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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Roland Reuß und Peter Staengle in Zusammenarbeit mit Arno Pielenz und Renate Schneider, H. v. Kleist. Dokumente und Zeugnisse. Biographisches Archiv II / L-Z, in: BKB 14 (2001), 23-911; darin: 232-237

Ludwig Robert an Ludwig Tieck, Karlsruhe, 22. 5. 1822

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Karlsruhe d. 22t May 1822

Verehrter Meister u. Freund.
Wenn ich Ihnen die Freude und die Beruhigung – ja, und den Hochmuth ausdrücken wollte, die Ihr liebevoller und allzu schmeichelhafter Brief noch immer in mir aufregt, so würde ich Gefahr laufen in einen geschraubten affektirt-naïven Styl zu verfallen, wie die Freunde u Schüler Gleims, wie Müller an Bonstädt schrieben. Erlassen Sie mir diese Herzensergießungen um so mehr, als diese erste Phrase schon genug verdreht u beinah sprachwidrig ist. Glauben – wie, wissen Sie, wie ich [ehre]Sie ehre u liebe u wie Ihr Antheil an meinen Bestrebungen mir tausend Mal werther ist, als jede noch so allgemeine Lobpreisung; die mir übrigens, Gott sey Dank! nie geworden ist. Der Tadel eines kunstverständigen Freundes, wie Sie, ist Lob, begeisterndes Lob. Auf Ihren Tadel also, wann ich Ihnen etwas von meinen neuern Arbeiten zeigen werde, auf Ihren Tadel – ich schwör’ es Ihnen! freue ich mich am meisten. Doch ich will in der Ordnung schreiben u Ihren lieben Brief Punkt für Punkt beantworten. Zuerst die Geschäftssache: Herr Braun erwartet Ihren Beitrag zu den Rheinblüten in den ersten Tagen des Julius spätestens u bewilligt Ihnen nicht nur mit Freuden das Honorar von Acht Friedrichs’or pro Bogen (nehmlich den Druck des Bogens in demselben Verhältnisse, als Ihre Werke in Berlin u Leipzig gesetzt wurden; indem die Rheinblüten wahrscheinlich um ein Bedeutendes splendider, in Sedez, gedruckt werden) sondern fragt Sie auch, ob es Ihnen vielleicht angenehm seyn könnte, sogleich fl. 300 Rheinisch zu erhalten und würde er Ihnen in diesem Falle einen Wechsel nach Frankfurth a/m zusenden, den Sie leicht begeben können; der Saldo, der alsdann Einem von Ihnen beiden zukäme, würde sodann später berichtiget werden. Haben Sie die Güte hierauf umgehend zu erwiedern und seyn Sie überzeugt, daß Ihnen der kleine Vorschuß gern verabfolgt wird, wenn Herr B: nur Gewißheit erlangt, daß Ihr Nahme sein Taschenbuch schmücken wird. –
Wie dumm ist doch der Mensch, oder vielmehr, wie dumm bin ich, daß ich Ihnen nicht früher schrieb, daß ich mir nicht früher den Genuß bereitete, über so Manches mit Ihnen zu sprechen, von Ihnen belehrt und zu künstlerischen Unternehmungen ermuthigt zu werden; denn obgleich an meinem Nicht-Thun die Trägheit einen großen Antheil hat, so entspringt doch diese Trägheit großentheils aus der Quelle vielfacher Entmuthigung. Doch ich werde ja bald nach Dresden kommen und längere Zeit bei Ihnen verweilen! Sie gedenken eines größeren historischen Werks :/ des Rienzi /: das ich auszuführen gedachte. Es ist mir ganz aus der Seele heraus u abhanden gekommen; u sollte ich denn die Fähigkeit haben ein historisches, tragisches, erhabenes Drama zu schaffen? Ich glaube kaum! Das rhetorisch-philosophische, das gemüthlich-lyrische und das phantastisch-komische Gebieth mögten mir wohl einzig u allein von der Natur angewiesen seyn. Will ich mich in einer andern Sphäre versuchen, so spielt der Verstand bei mir eine so überwiegende Rolle, daß ich z: B: nicht im Stande wäre, ein historisches Faktum, rein als dramatisch-lebendiges Bild, hinzustellen. Ganz im Gegentheil, ich müßte erst eine vom Verstande ausgesprochene vernünftige Grund-Idee finden; und dann ein historisches Faktum u historische Charaktere suchen, die diese Grundwahrheit bethätigten, d: h: durch die That – nicht durch trochäisches oder jambisches Geschwätz – anschaulich machten. So wahr
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es nun ist, daß ein so konstruirtes Werk ein rundes Ganzes werden dürfte, daß es einen Mittelpunkt einen Kern enthält; so läuft man doch auch bei solcher Behandlung Gefahr, ein^en^ schulgerechten, dogmatischen Kettensatz, statt eines freien Kunstwerks zu Stande zu bringen. Bei’m Rienzi hatte ich die Idée: daß eine einmal faktisch vorübergegangne Zeit, durch keine irdische Macht wieder herzustellen sey – weil dieses gegen das Göttliche Gesetz der Fortschreitung des Menschengeschlechts streitet – die Herstellung dieses vergeblichen Kampfes wäre nun die beabsichtigte beabsichtigte Tragödie – Eine andre Grundidee hatte ich u sie war diese: In einem u demselben Stücke die Vorstellung der Kelten von ihrem blinden Fatum und zugleich die Christliche Idée einer ewig-gnädigen Weltleitung darzustellen. Die Zeit, in der das Stück spielen muß, nehmlich die ersten Jahrhunderte des Christenthums – ist no hiedurch nothwendig gegeben, auch die beiden Haupt-Charaktere, ja gewissermaßen die Fabel, oder doch die Art derselben ^sind es^. Christenthum u Heidenthum müßten sich hier – in derselben Familie – berühren, aber scharf trennen u nicht etwa, wie in der Braut von Messina – bis zum komischen konfus – vermischen: und das Christenthum – aber ohne Hilfe des Lampen- u des Maschinenmeisters – verklärt erscheinen, als der einzige u wahre Ring des Vaters, der hier nicht – wie im Nathan – verlohren gegangen. Aber hab’ ich die Kraft eine solche Aufgabe würdig zu lösen? Nein! – Vielleicht gelänge es mir noch eher einen andern Gedanken dramatisch zu verlebendigen; den sehr bekannten nehmlich der waltenden Nemesis; nur mit einer neuen Modifikation, die ihn anschaulicher u tragischer macht u der Natur, der Erfahrung abgelauscht ist. Nehmlich: Es müßte zu einem nicht völlig unedeln: zu einem gemischten Zwecke ein großes Unrecht geschehen seyn. Z: B: ein Mord eines rechtmäßigen aber schwachen Magnaten. Der Mörder und Usurpator müßte weise u gerecht regieren; seine Schuld im Gefühl seines bessern Willens u in dem Glück des Landes vergessen, sein Gewissen gänzlich beruhigt haben. Von seinem geliebtesten Menschen aber :/ Sohn, Tochter oder Gattin /: u anderen, wann er es am wenigsten denkt, nach Vollbringung und durch Vollbringung seiner edelsten That müßte die Strafe der Schuld kommen. Nun erst müßte er sein früheres Unrecht ^im erlittenen Unrecht^ klaar einsehen u dankend, daß ihn die Strafe hier noch traf, er hier noch Einsicht in sein Unrecht erlangte, ruhig u mit dem Himmel versöhnt sterben. Dieses darzustellen getraue ich mir noch eher die Kraft zu, freue mich aber über all diese drei verschiedenen Gedanken mit Ihnen zu sprechen. Doch muß ich noch bemerken, daß ich mir nicht die Fähigkeit zutraue, wirkliche historische Charaktere darzustellen, wohl aber eine faktisch-geschichtliche Periode, die als Hintergrund, als Landschaft des Gemäldes dienen kann u in welche man neue zeitgemäße Charaktere hineinerfindet u sie mit den Lokalfarben des Ganzen ausmahlt. Auf diese Weise ist der Erfindung ein weiter Spielraum gegeben und zugleicher Zeit die Phantasie doch so durch eine gegebene Wirklichkeit, begränzt, daß sie sich nicht ins Blaue u Leere verlieren kann. – Aber was spreche ich von mir? Da Sie – Sie! – Sie endlich! etwas, nehmlich viel, für die wirkliche Bühne thun wollen. Den Ausdruck: Sie wollten Sich versuchen, hätten Sie nicht brauchen sollen; ich hätte statt dieses lieber gelesen: ich will mich beschränken; ich will Rücksichten nehmen; ich will die Bretter mit ihren Lampen u Lumpen, mit ihrem E- u Defeckt pp in Rechnung bringen; ich will zu der verführten Menge einige Stufen hinunter steigen, um sie desto sicherer empor zu heben. Wenn Sie das thun wollten, Sie würden sich ein^en^ Gotteslohn, um die deutsche Bühnenkunst erwerben[;]! Ich aber würde mehr als stolz seyn, wenn ich
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es vermögte Sie dazu zu bewegen – mehr als stolz sage ich; denn stolz bin ich schon, daß Sie es nur denken können! – Was Sie mir von W: Scott sagen hat mich bestimmt ihn zu lesen; denn bis jetzt kannte ich ich ihn nur durch Blätter, nehmlich durch Durchblättern u aus Auszügen; er kam mir aber so wenig tief u so sehr breit vor, daß ich mich zu nichts weiter entschließen konnte. Vielleicht waren auch die Uebersetzungen daran Schuld; ich weiß zwar ein tant soi peu Englisch; doch kann ich es nicht geläufig lesen. Fouqué ist meines Erachtens närrisch und wäre toll u wahnsinnig geworden, wenn er mehr Zeit u weniger Herzensgüte hätte. Hoffmann ist in seiner Seele ohne einen philosophischen, ohne einen religiösen Mittelpunkt; daher seine entsetzliche Konfusion; er sucht diesen Mittelpunkt, daher sein geängstetes Wesen; er findet ihn nicht u mögte ihn läugnen, daher seine Teufelei; er hat Aufassungs- u Vorstellungs-Gabe, daher so vieles Frappante in seinen Werken; wieso er sein eigner ungenialischer Nachahmer geworden: haben [s]Sie erschöpfend gesagt. Rechnen Sie nicht auch Jean Paul zu dieser Klasse, obgleich er tiefer ist, als die Genannten, aber doch auch harmloser: unkünstlerisch. Haben Sie die Kritik über den Freischützen im Morgenbl. gelesen? Ist Sie in Dresden bemerkt worden? – Ueber Goethe bin ich einverstanden mit Ihnen: auch mir behagt diese willkührliche Vergötterung nicht. Pestalozzis Wollen aber muß ich so sehr sehr hoch stellen; was er facktisch geleistet, kenne ich nicht u weiß es nicht zu beurtheilen, muß jedoch dem Verfasser von Lienhard u Gertrud eine erste Stelle unter den plastischen Dichtern einräumen – Mit Fichte hat es nun eine ganz andere Bewandtniß: er ist mein geistiger Vater, von ihm habe ich die innere Taufe erhalten, er ist mein Seelenretter! Er selbst hat es mir zum Vorwurf gemacht, daß ich nur ihn verstehe; ich wollte ihm folgen, ich las andere Philosophen; aber überall stieß ich entweder auf Verwirrung u Unklarheit, oder auf Verwechslung u Widersprüche. Es blieb dabei, ich verstehe nur ihn und durch ihn nur, das a posteriori u das a priori, das Idéal u die Geschichte, die Philosophie u das Christenthum. Nur Tauler u Thomas a Kempi kann ich noch lesen, weil sie eben dasselben, eben so folgerecht, wenn auch nicht in Form der Wissenschaft sagen. Wenn Sie doch sein opus posthumum: die Staatslehre lesen wollten. Nur in diesem Buche würden Sie den großen Mann erst kennen lernen! – Uebrigens vergöttere ich Fichte nur, weil er mich Gott zu vergöttern lehrte. – Den dritten Theil Ihrer Gedichte erwarte ich mit freudiger Sehnsucht. Die Vorrede zu Kleist’s hinterl. Werken ist ein Meisterstück u war mir unendlich belehrend. Der arme, nicht genug zu bedauernde geniale Mensch! Ich kann mich des Gedankens nie erwehren, daß er noch leben würde, wenn er nicht ein paar Monathe vor seinem Tode, um eine Kleinigkeit u mir großes Unrecht thuend, sich unversöhnlich von mir gewendet hätte. Er hätte dann vielleicht nie die Bekanntschaft der siechen u verschrobenen V: gemacht, oder ich hätte sie ihm wenigstens vereckelt. Dies glaube ich, aber gewiß bin ich, daß er noch lebte, wenn Iffland sein Käthchen gegeben u es ihm nicht so brutal zurückgeschickt hätte. Er ist an Entmuthigung und Liebebedürfniß gestorben. – Mein Stück: Kassius u Phantasus oder der Paradiesvogel ist nicht in Leipzig; es kam von dort nach Dresden u Winkler hat es – verlohren (?) – Daß die Wolfs Verdienste haben u eine bemerkenswerthe Erscheinung sind, läugne ich nicht; aber eine von ihnen gebildete Schule würde den Keim des Todes in sich tragen; sie sind gemachte – alexandrinische Künstler. Denken Sie nur an Fleck! Nun mein verehrtester Freund u Meister, leben Sie wohl u da Sie wohl nicht Zeit haben werden, mir ausführlich u gleich zu schreiben, so bitte ich Sie nur mit erster Post um bestimmte kurze Antwort auf die Geschäfts-Sache, die keinen Aufschub leidet.

Mit Achtung u Freundschaft
Ihr           
Ludwig Robert

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Herrn
Professor Ludwig Tieck
frei gegen Scheinin
Dresden

H: SBB PK, Autogr. I/2196-1

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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