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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Johann Heinrich Maurer-Constant (Hrsg.), Briefe an Johann von Müller (Supplement zu dessen sämmtlichen Werken), 6 Bde. (Schaffhausen: Hurter 1840), Bd. 4, 431-439

Hans Karl Dippold an Johannes v. Müller, Greifswald, 30. 9. 1807


(Greifswald den 30. September 1807.
Im großen Drange der Begebenheiten und bei <432:> Ihres eigenen Lebens und Denkens Fülle ist es Ihnen wohl ziemlich unbemerkt geblieben, warum ich von der Erlaubniß (die ich mir indessen selbst genommen, und die darin bestand, Ihnen recht oft schreiben zu dürfen) nicht mehr Gebrauch gemacht. Aber in der That, es hat mich die gewisse Ueberzeugung abgehalten, meine noch so begrenzten Ansichten, mein Streben und meine Fortschritte wären zu unwichtig bei diesem kolossalen Weltschauspiel, Sie selbst lebten zu sehr selbst darinnen, als daß ein Jüngling und sein Thun Ihre Aufmerksamkeit auf sich herabziehen könne. Hiezu kam die so gewiß gemachte Nachricht, daß Sie Berlin verlassen würden, wo sich dann Ihre Arbeiten häufen mußten. Und endlich, wenn ich so recht von Herzen mit Ihnen über den Gang unsrer Zeit, über die verwegenen Neuerungen und die schmähliche Vernichtung unseres Vaterlandes sprechen wollte, wie müßte ich da stündlich Episteln an Sie abgehen lassen, welche Feder müßte mir zu Gebote stehen, welche Schreibfreiheit von außenher vergönnt seyn, um Alles zu sagen, was schmerzlich an meinem Herzen nagt, was mich mit Wuth der Unterdrückung und der Ohnmacht füllt, was meinen Blick in die Zukunft in ein unerforschliches Irrgewinde banger Zweifel führt! Nicht jene feigen Klagen gehen aus meinem Munde, welche unsere jungen Dichter in marklosen Reimereien er- <433:> heben, die ewig um die Vergangenheit wimmern, ohne für die Gegenwart zu handeln; aber viel mehr wirken meine Klagen und meine Trauer auch nicht, wiewohl sie nicht aus einer poetischen Entkräftung, nur aus lebens- und thatendurstigem Muthe entspringen, und das ist’s eben, was mich ergrimmt. Fast alle Völker sind gesunken, am meisten das unsre, gerade da, wo seine Kunst und Wissenschaft eine Höhe erreicht hatten, von welcher herab es alle übrige Nationen in Staub treten konnte – und Himmel! muß man’s nicht mit verbissenem Groll ansehen, muß man nicht überall schweigen, wenn man nicht die Küsten von Cayenne oder Domingo begrüßen, oder von dem, für den man mit Wort, Vernunft und Waffe streiten möchte, selbst verlacht und verrathen seyn will. Ich hasse das Politisiren, wie man’s jetzt treibt; denn jeder, der nur Zeitungen lesen kann, glaubt die Kunst zu verstehen, die nach meiner Ansicht die Blüthenkrone und der Fruchtkern einer tiefen, allumfassenden Einsicht der Weltgeschichte und eines geistvollen Überblicks des Ganzen ist, wozu noch überdies das Talent der Staatsklugheit gehört. – Wie muß ich mich nach dieser selbstgemachten Forderung unfähig fühlen, ein Werk zu betreiben, zu welchem sich jeder stark genug glaubt, den seine wackern Füße wohlbehalten aus der Schlacht bei Jena zurückgebracht haben, und der nun, wie viele der <434:> Kameraden, die zur Bewunderung kluge Frage aufwirft: „Was war nach der Schlacht bei Jena zu thun?“, da doch vor derselben niemand gewußt, noch gesagt, in derselben eine geringe Zahl nur gethan hat, was vernünftigerweise zu thun war\1\. – Ich breche mit Willen ab, denn dieses Thema ist unerschöpflich, und die Bescheidenheit verletzt, sobald ich Ihnen nicht das Resultat meines Denkens, sondern es selbst in seiner Umständlichkeit vorführe. Also haben Sie gütigst Nachsicht, denn wess’ das Herz voll ist, geht der Mund über, und ich wollte ja nur sagen, wie unendlich lieb und wichtig mir es wäre, wöchentlich einige Stunden Ihre Meinung über die Zeitereignisse zu vernehmen, und gestärkt, oder aufgerichtet, oder belehrt, oder beherzigt von Ihnen wegzugehen.
Ich habe Gedanken von Verbindungen edler deutscher Jünglinge und Männer, von Erbverbrüderungen in Weisheit, Muth, Liebe, Kraft und Tugend, die jetzt geschehen sollten, um den Kern <435:> herrlicher Deutschheit zu retten, und gleich jenen bewunderten Kriegern ihre Schlachtglieder durch Ketten an einander zu schmieden, und so vereint in Sieg oder Tod zu dringen. Doch nicht mit dem leiblichen Tode ist es jetzt gethan, der fruchtet zu nichts, als daß der Guten wieder weniger geworden sind; ihre Tapferkeit muß darinnen bestehen, fremder Sitte, Sprache, Meinung, so lange es Noth thut, in Geheim, sowie’s die Zeit vergönnt, öffentlich zu widerstreben, das Fremde wie Gift und Pest mit Abscheu von sich zu stoßen, und in seinen Söhnen dem Vaterlande Retter und Rächer heranzuziehen, die um so furchtbarer werden müssen, je mehr sie den Haß mit der Muttermilch eingesogen haben, je mehr sie mit Besonnenheit und Grundsatz zu Feinden gebildet worden sind. Denn bleiben können diese Umwälzungen nicht; wer nur zerstört, nicht wieder baut, wer schnell einreißt, aber auch schnell herstellt, den überleben seine Werke nicht, und Vieles muß er bei seinem Leben wieder einstürzen sehen.
Doch – ich breche abermals ab. Gott weiß, wie es kömmt, ich will anfangs an niemand kürzere Briefe schreiben, als an Sie, und sie werden an keinen Menschen auf der Welt so lang. –
Beiliegende Skizzen sollten Sie gedruckt zu lesen bekommen (bis auf die Gedanken über Macchiavell); aber das Morgenblatt, welches weit geringere und schlechtere Dinge von mir aufge- <436:> nommen, hat sie mir zurückgeschickt. In Rücksicht der „Gedanken über Eroberer“ ist mir’s auch nun lieb gewesen; denn, wenn auch der Schluß problematisch ist, so bin ich doch gar nicht mehr geneigt, ihn so zu lassen. Außer vielen andern Mängeln leuchtet die Apologie (also nicht die Wahrheit) des Einen zu sehr hindurch, kurz, es hat sich hierinnen nur das Glauben, nicht das Sehen ausgesprochen, und wenn sich der Jüngling vielleicht auch jetzt wieder, wiewohl auf entgegengesetzte Weise als damals, irren kann, so scheint ihm doch der letztere Irrthum weit schwerer zu erweisen.
Die Gedanken über Macchiavell habe ich lediglich aufgesetzt, um ein strafendes oder billigendes Wort von Ihnen zu vernehmen. Sie dürfen nur ein „wahr“ oder „falsch“ oder „nicht genug“ darüber sprechen, und es wird hinreichen, mich auf einen bessern Weg, oder tiefer in die Sache hinein zu führen. Denn wahrlich, ich erkenne es noch nicht klar, und es ist darum gut, daß ich nicht die Geschichte meiner Zeit jetzt zu schreiben habe.
Das Bild des modernen Geschichtschreibers ist endlich das, wovon ich Ihnen schon geschrieben, und welches ebenfalls mit Bescheidenheit auf Ihren Richterspruch wartet. Aber, theuerster Mann, seyen Sie ja, wie der beste Vater, auch der strengste. Nicht Duldung und Nachsicht verlange ich; um <437:> diese bitte ich nur, so lange ich spreche, aber habe ich ausgeredet, dann richten Sie unerbittlich streng, ohne Ansehen des guten Willens, der mit flehenden, schmeichelnden Augen neben der stummen, laut verklagten That steht.
Was endlich mein Buch betrifft – des Helden Leben ist durchgeführt bis ein Jahr vor seinem Tode, zwei Beilagen noch auszuarbeiten, sonst Alles fertig, von neuem abgeschrieben, um mit eigenem Auge und eigner Hand nachhelfen zu können; die Hälfte Herrn Cotta schon seit 8 oder 10 Wochen ohne alle Forderung bis jetzt, aber mit bescheidener Berufung auf Ihr Hoffnung gebendes Wort abgesendet, worauf noch keine Antwort erfolgt ist. Was und wie weit es der Verfasser selbst durchschauen kann, fällt er gewiß ein richtiges Urtheil; aber er sieht sich gezwungen es zu verschweigen, weil, sobald er’s laut machte, weder vom Druck, noch von Ihrer Vorrede oder Recension mehr die Rede seyn könnte.
Ich soll Ihnen das fertige Manuskript zusenden, so haben Sie geäußert. Wird das auch jetzt noch Ihr Ernst seyn, wird er’s auch bleiben, wenn Sie einen Wälzer von 30 Bogen vor sich liegen sehen, der sich im Sinne und Meinung über seine zahllosen Brüder erheben will, in dem, was wirklich erreicht worden, weder den erhabenen Mustern der ewiglebenden Alten, nach dem tief- <438:> verehrten Urbilde, das so nahe vor ihm erhebend und herablassend steht, auf seine Welt nahe kömmt? Ich fürchte sehr, daß es Ihnen einige Überwindung kosten wird.
Noch ist etwas Wichtiges zurück, eine Frage, die ich gern so kurz wie möglich stellen möchte, um Ihnen bei der Antwort Zeit und Umschweif zu ersparen. Wenn ich auch schon manches Nöthige beim Excerpiren eingesehen, so gilt dies doch nur für den bestimmten und besondern Gegenstand, für welchen ich gerade excerpirt habe, und ich weiß nicht, wie ich es zeitersparend und an Stoff gewinnend einzurichten habe, wenn ich nun aus allen Schriften für alle Zeiten und für jeden Standpunkt excerpiren will. Hiebei bekümmert mich weniger das Wie?, wiewohl es dabei auch Kunstgriffe geben muß, weit mehr das Was?, und ich bitte Sie um Geduld bei einer Frage, die Ihnen vielleicht so leicht gelöst scheint.
Unser guter Schubert hat das Glück gehabt, mit Göthe im Karlsbad oft zu sprechen, ihm selbst sein Werk vorzulesen, zu erläutern und den herrlichen Genius selbst darüber zu vernehmen. – Köthe ist verreist, aber gesund, so viel ich weiß. Adam Müller\1\ wird über das Erhabene und <439:> Schöne lesen, Schubert eine Encyklopädie der Naturwissenschaften vortragen, und beide Vorlesungen sollen nach Müllers Plane sich auf einander beziehen. – Hartmann wird eine Sammlung von Gedichten seiner Freunde herausgeben, und Umrisse von den Werken hiesiger Maler dazu geben. – Ich arbeite, so gut ich kann; oft könnte ich aber wohl mehr thun, wenn ich meine Zeit noch gewissenhafter benutzte, wenn mir der Tag durch Privatstunden nicht zerstückelt würde, und nicht eine süße Sorgfalt mich oft auch in der Ferne beschäftigte. Völlig bin ich nun zur Einsicht gekommen, daß mir ein Amt nothwendig sey, daß es aber ein Lehramt, höchstens eine Bibliothekarstelle seyn müsse; jenes das Beste, weil es meinen Trieb stillt und zu eigner Vollendung durchaus nöthig ist.
Wie der Sänger des Horaz, der ungebeten niemals, aufgefordert aber ohne Ende singt, also auch ich: erst verschlossen, aber, wenn einmal zu reden vergönnt worden, ohne Aufhören sein Herz ergießend, müssen Sie dem redseligen Jüngling gütigst verzeihen, der so gern, so gern sein volles Herz vor Ihnen ausschüttet, vor Ihnen, der ihn selbst dazu aufgefordert, vor Ihnen, den willig und immer tief verehren und lieben wird Ihr ergebener
                                                                     H. K. D.

\1\ Zu vergleichen, was Varnhagen von Ense in „Galerie von Bildnissen aus Rahels Umgang und Briefwechsel“ Th. I, 286 u. f. über die Theilnahme des Prinzen Louis an diesem Kampfe sagt. Alles wohl erwogen, bleibt uns nur übrig, in Bezug auf jenes Ereigniß in den Schmerzensruf einzustimmen, mit welchem  der sterbende Prinz sein junges Leben aushauchte: „Est il possible!“   D. H.
\1\ Siehe dessen Charakteristik in dem oben angeführten Werke von Varnhagen Th. II, 143 u. f.   D. H.

Emendationen
gewinnend] ge-lwinnend D (Trennfehler)
allen] al-en D (Trennfehler)

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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