten Freunden in sehr freundschaftlichem Verhältnisse stand, und daß sie sich von diesen über Kleists Ende und die begleitenden Umstände sehr genau unterrichten ließ. Es scheint daher, daß die Chézy die Vermittlerrolle spielte zwischen den Berlinern und Zschokke.
Von der vorgefaßten Meinung ausgehend, daß Kleist in der Schweiz seine dichterische Bestimmung erkannt hat, hat man dem geselligen Beisammensein mit dem Kreise Zschokke, Wieland und Geßner eine große Bedeutung beigelegt und hat bei der Schilderung von Kleists Schweizer Aufenthalt diesen Kreis in den Vordergrund gestellt. Es soll nicht geleugnet werden, daß Kleist gewisse äußere Anregungen empfing. Aber was konnten diese kleinen Geister dem dichterischen Fluge seines Genies bedeuten? Viel wichtiger erscheint mir der rein menschliche Einfluß, der von gewissen Persönlichkeiten ausging, mit denen Kleist hier auf Schweizer Boden zusammentraf. Hierzu rechne ich zunächst Zschokke selbst.
Als Kandidat des Predigtamtes hatte er in Preußen auf Anstellung und Sold verzichten müssen, nachdem er gegen Wöllners Edikt geschrieben hatte; sein Freiheitsdrang hieß ihn den Wanderstab ergreifen, und in der freien Alpenwelt hoffte er auch für seinen freien Menschenglauben, für die gesunde Vernunft eine Heimat zu finden. In den sechs Jahren, welche bis zu Kleists Ankunft hingingen, erwarteten ihn harte und wechselvolle Schicksalsschläge, Jahre schwerer Kämpfe, mit denen er die Bedürfnisse des Volkes zu den seinigen machte, in denen er für das Volk arbeitete, seine Einsicht zu heben, seine Sittlichkeit zu steigern suchte, in denen er Schule hielt und das junge Geschlecht um sich schaarte, ein Mann von ordnendem Schaffenstrieb und <82:> großer moralischer Energie. Mag uns in späteren Jahren Zschokkes schreibselige Fingerfertigkeit abstoßen, in der Zeit vor Kleists Ankunft hatte er sich in harten Kämpfen zu einer angesehenen Stellung im Staatswesen emporgearbeitet und zu einer sympathischen, charaktervollen Persönlichkeit entwickelt. Daß er in diesem Sinne bestimmend auf Kleist wirken mußte, erscheint zweifellos.
Eine andere einflußreiche Persönlichkeit, welche Kleist in Bern kennen lernte, war Pestalozzi. Zschokke stand ihm schon bei seiner ersten Ankunft in der Schweiz nahe und war gerade kurz vor Kleists Ankunft, als die Revolution mit ihren Wirren anhob, im Dienste der Republik in einen lebhaften Verkehr mit Pestalozzi getreten. Es ergibt sich ganz von selbst, daß auch Kleist Pestalozzi kennen lernte, obendrein finden wir noch die ausdrückliche Bestätigung bei Zschokke, der in „Prometheus für Licht und Recht“ (III. Teil 1833 „Erinnerungen an Aloys Reding“) von einem Abendessen in seiner Wohnung erzählt; unter den Gästen führt er namentlich an: Heinrich Geßner, den Sohn des Idyllendichters, Ludwig Wieland, sein Schwager, Sohn vom Sänger des Oberon, Pestalozzi, Tralles, nachmals Akademiker in Berlin, Heinrich von Kleist, den Deutschland heute noch ehrt usw.“ Wenn Kleist später Pestalozzi und seine Erziehungsmethode im Phoebus (Epigramm) und in den Abendblättern (allerneuester Erziehungsplan) angriff, so tat es gestützt auf den persönlichen Verkehr mit Pestalozzi. Es sei übrigens nebenher bemerkt, daß auch Zschokke den ehemaligen Freund heftig und wiederholt angriff, und daß er vor allem nicht die Schaustellung öffentlicher Prüfungen billigte, in denen mehr der Lehrer als der Lernende sich vorführt und Ruhm sucht. Will man den Einfluß Pestalozzis auf Kleist in Bern beurteilen, so muß man zunächst in Betracht ziehen, daß Kleists und seiner Freunde spätere Angriffe dem Pestalozzi von Iferten galten, daß diese Anstalt erst 1804 gegründet wurde und Pestalozzis Ruf in Europa verbreitete. Der Pestalozzi, den Kleist kennen lernte, war noch ein anderer; er konnte auf eine <83:> Reihe selbstloser Taten zurückblicken, die die unbedingte Anerkennung herausforderten. Pestalozzi, mehr als 30 Jahre älter als Kleist, war ähnlich wie Zschokke ein Volksmann im besten Sinne des Wortes, beseelt von dem Drange, dem Volk in seinen Nöten beizuspringen, es von dem aristokratischen Drucke, der auf ihm lastete, zu befreien, im eigenen Schoße die moralische Kraft zur Selbstverjüngung und Selbstgestaltung aufzudecken. Ähnlich wie der von Kleist so verehrte Rousseau hatte er sich zu der Erkenntnis aufgeschwungen, daß das System der modernen Bedürfnisse bis zu einer Unnatur verkünstelt, in seiner Verweichlichung den Keim alles Verderbs der Gesellschaft in sich trage. Als Mann der Praxis, der Rousseaus „Emil“ als „Traumbuch“ verwarf, war er in seiner Neuhofer Armekinderanstalt zu dem Ursprung der menschlichen Gesellschaft zurückgekehrt, wie Jean Jaques es geträumt, und verwirklichte den Gedanken, daß die Scholle Erde, die wir zur Bewegung brauchen, reich genug sei, um auf ihr alle Bedürfnisse selbst zu erzeugen. Und später während der Revolutionsjahre gründete er in einem alten leeren Klostergebäude zu Stanz eine neue Erziehungsanstalt, sammelte Scharen verwahrloster, hilf- und heimatloser Kinder um sich, denen er nicht bloß Lehrer, sondern auch Diener, Pfleger, Erhalter, Ernährer, kurz Vater und Mutter in einer Person war; er lehrte durch die hilfreiche Tat, er predigte den Kindern die Gebote, indem er sie vollzog; alles Gute und Tüchtige mußte seinen Kindern als das natürliche Erzeugnis ihres Bodens und seiner Bedingungen erscheinen. Hier in Stanz, kurz bevor er mit Kleist zusammentraf, stand Pestalozzi wie nie späterhin im Vollgefühl seines Wirkens, im Besitz und in Ausübung seiner großen Natur und seiner großen Schöpferkraft. Als er mit Kleist in Berührung kam, war Pestalozzi, nachdem ihm das Klostergebäude zu Stanz entzogen war, nach Bern gekommen und war in Burgdorf als unterster Lehrer in die dortige Anstalt eingetreten. Wir haben keine Äußerung, wie Pestalozzi auf Kleist gewirkt hat, aber wir müssen uns vorstellen, daß dieser Mann, dessen Wesen <84:> von gewinnender Herzlichkeit war, einen mächtigen Eindruck machen mußte auf den Kleist, der Brockes’ Wahlspruch: Handeln ist besser als Wissen, so hoch schätzte, der das Rousseausche Ideal in ihm verkörpert sah, und der ganz ähnlich wie einst Pestalozzi zunächst Landmann werden wollte.
Noch einen Mann voller Tatkraft, der sich aus eigenem Können zu hoher Stellung heraufgearbeitet hatte, lernte Kleist in der Schweiz persönlich kennen. Nach Zschokkes Darstellung\1\ wanderte er, begleitet von seinen jungen Freunden am 27. März nach Aarau; die Fußwanderung ist mit einigen Pinselstrichen im Kapitel „Einsamkeit und Liebe“ (Selbstschau) geschildert. Es ist nicht richtig, wie das aus den bisherigen Darstellungen hervorzugehen scheint, daß diese Wanderung aufs Geratewohl unternommen wurde, sondern Zschokke hatte seine Abreise schon von langer Hand vorbereitet und war wegen eines Domizils in Aarau mit einem Freunde daselbst in Verbindung getreten. Von diesem Freunde hatte er den folgenden Bescheid erhalten, den ich hier wörtlich wiedergebe.

Monsieur Tschokké à Berne.
Ihren Entschluß, verehrungswürdiger Freund, unsern Canton und unsere Gegend zu bewohnen, war für mich und meine Familie eine der angenehmsten Nachrichten, sowie es für jeden meiner Mitbürger sein wird, der das Glück haben wird, Sie kennen zu lernen – obschon bey uns noch manches ins reine zu bringen ist – so hoffe, Sie werden in Ihrem Zutrauen in Ruhe bei uns leben zu können nicht betrogen seyn.
Männer von reinem Bidersinn, die jedes Gute am Menschen schätzen, und ohne Vorurtheil und Leidenschaft handeln, wirken überall gutes und verbreiten Glück – Seyen Sie mir herzlich willkom Edler Mann! Was ich für Sie thun kan ist Pflicht – Kommen Sie wan Sie wollen Ihr Zimmer ist zu Ihrer Aufnahme bereit biß Sie einen Ort gefunden, der Ihren Plänen und Wünschen entspricht –
Hr. Mürset Verwalter in Biberstein ist ein brafer Mann. Hat mehrere schöne Zimmer – bey dem wie ich nicht zweifle Sie auch die Kost haben können. Diß Alles können Sie selbst besichtigen und verabreden und beschließen.– <85:>
Wir freuen uns nach gemachter Hoffnung Sie bald wieder zu sehen. Empfahen Sie von meiner Frau wie von mir die Versicherung unserer Hochschätzung und Ergebenheit. –
Aarau d. 8. Maerz 1802.J. R. Meyer Vater.

\1\ Lebensgeschichtliche Umrisse in Zschokkes ausgewählten Schriften 1825.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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