Christian
Gottlieb Hölder, Meine Reise über den Gotthard nach den
Borromäischen Inseln und Mailand; und von da zurück über
das Val Formozza, die Grimsel und das Oberland im Sommer
1801, 2 Bde. (Stuttgart: Steinkopf 1803/04), Bd. 2,
173-178
Kleists (?) Dramentheorie
¢ A r i V t o t e l o u V
p e r i p o e t i c h V
- In dem Kaufhause
zu Unterseen fanden wir einen Niederdeutschen,
welcher von der nehmlichen Gletscherreise durch das Oberland
zurükkam. Er sprach mit Begeisterung von den Schönheiten
des Thunersees und den Wundern des Oberlands, und wünschte
nur, wie er sagte, daß Göthediesen Kreis durchlaufen,
und ihn mit eben der Reinheit des Ausdruks und der Empfindung
schildern möchte, die in seiner Reise über denGotthard
herrsche. Die Wärme, womit er sich für Göthe erklärte,
brachte uns bald einander näher; wir sprachen von den
dramatischen Verdiensten dieses Dichters, und dieses führte
uns auf eine genauere Entwiklung der Regeln der Dramatik.
Die Ideen, welche unser Landsmann hierüber äusserte, sind
zu originell, als daß ich dir davon nicht soviel mittheilen
sollte, als mein Gedächtniß aufbewahrt hat. <174:>
Sie
werden mich auslachen, fieng er an,
wenn ich Ihnen sage, daß sich die Geseze des Trauerspiels
in einer sehr einfachen mathematischen Figur vereinigen
lassen; inzwischen bin ich so sehr von der Richtigkeit
meines Sazes überzeugt, daß ich (hier hob er drei Finger
in die Höhe) sie bei allen Göttern beschwören wollte.
Zugleich ergriff er ein Messer, und krizelte folgende
Figur auf den Tisch:
Die Linie ab ist die extensive Größe
der Begebenheiten; sie liegt in der Fläche des menschlichen
Lebens; auf ihr die Zweke des Helden. Diese Linie ist
in drei gleiche Theile getheilt, af, fg, gb;
Exposition, Schürzung des Knotens, und Katastrophe.
<175:>
Die
Linie bc ist die intensive Größe der Begebenheiten,
der Charakter des Helden.
Der
Punkt a ist der Standpunkt des Zuschauers, von
welchem aus er den Gang des Helden verfolgt, den er auf
dem Endpunkte c erwartet; man könnte ac
die Directionslinie der Erwartung nennen.
Die
Linie cb, welche den Charakter des Helden andeutet,
ist grav, (gravidirt gegen ab;) das Schiksal,
welches den Helden verfolgt, ist antigrav, (erhebt den
Helden über die Linie ab.) Wäre der antigrave
Druk von ab gleich stark mit der Gravidative
von cb, d. h. kämpften das Schiksal und
die intellectuelle Kraft des Helden mit gleicher Stärke
gegen einander, so würde der Held nothwendig auf der Linie
ab fortgehen müssen.
Wäre
der Druk des Schiksals immer gleichmäßig wirkend, aber
mächtiger, als der Charakter des Helden, so müßte dieser
in einer geraden Linie, etwa ac fortgehen, und
sich immer von seinem Zwecke entfernen. In diesen beiden
Fällen würde nun das Interesse des Zuschauers unmöglich
stark genug gewekt werden können. Der Gang des Helden
<176:> muß also in parabolischen Linien fortlaufen
und auch hier beweißt sichs, daß dieß die Schönheitslinie
ist. Das Schiksal muß den Helden erheben, ihn von seinen
Zweken entfernen; er selbst nähert sich wieder denselben
durch seine eigene Kraft, bis er endlich in dem Puncte c
von dem Schiksal zumalmt wird.
Die
Wellenlinien, welche den Gang des Helden bezeichnen, und
mit der intensiven Größe der Begebenheiten in Verbindung
stehen, dürfen nicht in großer Anzahl und schnell auf
einander folgen, sonst würde das Interesse des Zuschauers
wieder darunter leiden; es wäre ein ermüdendes Auf- und
Absteigen.
Am
Ende des ersten Akts kommt der Held auf den Punkt d
zu stehen, in die Directionslinie der Erwartung. Hier
ahnt der Zuschauer, welche Wendung sein Schiksal nehmen
wird. Von dem Punkte d nähert er sich wieder
seinem Zwek, aber das Schiksal drükt ihn auf den Punkt e,
bis er im dritten Akt auf dem Punkte c seine
Laufbahn vollendet.
So
wie der Held gegen ab in den Durchschnitten gravidirt,
so steigt und sinkt das Interesse des Zuschauers, bis
es seinen höchsten Grad in dem Punkt e erreicht
hat. <177:>
Würde
der Held am Ende des ersten Akts in x zu stehen
kommen, so wäre die Anlage des Stükes falsch; oder man
müße bc verlängern, bis sie mit der verlängerten
ax in dem Punkte z zusammen fiele.
Je
kürzer ab und je länger bc, desto mehr
muß das Interesse steigen, desto mächtiger ist der Drang
der Begebenheiten.
Diß
ist es ungefähr, was ich von seiner Erklärung behalten
habe. Was dünkt dich davon? Wenigstens kann man dieser
Construktion Originalität nicht absprechen. Ich sagte
ihm, daß ich viel Wahres darin fände; als er aber behauptete,
man könne das Verhältniß der verschiedenen Theile des
Dramas mathematisch bestimmen, und diesen Saz eben so
gut beweisen, als irgend einen aus dem Euclid,
so antwortete ich ihm; diß könne ich nur alsdann zugeben,
wenn er mir die vierte Proportional-Zahl zu folgenden
drey Gliedern finden könne:
Gott:
Weltall = Mensch: x
Er
stuzte über diese Proportion, und sie schien ihn ergriffen
zu haben, als er endlich sagte, sein Dreyek versinnliche
und vereinfache wenig- <178:> stens die Regeln der
Dramatik ausserordentlich.
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