J. M. Ritchie,
M. W. Swales, The London Goethe Letter, in: German Life and Letters 42
(1988/89), 168-179; darin: 171-174
Johann Wolfgang v. Goethe an Adam Müller, Karlsbad, 28. 8. 1807
Indem ich Ihnen, mein werthester Herr Müller,
Ihre Vorlesungen zurückschicke, möchte ich sie gern mit etwas Freundlichem und etwas
Bedeutendem begleiten. Das erste wird mir leicht, das zweyte im gegenwärtigen Augenblicke
schwer; doch können Sie ja selbst wissen, was ich Ihnen auf beyde Weise zu sagen hätte.
Der Schauspieler fühlt nicht lebhafter, daß er eines wohlwollenden Zuschauers bedarf,
als wenn er eben abtreten will, der Dichter, wenn das Stück zu Ende geht; und so will ich
gern bekennen, daß es mich sehr freut, an Ihnen einen wohlwollenden Theilnehmenden zu wissen und zu hinterlassen. Die Welt thut
ihr Möglichstes, uns gegen Lob und Tadel gleichgültig zu machen; aber es gelingt ihr
denn doch nicht, und wir kehren, wenn wir günstige und zugleich im ganzen mit unsern
Ueberzeugungen zusammentreffende Urtheile vernehmen, immer gar zu gern aus unserer
Resignation zum Genuß zurück.
Ueber
Amphitryon habe ich manches mit Herrn von Genz gesprochen; aber es ist durchaus schwer,
genau das rechte Wort zu finden. Nach meiner Einsicht scheiden sich Antikes und Modernes
auf diesem Wege mehr, als daß sie sich vereinigten. Wenn man die beyden entgegengesetzten
Enden eines lebendigen Wesens durch Contorsion zusammenbringt, so giebt das noch keine
neue Art von Organisation; es ist allenfalls nur ein wunderliches Symbol, wie die Schlange
die sich in den Schwanz beißt.
Der zerbrochene Krug hat
außerordentliche Verdienste und die ganze Darstellung dringt sich mit gewaltsamer
Gegenwart auf. Nur Schade, daß das Stück auch wieder dem unsichtbaren Theater angehört.
Das Talent des Verfassers, so lebendig er auch
darzustellen vermag, neigt sich doch mehr gegen das Dialectische hin; wie er es denn
selbst in dieser stationären Proceßform auf das wunderbarste manifestirt hat. Könnte er
mit eben dem Naturell und Geschick eine wirklich dramatische Aufgabe lösen, und eine
Handlung vor unsern Augen und Sinnen sich entfalten lassen, wie er hier eine vergangene
sich nach und nach enthüllen läßt, so würde es für das deutsche Theater ein großes
Geschenk seyn.
Das Mscpt
will ich mit nach Weimar nehmen, in Hoffnung ihrer Erlaubniß,
und sehen, ob etwa ein Versuch der Vorstellung zu machen sey. Zum Richter Adam haben wir
einen vollkommen passenden Schauspieler, und auf diese Rolle kommt es vorzüglich an, die
andern sind eher zu besetzen.
Mögen Sie mir künftig von
Sich oder andern manchmal etwas mittheilen, so soll es mir immer sehr angenehm seyn. Und
nun noch einen Wunsch.
Wenn Sie Ihre Betrachtungen,
was in der deutschen Literatur geschehen, geschlossen haben, so wünschte ich, Sie
bildeten uns auch eine Geschichte heraus, wie in der deutschen Literatur gedacht und
geurtheilt worden. Wir stehen jetzt auf dem Punkte, wo sich das auch mit einer gewissen
Freyheit übersehen läßt, und beydes hängt gar genau zusammen, weil doch auch die
Hervorbringenden wieder urtheilen, und dieses Urtheil wieder ein Hervorbringen veranlaßt.
<172-173 Faksimile; 174:>
Verzeihen Sie, wenn ich in
einem Briefe verfahre, wie man es im Gespräch eher thun darf, und füllen Sie die Lücken
aus, die zwischen dem, was ich gesagt habe, geblieben sind.
Die Bekanntschaft des Herrn
von Haza, der das Gegenwärtige mitzunehmen die Gefälligkeit hat, ist mir sehr angenehm
gewesen.
Ich wünsche recht wohl zu
leben und manchmal von Ihnen zu hören.
Goethe
Carlsbad
Den 28ten August
1807.
Emendationen
(nach Faksimile, das diesem Aufsatz beigegeben ist)
werthester] wertester D
wohlwollenden] wohlwollend D
Verfassers,] Verfassers D
seyn. | Das] in D kein neuer Absatz
Erlaubniß] Erlaubnis D
|