Sigismund
Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach
neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 70-75
Das Haus Cohen und andere Gesellschaftskreise während Kleists erster Berliner
Periode (1800-05)
Die mehrere Jahrhunderte alte Familie stammt aus Lübeck und weist sehr viele angesehene
Männer auf. In der Allgemeinen Deutschen Biographie, in J. C. Koppes
jetzlebendes gelehrtes Mecklenburg (3. Stück 1784) werden mehrere
Vertreter dieses Namens erwähnt und besprochen, die sich als Juristen oder im
Verwaltungsfach hervortaten. Geadelt wurde die Familie, wie der Adelsbrief ergibt, erst im
18. Jahrhundert, und zwar erhielten den Adel die beiden Söhne des Verfassers des
Irdischen Vergnügens in Gott, Berthold Heinrich und Erich Nikolaus. Dieser
Erich Nikolaus, Großfürst Russisch- und Schleswig-Holsteinischer Justizrat und Sekretär
bei dem Regierungskonzil in Kiel, war der Großvater nicht wie angegeben wird
der Vater von Ludwig v. Brockes. Sein Vater war ein wenig bemittelter
Offizier, der früh starb und außer dem Sohn noch eine Tochter Luise hinterließ. Auf
diese Schwester von Kleists Freunde, deren Kleist auch Erwähnung tut, komme ich bald
zurück. Die Mutter von Brockes war eine geb. v. Eickstedt und wird geschildert
als eine gebildete Frau von lebhaftem Geist, die mit großer Sorgfalt die Erziehung des
Sohnes leitete. Wenn Minde-Pouet meine Angabe und ebenso die von Kleist, welcher ja mit
Brockes längere Zeit auf dem Eickstedtschen Gute in Koblenz bei Pasewalk weilte, auf
Grund der Familienchronik anzweifelt, so übersieht er, daß eben Familienchroniken
durchaus nicht immer zuverlässig sind. In Steinbrücks Genealogie und ebenso in der von
Gesterding, welcher sich bei der Familie von Eickstedt auf Steinbrück bezieht, fehlt eine
Angabe über die Verbindung der Familien Eickstedt-Brockes. Aber in dem Exemplar einer
Nichte von Brockes, die von ihm unterrichtet <71:> wurde, mit großer Pietät
an ihm hing und das Andenken des Onkels am längsten bewahrte, findet sich die
Randbemerkung: hier fehlt die dritte verheiratete Schwester, Frau v. Brockes,
geb. v. Eickstedt usw.. Die älteste Eickstedt heiratete einen Baron von
Albedyll, die zweite, geb. 1740, Carl Gustav v. Gloeden auf Griebow, die
jüngste (Luise) war Frau v. Brockes.
Ludwig v. Brockes
verlebte die Jugendjahre teils bei dem Großvater, was wohl Veranlassung zu der
Verwechslung mit seinem Vater gegeben haben mag, und bei den Verwandten
mütterlicherseits, besonders bei der Familie v. Gloeden in Griebow (Pommern). An der
Hand zahlreicher Tagebucheintragungen können wir, wenigstens bis zu einem gewissen Grade,
die Schicksale Brockes bis zur Würzburger Reise mit Kleist verfolgen. Im Jahre 1788
(Oktober 1787 immatrikuliert) studierte Brockes in Göttingen. Mit dem Semesterschluß im
März zahlreiche Stammbuchblätter, ebenso wieder im August und September. Im Jahre 1790,
wahrscheinlich im Anschluß an den Göttinger Aufenthalt, also seit Ende 1788, weilte
Brockes in Rendsburg, wo er in dänischen Diensten stand, wie auch Kleist erwähnt. Vom
Januar und vom September 1790 ist je ein Stammbuchblatt von Damen erhalten. Im Oktober und
November dieses Jahres war er auf Reisen und verweilte in Zarrentin (Mecklenburg), wo er die Verwandten Mevius besuchte seine
Großmutter war eine geb. Mevius und in Griebow. Drei Stammbuchblätter
vom Oktober aus Zarrentin, ein Blatt vom 21. November aus Griebow. Im Jahre 1791
schied Brockes aus Rendsburg und gab seine Stellung auf. Mehrere Blätter von
verschiedenen Freunden, eines mit der Notiz: sie sind dahin, die fröhlichen Stunden.
Darauf ein Aufenthalt in Dargun (Mecklenburg), wo er verwandte Damen aufgesucht zu haben
scheint (drei Blätter) dann verliert sich jede Spur, und wir können von 1792
bis Ende 1796 Brockes nicht weiter verfolgen. Kleist bemerkt nur kurz, daß er sich in
dieser Zeit nicht entschließen <72:> konnte, wieder ein Amt anzunehmen. Von
Oktober 1796 bis 1800 war Brockes zum zweiten Male, wie zahlreiche Stammbuchblätter
beweisen, in Göttingen, nicht als Student und deshalb auch nicht immatrikuliert, sondern
als Begleiter und Lehrer des jungen v. Dewitz, um doch etwas Gutes zu
stiften, wie Kleist sich ausdrückt. Wann Brockes mit Kleist und seiner Schwester
auf Rügen zusammengetroffen sein könnte, dafür fehlt uns jeder Anhaltspunkt, wie wir ja
überhaupt von Kleists Reise nach Rügen nichts wissen. Humboldts Bericht über seine
Reise nach Rügen etwa um die gleiche Zeit, läßt keinen Rückschluß zu. Nach Göttingen
wird sich Brockes bei den Verwandten Eickstedts in Koblenz aufgehalten haben, wo ihn
Kleist zu der Reise nach Würzburg beredete und abholte. Auf dem Rückweg blieb er in
Dresden, wie wir bei Kleist lesen (an Ulrike 27. Oktober 1800), und da er schon im
Januar Berlin wieder verließ (Kleist an Wilhelmine 31. Januar 1801), so kann sein
Aufenthalt in der Residenz nur ein kurzer gewesen sein. Er ging nach Dargun in
Mecklenburg, wo ihm der einflußreiche Dewitz-Vater ein Amt verschafft hatte. Aber er
blieb nur knapp ein Jahr dort, da er sich in den engen Kreisen sehr unglücklich fühlte.
Wir machen die gleiche Erfahrung bei Brockes wie bei Lippe und bei Kleist; sie konnten
alle kein Amt annehmen resp. sich in keinem Amte behaupten. Ist in der Folge, nachdem er
spätestens Anfang 1802 seines Amtes ledig war, Brockes wieder mit Kleist
zusammengetroffen oder doch weiter mit ihm in Verbindung geblieben? Es kann keinem Zweifel
unterliegen, und es läßt sich aus einem Briefe Kleists mit Sicherheit nachweisen, daß
das freundschaftliche Verhältnis der beiden bestehen blieb, auch nach der Trennung 1801.
Die reiche Korrespondenz der beiden, die nachweisbar bis vor kurzer Zeit noch vorhanden
war, scheint aussichtslos verloren. Aber ich werde an anderer Stelle (s. S. 362)
den Nachweis erbringen, daß die Freunde während des Königsberger Aufenthaltes Kleists
in reger Verbindung standen und ein gemeinsames Zusammensein
verabredeten. <73:> Aus der Zeit nach der Trennung 1801 und vor der zweiten
Reise im Mai desselben Jahres stammt der Briefentwurf, den ich in dem hinterlassenen
Tagebuch Brockes finde, und der zweifellos an Kleist gerichtet ist. Er macht dem
Charakter Kleists ebensoviel Ehre als der Brief Kleists an seine Braut dem Charakter
Brockes. Ich gebe den Brief im Nachtrag (S. 419ff.) wieder. Später treffen wir
Brockes in Berlin, wo er freundschaftlich mit Robert, W. Neumann usw. verkehrte.
Robert erwähnt ihn bei verschiedenen Gelegenheiten. Am 3. November 1807, also zu der
Zeit, in welcher Kleist seit etwa einem viertel Jahre aus Frankreich zurückgekehrt in
Dresden sich aufhielt, schreibt Neumann an Varnhagen: Brockes ist gestern in seine
Heimat zurückgekehrt. Lippe wird vielleicht herkommen.
Mit der Würzburger Reise ist
in einem gewissen Sinne das Geschick von Brockes oben erwähnter Schwester Luise
verknüpft. Kleist erzählt (an Wilhelmine 31. Januar 1801), daß die Geschwister in
inniger Liebe aneinander hingen, und daß die Schwester nach der geheimnisvollen Abreise
ihres Bruders in dem traurigen Gefühl, von ihrem einzigen Freunde verlassen zu sein,
einen Gatten wählte, mit dem sie jetzt doch nicht recht glücklich ist. Es
ist Kleists trauriges Geschick, in so viele unglückliche Ehen hineinzublicken. Die von
Zolling zitierte briefliche Äußerung von Brockes (denn leider kann ich der Vernunft noch
immer wenig Geschmack abgewinnen usw.), die auf Selbstvorwürfe hinweist und Bedenken
gegen die projektierte Reise äußert, dürfte sich auf diese Trennung von der Schwester
beziehen. Der von Kleist erwähnte Gatte der Luise v. Brockes war ein Major
v. Albedyll, ihr Vetter (s. o.). Die Albedylls besaßen damals das Gut Mori bei
Lübeck. Die Verwandtschaft und die Nachbarschaft sprechen in der Tat dafür, daß die
Beziehungen der beiden älteren Datums waren, und daß es sich bei der Vermählung um
einen plötzlichen Entschluß Luisens handelte. Albedyll hatte seine (preußische)
Garnison und seinen Wohnsitz in Warschau, und es ist immerhin <74:>
merkwürdig, daß schon im Januar 1801, also kaum ein halbes Jahr, nachdem der Lebensbund
geschlossen war, Kleist von dem Unglück der Ehe wußte. Nach dem Tode ihres ersten Mannes
heiratete Luise von Brockes den Major Carl v. Koschitzky, der ebenfalls in Warschau
beim Wagenfeld-Kürassierregiment (jetzt Leib-Kürassierregiment Schlesisches Nr. 1)
stand. Dieser Ehe entstammten drei Kinder: 1. August, zuletzt Wirkl. Geh. Kriegsrat
und Intendant des IX. Armeekorps. Die Linie ist ausgestorben. 2. Louis stand im
Jägerkorps, starb 1843 und hinterließ einen Sohn Louis), Oberstleutnant im
Regiment 98 zu Metz, 3. Luise, verehelichte Etatsrätin Schuhmacher in
Flensburg, starb in Altona.
Durch das Leben von Brockes
zieht sich ein Liebesroman, bemerkenswert für uns, weil Kleist, wie sich zeigen läßt,
in ihn vielfach hineingezogen worden ist. Auf die lange Bräutigamszeit Brockes habe
ich schon im Kleist-Problem hingewiesen. Die Familientradition besagt, daß er mit einer
Frau Cäcilie von Werthern verlobt war, daß beide nach testamentarischer Bestimmung mit
der Vermählung bis zur Großjährigkeit eines Sohnes warten mußten, daß schließlich
der Termin besonders durch die Bemühung des Sohnes selbst behördlich abgekürzt wurde,
daß aber auf dem Wege zur Hochzeit Brockes zu Bamberg in den Armen seiner herbeigeeilten
Braut am 23. September 1815 gestorben ist. Über dieses Verhältnis und die
beteiligten Personen findet sich eine kurze Zettelnotiz im Nachlaß Varnhagens. Es heißt
da:
Herr
von Brockes, ein Freund Alexanders Grafen zur Lippe und Heinrichs v. Kleist\1\, ein ausgezeichneter edler
Mann. <75:>
Cäcilie von Werthern,
eine wunderschöne, große, leidenschaftliche Frau, voll Adel und Eigenheit. Das
Verhältnis beider war ein reicher Roman, wert einer gediegenen Darstellung.
\1\ Varnhagen unterläßt es niemals, bei Brockes
die Freundschaft mit Kleist hervorzuheben. U. a. heißt es in Bd. IV der
Denkwürdigkeiten über Brockes: Freund Heinrichs v. Kleist, Edelmann von sehr
einnehmendem Wesen.
Emendation
(Mecklenburg)] Mecklenburg) D
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