Bruno Hennig, Marie von Kleist. Ihre Beziehungen zu Heinrich von Kleist
(nach eigenen Aufzeichnungen), in: Sonntagsbeilage zur Vossischen Zeitung (Berlin),
12. 9. 1909, 291-293; 19. 9. 1909, 301f.
Marie von Kleist.
Ihre Beziehungen zu Heinrich von Kleist
(nach eigenen Aufzeichnungen).
Von Dr. Bruno Hennig.
Erst die neueste Kleistforschung hat begonnen, sich der Person Marie v. Kleists
zuzuwenden, die als des Dichters Cousine und vertraute Freundin, wie seine Briefe erkennen
lassen, in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt hat und die doch in seiner Biographie
nur hier und da als ein ungreifbares Schattenbild plötzlich und flüchtig zu erscheinen
pflegt. Aber nur eben die Aufmerksamkeit ist neuerdings auf sie gelenkt worden, noch
ists nur ein Name, keine Gestalt. Und doch war Marie von Kleist eine lebensvolle,
nach Betätigung drängende Persönlichkeit, die, mitten im reich bewegten geistigen und
Hof-Leben der preußischen Hauptstadt stehend, in diesem Kreise gerade den Besten ihrer
Zeit genug getan hat wie wenige: die nahe Freundin Luises, die zuerst der preußischen
Königin die Welt der Literatur erschloß und damit den Grund legen half zu der
folgenreichen Verbindung preußischen Hof- und deutschen Geisteslebens; Heinrich v.
Kleists vertrauteste, allein ebenbürtige und trotz Henriette
Vogel letzte Freundin und Geliebte; und in ihrem Alter wieder als mütterliche
Freundin Elisa Radziwills deren Trost und Beistand in schweren Herzenskämpfen.\1\
In der Kleistforschung hat
zuerst Siegfried Rahmer durch sein Kleistproblem (1903) die Aufmerksamkeit auf
sie gelenkt, nachdem schon 1873 durch Paul Lindau jene drei unvergleichlichen Briefe
veröffentlicht waren, die Kleist kurz vor seinem Tode, am 9., 10. und 12. November 1811,
an seine Cousine gerichtet hat\2\ und
die als einzige Überreste eines reichen Briefwechsels ein
plötzliches helles Licht auf einen Freundschaftsbund werfen, der in all seiner Reinheit
und Schönheit uns sonst völlig verborgen geblieben war. Rahmers Hypothese, daß ein
Zusammenhang zwischen Maries Ehescheidung und ihren Beziehungen zu Heinrich bestehe, ist
inzwischen von Minde-Pouet, den Herausgeber
von Kleists Briefen, widerlegt worden. Das schmälert indes Rahmers Verdienst nicht, die
Forschung nachdrücklich auf diese bisher vernachlässigte Freundin des Dichters und ihre
Bedeutung für seine letzten Lebensjahre hingewiesen zu haben. Er selbst hat seitdem neue
Nachrichten über das Ehepaar Friedrich Wilhelm und Marie v. Kleist erbracht,\3\ und von Minde-Pouet ist die Publizierung
eines größeren Materials, das er zum Teil bereits in seiner Edition der Kleistbriefe
verwertet hat, wohl demnächst zu erwarten. Im Folgenden bin ich in der Lage, ebenfalls
einige Briefe und Aufzeichnungen Maries darzubieten, die ich auffand, als ich in den
letzten Monaten zu völlig anderen Zwecken den nach Berlin
vererbten Teil ihres schriftlichen Nachlasses durchlas. Sie werden, hoffe ich, das zu
erwartende Material Minde-Pouets in willkommener Weise ergänzen.
Der Versuch einer
biographischen Skizze dieser Frau wird sich vielleicht einmal lohnen, wenn erst das ganze
Material vorliegt, denn ihr Lebensweg verbindet aufs eigentümlichste und <292:>
charakteristischste verschiedene Centren und verschiedene Epochen preußischer Geschichte.
Heute sollen nur auf Grund des ganzen mir zur Verfügung stehenden handschriftlichen
Materials einige Angaben über äußere Lebensumstände und Charakter dieser Frau geboten
werden, soweit sie zur Illustrierung ihres Verhältnisses zum Dichter und zur Erläuterung
ihrer unten wiedergegebenen eigenen Aufzeichnungen notwendig erscheinen.
Maries Verwandtschaft mit
Heinrich ist nicht so nahe, wie die nach ihrem eigenen Vorgang in der Kleistliteratur
üblich gewordene Bezeichnung Cousine erwarten läßt. Ihr Mann gehörte dem Muttriner,
Heinrich dem Damenschen Ast einer Geschlechtslinie an, die sich bereits im
15. Jahrhundert in diese beiden Äste teilt. Also lediglich Geschlechtsgenossen,
nicht Vettern im eigentlichen Sinne sind Friedrich Wilhelm und Heinrich von Kleist. Marie
ihrerseits stammte aus einer italienischen Familie, die erst um die Mitte des 18.
Jahrhunderts nach Preußen gekommen zu sein scheint und deren Name hier um die Mitte des
19. wieder untergegangen ist. Sie war die Tochter des 1778 verstorbenen Geheimen Rates
Albert Samuel v. Gualtieri, dem erst im Jahre 1769 ein preußisches Anerkennungsdiplom
seines Adels ausgestellt worden war, und der Margaretha Bastide. Außer einer Schwester,
die an den vom Jahre 1806 her unrühmlich bekannten Obersten v. Massenbach
verheiratet war, kannte die Kleist-Forschung bisher noch einen Bruder Maries, der als
Major in den diplomatischen Dienst übertrat und als preußischer außerordentlicher
Gesandter und bevollmächtigter Minister in Spanien, wie es scheint durch Selbstmord, im
Jahre 1805 starb. Die Rangliste von 1806 nennt jedoch noch zwei Kapitäne, einen
Stabskapitän und einen Premierlieutenant v. Gualtieri, die nach der Annahme der
Adelslexika sämtlich zur Deszendenz des 1769 in den preußischen Adel aufgenommenen
Albert Samuel gehören müssen. Wenigstens für einen finde ich in Maries Briefen die nahe
Verwandtschaft mindestens sehr wahrscheinlich gemacht: In einem Brief, den sie im Dezember
1808 an ihren Sohn richtet, beklagt sie unter dem vielen Unglück dieses Jahres namentlich
la mort de votre bon et admirable oncle que je pleure tous les jours.
Der zweiten Auflage der Rangliste von 1806 (vom Jahre 1828) zufolge starb im Jahre 1808
der Kapitän v. Gualtieri im Regiment Arnim. Marie betrachtete sich als Berlinerin.
Obwohl ihr Mann in Potsdam in Garnison stand und sie selbst sowohl in den letzten Jahren
vor der Ehescheidung als auch häufig nachher zu nicht nur vorübergehendem Aufenthalt
ihre Freundinnen und Verwandten auf dem Lande zu besuchen pflegte, schreibt sie doch in
einer ihrer undatierten Aufzeichnungen, wohl aus den zwanziger Jahren, es sei ihr schwer
geworden, Berlin zu verlassen, ein Ort, wo ich gebohren, erzogen, alt
geworden.\1\ Einem oder dem anderen
Hofe der Residenz, möchte ich annehmen, hat sie schon frühzeitig nahegestanden,
vielleicht als Hofdame angehört.
16 Jahre älter als Heinrich
ragt Marie v. Kleist doch etwas tiefer ins 18. Jahrhundert hinein als dieser. Sie
verfällt in ihren Briefen leicht und wie gewohnheitsmäßig ins Französische in
ein Französisch freilich, das sie nicht eben mit höfischer Eleganz handhabt. Aber auch
in ihrem Deutsch hört man gelegentlich die Rokkoko-Eindrücke ihrer Jugend nachklingen.
Lasse mich, mich erwärmen an den Stralen Deiner Tugenden schreibt sie einmal
an ihren 17jährigen Sohn. Alles Gespreizte und Unnatürliche jedoch, das unserm Empfinden
nach solchen Phrasen anhaftet, war ihrem Wesen völlig fremd. In ihrem warmen,
lebhaften Empfinden schmolz sie unbewußt allen überkommenen Rokkokozierrat zu
organischen Gebilden um, und selbst dem verblasenen Tugendbegriff, der stets
das Zentrum ihrer Lebensphilosophie gebildet hat, wußte diese warmherzige,
charakterstarke Frau für ihr eigenes Leben einen sehr konkreten Inhalt zu geben, der ihr
Ruhe, Festigkeit und einen sicheren Richtepunkt in manchen Stürmen gegeben hat. Nie
zeigte sie eine bloße kalte Verständigkeit sie, deren ganzes Wesen nach ihrem
eigenen Ausdruck Herzlichkeit war. Diese Wärme ihres Empfindungslebens und die
daraus hervorgegangene, vielleicht nicht eigentlich tiefe, aber ihrer selbst gewisse und
Tun wie Denken stets wesentlich mitbestimmende Religiosität weisen Marie v. Kleist
trotz einzelner Reminiszenzen an die Welt Friedrichs des Großen, in der sie aufgewachsen
war, doch einer völlig anderen Epoche zu. Verstand bei mir ist Begeisterung
des Gemütes schreibt sie echt romantisch, die hervorgehobenen Worte mehrfach
unterstreichend. Nur war ihr andererseits auch jedes unklare Schwärmen und jedes
unkritische Gehenlassen ihres Dranges nach reiner, herzlicher Freundschaft fremd. Es war,
wie Hedwig v. Olfers, die ihr ebenfalls nahegestanden hat, bei ihrem Tode schrieb:
Der Begriff von Geist und Herz konnte bei ihr nicht getrennt werden; ihre Gedanken
waren von der Wärme und Innigkeit gütevoller Gefühle, und diese Gefühle von der
Besonnenheit und Klarheit ihres Verstandes durchdrungen.\1\
Sie hatte keine
hervorstechenden äußeren Talente, auch kein eigentlich schriftstellerisches,
trotz ihres treulich betätigten Grundsatzes So lange der Mensch sehen kann, muß er
schreiben und auch trotz manch treffenden Ausdruckes und trotz des hohen Schwunges,
zu dem sie sich hie und da in ihren Aufzeichnungen erheben kann. Aber sie war eine
Lebenskünstlerin von nicht gewöhnlicher Begabung. Voll lebendiger Anteilnahme an allen
künstlerischen, insbesondere allen literarischen Erscheinungen, und auch für
philosophische und wissenschaftliche Lektüre interessiert, war sie, wie es scheint,
gewöhnt, sich mit jedem Werk, das ihr Interesse erregte, sich in einer kurzen, am
liebsten schriftlichen Kritik auseinander zu setzen. Nur übte sie jene höhere Art der
Kritik, die selbst dem Unbedeutenderen gegenüber in erster Linie auf das Positive
gerichtet ist, und die, nicht als eigentlicher Zweck der Lektüre betrachtet, deshalb auch
den literarischen Genuß nicht beeinträchtigt. Wir wissen, daß Kleist ihr seine
Manuskripte zuzusenden pflegte,\2\ und für
ihre Anteilnahme an seinen Werken gibt einer der unten gedruckten Briefe einen neuen
Beweis. Aber das eigentlichste Gebiet ihrer Lebenskunst war doch der gesellige Verkehr von
Mensch zu Mensch. Sie nahm es ernst mit allen ihren Beziehungen zu Mitmenschen, ja sie war
gewöhnt, jede auf tieferer geistiger Verwandtschaft basierte Freundschaft als
unmittelbare Fügung Gottes zu betrachten. Das gab ihrem von Natur warmen, herzlichen
Entgegenkommen auch einen sittlichen Ernst, der wohl geeignet sein konnte, in allen, denen
sie nahe getreten ist, jenen Enthusiasmus zu erregen, den sie in ihrem Alter
einmal im Gegensatz zu Passion und Liebe als die eigentliche
Empfindung bezeichnet, die ihr in ihrem Leben stets entgegengebracht sei. Eine besondere
Seite ihres lebendigen Interesses für den Mitmenschen waren ihre ausgesprochenen
pädagogischen Neigungen vielleicht weniger glücklich in der Praxis betätigt, in
den mit Ermahnungen und Warnungen ein wenig überladenen Briefen an den Sohn, als in
trefflichen theoretischen Erörterungen.\3\
Der Überlegenheit ihrer eigenen ernsten Liebefähigkeit über die gewöhnliche
Oberflächlichkeit gesellschaftlichen Treibens war sie sich wohl bewußt. Eine
Aufzeichnung über ihren Umgang mit der Königin Luise läuft in die dankbare Anerkennung
aus, daß doch einige Male in diesem kalten Leben die großen,
riesenhaften Forderungen ihres Herzens befriedigt worden seien, d. h. die
Forderung von Geist, Verstand, Gemüth, verbunden mit der größten Liebe für mich
[und] mit einer Würdigung meines Geistes. Daran schließt sich dann aber eine
Klage, wie selten sie doch auf Erden solche wahre Anteilnahme am Nebenmenschen gefunden
habe: Die meisten Menschen habe ich gratis geliebt, mich wenig darum bekümmert wie
sie gegen mich gesind waren, ob sie mich nur verstehn konnten. Ihr Lieben war kein Lieben,
es war kein Hassen, aber ich amusirte sie, das ist überhaupt, was die
meisten Menschen Lieben nennen. Wenn man betrachtet, wie lau, wie zerstückelt die
menschliche Liebe zu Gott ist, so kann man sich nicht wundern, das es so wenig Liebe giebt
für den Neben Menschen. Mangel an Nachdenken ist der Haupt Grund zu dieser Kälte im
Menschen. <293:>
Ich habe diesen Hauptzug
ihres Wesens, der doch der normalen Freundschaftsschwärmerei ihres Zeitalters nicht
einfach gleichgesetzt werden darf, deshalb so hervorgehoben, weil von hier aus die warme
Anteilnahme der verheirateten Frau für ihren
genialen jüngeren Verwandten, der ihr seinerseits mit wahrer Leidenschaft entgegenkam,
die allein zulässige Deutung erhalten kann. Sie ist dem Dichter, der alle ihre
Forderungen an echte Freundschaft so vollkommen erfüllte, im Bewußtsein ihrer
Charakterstärke sicherlich sehr weit entgegengekommen eben so sicher aber die
Grenzen des beiderseitigen Entgegenkommens mit ruhiger Bestimmtheit wahrend. Das starke
ethische und religiöse Moment, das sie in ihren Freundschaftsbündnissen vorwärts trieb,
muß ihr zugleich ein sicherer Schutz gegen jede Verletzung von Sittlichkeit und Sitte
gewesen sein. Es existiert von ihrer Hand das Konzept eines Briefes mit der Anrede
mein lieber Freund, das mit den Worten schließt: Warum sollte Gott nur
Ehen zusammen fügen, warum nicht Herzen, Geister, Gemüther, warum nicht mit einem Worte
Menschen, warum muß denn immer Sinnliches mit in den Verbindungen sein? Es läßt
sich denken, wie sie von solchem Standpunkt aus sich des stürmischen Vetters gütevoll
annehmen und ihn doch mit leiser, schonender Hand stets in bestimmten Schranken halten
konnte. Sie hatte etwas von dem Weimarer Ideal der sittigenden, im eigentlichen
Sinne maßgebenden edlen Frau,\1\ das
wir sonst in Kleists Leben wie in seinen Werken so völlig vermissen.
Minde-Pouet, der u. a.
auch über Maries Briefe an ihren Mann verfügt, ist bereits mit Entschiedenheit für die
Unschuld Maries an der Zerrüttung ihrer Ehe eingetreten. Ihm verdanken wir auch die
Nachricht, daß in der erst am 2. November 1812 erfolgten gerichtlichen Ehescheidung
der Mann für den schuldigen Teil erklärt wurde.\2\ Aus der Ehe stammten außer zwei jung gestorbenen Töchtern ein
Sohn, der bei der Scheidung 19jährige Adolf, und eine Tochter, die 12jährige Luise oder,
wie sie gewöhnlich genannt wurde, Lulu.\3\
Beide verblieben in den engsten Beziehungen zur Mutter, wenn auch Adolf, wenigstens in
finanzieller Hinsicht, vom Vater nicht völlig getrennt erscheint. Sicher ist nach den mir
zur Verfügung stehenden Briefen, daß Marie schon vor der Scheidung, wenn nicht dauernd,
so doch für lange Zeiträume von ihrem Gatten getrennt lebte. Leider ist in den Daten
ihrer Briefe der Ort mehrfach fortgelassen, doch kann ich aus den mir vorliegenden, in
diesen Jahren noch nicht sehr zahlreichen Briefen an ihren Sohn, der seit Oktober 1809
Schüler des Grauen Klosters in Berlin war, folgendes Itinerar feststellen: Vom Dezember
1807 und August 1809 ist je ein Brief aus Bahrensdorf diktiert, einem Gute bei Beeskow,
das ihrer Freundin Frau von Berg gehörte. Zeitweilig muß sie auch im Jahre 1807, einer 4
Jahre später niedergeschriebenen Erinnerung zufolge, bei ihrer Schwester krank gelegen
haben. Auch im Oktober und Dezember 1808 ist sie mit ihrer Tochter vom Gatten und vom Sohn
getrennt. Doch müssen für die Beurteilung dieser Trennungen natürlich die kriegerischen
Ereignisse und die Folgen des Krieges berücksichtigt werden. Im Sommer 1809 scheinen die
Gatten wieder vereinigt gewesen zu sein.\4\
Dann aber ist sie von spätestens September 1809 bis frühestens Ende April 1810 in Bialokosch
in Posen bei ihrer Schwester Massenbach zu Besuch,\5\ und zeigt erst am 7. November 1810, wahrscheinlich doch auf der
Rückreise aus Posen, aus Friedersdorf im Kreise Lebus, wo ihre Freundin Gräfin
Moltke jetzt als Frau von der Marwitz wohnte, ihre bevorstehende Ankunft in Berlin an. Ein
kleines in Berlin geschriebenes Billet, von Adolf mit der Aufschrift Ende
1810 versehen, scheint auf längeren Aufenthalt daselbst zu deuten. Sie hatte in
jenem Briefe aus Friedersdorf die Absicht ausgesprochen, in Berlin bei der Familie von
Haeseler, Verwandten der Frau von Berg, Quartier zu nehmen. Damit stimmt überein, daß
der nächste Brief vom 6. Mai 1811 aus Sakrow, dem damals Haeselerschen
Landsitze nahe bei Potsdam, datiert ist. Im Juni 1811 schreibt sie aus Groß-Giewitz,
dem gräflich Voßschen Gut in Mecklenburg-Strelitz, wohin die Tochter der Frau von Berg
verheiratet war. Gleich der erste Brief von dort enthält jetzt sehr deutliche Anzeichen
einer bereits völlig gestörten Ehe.\1\
Aus Giewitz sind die Briefe bis zum Januar 1812 datiert. Dann scheint sie nach Berlin
gezogen zu sein, und die Briefe beginnen erst wieder, als Adolf im Felde ist.\2\ Aus Potsdam selbst ist, soweit die
Aufschriften erkennen lassen, kein Brief geschrieben.
Zu einem persönlichen
Verkehr Maries mit Heinrich v. Kleist bleiben somit nach langer Trennung nur die sehr
wahrscheinlich in Berlin verlebten Monate November 1810 bis April 1811 übrig. Hier aber
wird sich diese alte, schon aus Heinrichs Potsdamer Militärjahren stammende Freundschaft
auch wirklich wieder stark belebt haben, und an diese Zeit, vermute ich, wird Marie Kleist
gedacht haben, als sie in ihren Erinnerungen an Heinrich (unten No. VII) von der
ersten Zeit seiner Liebe sprach. Gleichwohl fällt noch in diese selbe
Zeit von Maries Berliner Aufenthalt\3\
Heinrichs nähere Bekanntschaft mit der Frau, die seine von Marie mehrfach ausgeschlagene
Aufforderung zu gemeinsamem Tod schließlich annehmen richtiger, sie ihm ablisten
sollte, und die nur durch diese Exzentrizität des Empfindens seine natürlicher und edler
denkende ältere Freundin zurückdrängen konnte. Die durch den alten Körner
überlieferte Tradition, Kleist habe eigentlich eine andere Frau geliebt, als die, mit der
er sich erschoß, trifft ganz gewiß das Richtige.\4\ Ein Ersatz für seine Liebe zu Marie ist diese letzte todbringende
Freundschaft nicht gewesen. Das beweisen meines Erachtens zwar nicht die
leidenschaftlichen Aussagen Maries über Henriette Vogel und ihre Beziehungen zu Kleist,\5\ wohl aber dessen eigene letzte Briefe an
seine Cousine. Kann es Dich trösten, wenn ich Dir sage, daß ich diese Freundin
niemals gegen Dich vertauscht haben würde, wenn sie weiter nichts gewollt hätte, als mit
mir leben? Gewiß, meine liebste Marie, so ist es; es hat Augenblicke gegeben, wo ich
meiner lieben Freundin, offenherzig, diese Worte gesagt habe
Es war ein
besonderes Verhängnis, daß Marie, deren letzte, noch in Unkenntnis seiner Absichten
geschriebene Briefe schon fast genügt hätten, Kleists Entschluß zu sterben,
wieder rückgängig zu machen,\6\ im
letzten Augenblick durch Krankheit verhindert wurde, ihre ausgesprochene Absicht
auszuführen: zu Mitte November des Jahres 1811 nach Berlin zurückzukehren!
(Schluß folgt.)
<301:> Marie von Kleist.
Ihre Beziehungen zu Heinrich von Kleist
(nach eigenen Aufzeichnungen).
Von Dr. Bruno Hennig.
(Schluß.)
Ich lasse nunmehr die Briefe, die Marie in Kleists Todesjahre aus
Groß-Giewitz an ihren Sohn schrieb,\1\
folgen, ohne die von selbst einleuchtende Wichtigkeit einzelner Nachrichten, wie die von
der letzten Geldsendung Ulrikes, von Kleists Plan, Adam Müller nach Wien zu folgen,
u. a. besonders hervorzuheben. Die in Klammern gesetzten Teile der Datumszeile sind
in den Originalen vom Empfänger hinzugefügt. Meine Eingriffe in die Interpunktion der
fast ohne Punkt hinter einander fortgeschriebenen Briefe beschränken sich auf Kommata und
Punkte. Die Orthographie ist natürlich unverändert geblieben, abgesehen von der durch
eingefügte Punkte notwendig gewordenen Einsetzung der Majuskel an Stelle kleiner
Buchstaben.
I.
Großen Gievitz par Neu Strelitz
[Juni 1811]
(Schluß eines 8seitigen bis hierher deutsch geschriebenen Briefes.)
Jai envoié a Henri Kleist deux lettres par la Poste et deux par
lEmpire(?). Sil na pas reiçu celles par la Poste, il doit aller al la
Poste pour les reclamer absolument. Lune étoit du 5 ou 6 Juin pour lui annoncer la
réception de sa lettre et lui demander ses\2\
ouvrages, (von hier an quer an den Seitenrändern geschrieben) et
une autre du neuf, pour repêter mes demandes et lui dire que javois reçu la
seconde lettre, quil mavoit écritte. Il doit donc sinformer a la Poste,
car elles sont partie de Strélitz, car ici il y a un ordre pour la poste comme nulle
part. Kleist doit mécrire quelques mots pour me dire, sil a reçu les
lettres, dont je parle, et sil ne les a pas, se donner de la peine pour se les
procurer.
II.
den 24. octobre 1811. Gr. Gievitz
(Nach Klagen über Vernachlässigung durch Sohn und Schwester, die beide
nicht zum Geburtstag gratuliert haben:) Überhaupt sind meine Bekannten recht
nachläßig. Heinrich Kleist hat in diesen 4 Wochen einmal geschrieben. Obgleich ich ihm 4
Briefe bey verschiedenen Veranlaßungen zu geschickt habe, so ist keine Antwort auf diesen
4 Briefen erfolgt. Gehe doch gleich zu ihm und sehe, woran das liegt.
Voïez,
si sa situation est peut-être si triste, quil na pas même envie den
parler. Je vous avouerai que mon intention étoit de garder largent, que sa soeur\1\ ma remis pour lui, jus qua
loccasion, pour la quelle cet argent est déstinée,\2\ mais sil étoit trop malheureux, je lui en donnerai une
partie tout de suite. Seulement il faut que je sache, sil est a Berlin, pour que
largent puisse lui être remis et ne se perde pas. Or comme je ne reçois aucune
nouvelle, je commence a craindre quil naie quitté Berlin dans son désespoir
sans me le dire, et quil ne soit parti pour Vienne a pied et sans argent, et cela me
feroit une peine inéxprimable, pouvant le soulager dans ce mal la. Ecrivez moi donc tout
de suite sil est a Berlin et ce quil fait. Allez y des que vous recevez cette
lettre. Mais ne le remettez pas, je vous en prie, car il ne faut jamais remettre de
soulager un malheureux. Vous recevez cette lettre Dimanche vers le soir. Allez tout de
suite chez lui et puis écrivez moi dans le même instant, il est a Berlin, voila tout.
Si vous apportez ces deux lignes encore le Dimanche avant 7 heures a la poste, je les
reçois Mercredi et alors je puis y repondre Jeudi le 31 octobre, et il reçoit son argent
le même jour ou le lendemain au plus tard. Il nest donc plus que huit jours dans la
peine. Ne soïez donc pas négligent. Lors quon ne sauroit secourir les gens par de
largent, il faut dumoins les secourir par la bonne volontée. Nachschrift auf
der ersten Seite des Briefes: Mais ne lui parlez pas de cet argent.
III.
Groß Gievitz le 31 oct.
[1811]
Je nai pas reçu de nouvelles de Henri Kleist, comme je vous
priois de men donner, et pourtant je suis fort inquiette de son silence. Les
Massenbach ne lont pas vu nonplus, mécrit aujourdhui Adelaide,\3\ ainsi donnez men tout de suite
de nouvelles, je vous en suplie
(In anderem Zusammenhang:)
Vers le 15 je serai de retour a Berlin, votre Pere mécrivant que
Winterfeldt\4\ y arrivoit
alors
Am 27.
November schreibt sie jedoch, noch immer aus Groß-Giewitz: Denke Dir, lieber Junge,
daß ich sehr krank gewesen bin, seit dem ich Dir das letzte mal geschrieben, drey Tage
bettlegerig und die übrige Zeit auf dem Sophah. Schreiben thue ich Dir noch aus dem
Bette. Ich habe solche Krämpfe gehabt, daß ich habe geglaubt, ich müste sticken.
Und noch ihr Brief vom 18. Dezember (No. V) beginnt: Meine Gesundheit ist
noch immer übel.
Es ist
bekannt, daß man ihrer Krankheit wegen ihr Heinrichs Tod verheimlichen und seine Briefe
lange vorenthalten mußte.\5\
IV.
den 10.\6\ December
[1811].
Mein liebes gutes theures Kind. Den Gram, den ich über Heinrichs Todt
habe, kann ich keinem Menschen aussprechen und am wenigsten Dir, der Du zu jung bist, um
das ganze schreckliche dieser Sache einzusehn. Heinrich war ein vortrefflicher Mensch, in
den meisten Dingen der Vortrefflichste, den ich je gesehn habe. Diese angeborene Güte,
Liebe, Sanftmuth habe ich bey keinem Menschen noch nie so eingefleischt gefunden, kein
Engel vom Himmel kann sie in einem höheren Grad besitzen. Auch war er von Natur
gottesfürchtig und fromm. Französische Litteratur, umgang mit Freigeistern hatten leider
Zweifel in ihm gebracht. Er rang, um sie loß zu werden, er kämpfte nach Überzeugung.
Das Griff seinen schwachen Körper an, dem er in seiner Jugend gewiß geschadet hatte
durch Genuß mancher Art. Übrigens war er ein Dichter. Und wenn er kein einziges Gedicht
erzeugt hätte, so war er doch seiner Natur nach ein Dichter. Er war der Poetischste, der
Romantischste <302:> Mensch, den ich je gesehn, und so war vieles in ihm, was wir
nicht erklären können, noch begreifen. Er war würklich ein Genialischer Mensch, und in
einem solchen giebt es viele Dinge, die sich nicht erklären laßen. Aber er war von einer
Rechtlichkeit, Biederkeit, ächtheit des Caracters, die mir
eigen tlich einen so großen Abscheu für allen Schein, für alles Prahlen, für alles
Absichtliche im Lebensschein\1\ gegeben.
Ach! er ist nicht mehr! ich habe einen Freund verloren wie wenige Frauen sich rühmen
können einen zu haben. Sein Verlust wäre mir immer schmerzhaft gewesen, aber die
Umstände, die ihn begleiten, machen das Gefühl zerstörend in mir. Wenn Heinrich mehr
gebetet, mehr religieuse Bücher gelesen hätte, so hätte
er diesen schauderhaften Entschluß nicht gefaßt. Wenige Menschen sind würklich ganz
irreligieus, aber sie haben das Réligieuse Gefühl so im
Hintergrund Ihres Herzens, daß in Ihrem Thun und Handeln wenig davon bemerkbar wird. Ach!
Adolph beschäftige Dich jeden Tag mit Gott, sei von seinem Willen ergriffen, habe seine
Gesetze immer vor Augen, trage sie über in allen Deinen Handlungen, um daß Du Seelig
werdest und einen sichern Maaßtab für die Zeitlichkeit habest. Adolph schone Deine
Gesundheit, denn auch das will Gott von uns haben, hast Du sie aber einst aufs Spiel
gesetzt, so häufe nicht Verbrechen über Verbrechen, sondern vertraue Deine Fehler dem
Mutter Herz
\2\
V.
Groß Gievitz den 18.
[December 1811].
Nach verschiedenen Anordnungen zum bevorstehenden Fest:
Heinrichs Todt zerreißt mein Herz. Ein Mensch mit diesen umfaßenden Anlagen, mit diesen
Talenten, mit diesem Gemüthe, so nichts nutzig endigen wie ein Lafontainischer
Romanen Held. Mit einer ganz gemeinen Frau, wie man sagt,
daß diese gewesen ist, in der er nicht einmal verliebt war, die häßlich, alt, Eitel und
Ruhmsüchtig, und sich eine Célébrität hat geben wollen
auf diese Weise. Nein Du hast kein Begriff von dem, was ich empfinde bey dem Gedanken.
Für mich ist der Verlust dieses Menschen, der mir so ergeben war,
unersetzlich. adieu.\3\
Außer
diesen gleichzeitigen Briefen finde ich in Marie von Kleists Papieren noch zwei spätere
Aufzeichnungen über die Katastrophe vom Jahre 1811, die wohl beide im Jahre 1830
entstanden sind, wenngleich nur die eine datiert ist. Die an zweiter Stelle gedruckte
scheint mir der Beginn eines größer angelegten Aufsatzes zu sein, zu dem das erste
Stück nur eine vorläufige, skizzenhafte Niederschrift darstellt. Ich nehme dabei an,
daß der, wie bei Marie gewöhnlich, etwas vage Begriff poetische Natur\4\ (in der eigentlichen Bedeutung des
griechischen Wortes?) das Verbindungsglied für die beiden disparaten und nur durch Zufall
in Maries Gedanken verbundenen Themen Fernow und Heinrich von
Kleist bilden sollte. Jeder der beiden Aufsätze steht für sich auf
besonderem Bogen geschrieben.
VI.
Der Aufsatz im Fernow\5\ über Raphael und über Bildende Künste überhaupt hat
mich vielfach schmerzlich und angenehm berührt. Das Studium der Kunst versetzt mich in
schöner lebendiger Jugendzeit und wieder in sehr schmerzlich ergreifende Momente meines
Lebens. Die intimste und beste Freundin Heinrichs kann nicht leichtsinnig durchs Leben
wallen. Jedes Studium beynahe muß sie zerreißend berühren!!!
Fernown laß ich,
anno 11, in der Zeit der Furchtbaren
Katastrofe!!
Dieser
Theil war mir gar nicht erinnerlich, auch habe ich ihn vielleicht noch nicht gelesen.
Sagen kann ich nicht, daß dieser Theil Neues für mich enthielt
(Folgt
eine kurze, sehr allgemein gehaltene, günstige Kritik Fernows)
Es (das
Buch) spricht eine ganz poetische Natur aus, das ist bey
mir alles gesagt, denn unter ganze poetischer Natur verstehe ich alles, was der
Mensch fähig ist zu leisten. Das können nur wirklich Poetische Naturen verstehn, für alle andern ist es eine dunkle Phrase. Gewiße Menschen
bedürfen überhaupt ganz verwandte Naturen, um verstanden zu werden, man lob[t] sie, man
rühmt sie, ohne zu ahnden was sie sind. (Hier brechen diese Aufzeichnungen auf der
Mitte der Seite ab.)
Aus
diesen etwas unfruchtbaren Reflexionen der beinah 70jährigen ging nun aber der letzte,
allmählich zu hohem, schönem Schwunge sich steigernde Nachruf an den toten Freund und
seine Liebe hervor, den sie dann in richtigem Stilgefühl isoliert hat stehen lassen, ohne
ihn mit einem andern Thema zu verbinden:
VII.
In Manze über Fernow den 17. Febr. 1830.
Ich laß den Fernow in Gievitz anno 11,
als die Furchtbar[e] Katastrofe mich
abzog von jeder geistigen Beschäftigung, mir sogar eine Art von Schauder für schöne
Künste einflößte, die mich in Jugend und poetischen Zeiten versetzten, denen
ein so grausames Ziel gesetzt war. Ich warf mich in Herders theologischen Schriften und in
der Fichtischen Philosophie. Ich fand beruhigung in der Tugend, wie ich
sie in allen unfällen meines Lebens gefunden. Gewaltsam war ich aus meinem Geleise
gerißen, mit blutigem Herzen suchte ich die Spuhr meines verlornen Lebens, strebte nach
Haltung. Der Verlust des einzigen Freundes, der mich durch und durch kannte, wäre schon
hinreichend gewesen, ein Gemüth wie das Meine gänzlich zu zerreißen. Welchen Eindruck
muste ein so bisares tragisches Ende auf meinen Geist, auf mein Herz, auf meiner
Individualität machen. Ich war verloren ohne meine Kinder und sehr liebe Freunde, bey
denen mir dieses unglaubliche Schicksal traf. Ich lebte still und eingezogen in meinem
Zimmer. Das Lesen und wieder Lesen der letzten Briefe, geschrieben in den letzten
augenblicken seines Daseins, war eine Art Trost durch den heftigen Schmerz, den sie in mir
verursachten. Ich hofte, kein Sterblicher könnte den überleben, und so nährte ich mich
von diesen Briefen. Je mabreuvois de douleurs! je me nourrissois de
douleurs. Oh! jamais tant que le monde éxiste, il na éxisté des lettres de ce
genre, jamais une douleur comme la mienne. Elle étoit si gigantesque, sie fort hors de la
vie vulgaire que cet éxcés servoit quelque fois a me tranquiliser.
Alle große Schicksale der Alten, alle Dichtungen der Alten waren mir begreiflich. Ich sah
deutlich eine höhere Macht. Hätte er diese Frau geliebt, so war es nichts. Daß er aber
mit der selben glühenden Leidenschaft für mich zu den Füßen einer andern sich
erschoß, davon hat die Menschheit noch kein Beispiel. Daß seine letzten Worte, seine
letzten Gedanken nur mir waren, mit der selbigen Glut, wie in der ersten Zeit seiner
Liebe, das geht über allen menschlichen Begriff, diese Glut, die er nur fühlen
und ausdrücken konnte. Was ist alle Liebe der Sterblichen hier auf Erden, was sind alle
Romane, alle Gedichte in Vergleich mit seiner Liebe und seinen Briefen. Solch ein Feuer
konnte nur in seiner Seele, in seinem Herzen, in seinem Busen lodern. Aber eben daher
muste ich sie verbrennen.\1\ Solche Briefe
können nur für einen Gegenstand geschrieben sein, die sind das heiligste im Menschen. So
spricht er sich nicht 2 Mahl im Leben aus und so kann sich auch keiner wieder
aussprechen, weil Keiner so empfinden, so fühlen kann, wie dieser unbegreifliche
Sterbliche!! Eine Poesie wie die in seinem Brief hat noch
nie éxistirt, so wie nie eine solche Art Liebe, geschöpft
aus allen Dichter[n] und Dichtungen der Vorwelt.
\1\ Über ihr Verhältnis zur Königin
Luise sind wir durch Bailleus großes Werk jetzt unterrichtet (s. namentlich
S. 114ff.) Über Elisa Radziwills freundschaftliche Beziehungen zur Familie Marie von
Kleists gedenke ich selbst demnächst ein größeres Material zu veröffentlichen.
\2\ Die Gegenwart, Bd. IV,
Jahrg. 1873 No. 31; jetzt im 5ten, von Minde-Pouet bearbeiteten Band der Schmidtschen
Kleistausgabe No. 190-192. Es sind das übrigens nicht die letzten Briefe Heinrichs an
seine Cousine: die in Kleists letzten Aufträgen an Peguilhen (in der
Gegenwart IV No. 32 S. 89) genannten Briefe müssen noch anderen Inhaltes
sein, denn Marie spricht (ebenda) von einer Bitte ihres Vetters, dem Rendanten Vogel die
Begräbniskosten zu erstatten, die in den uns bekannten Abschiedsbriefen nicht enthalten
ist. Erst von diesen Briefen konnte Marie mit Recht sagen, daß sie in den letzten
Augenblicken seines Daseins geschrieben seien (unten No. VII).
\3\ Heinrich v. Kleist als Mensch und
Dichter, Berlin 1909, I, 1, und über Marie besonders, allerdings ohne die nötigen
positiven Grundlagen, S. 392 ff. Heinrichs Vetter wird in der Kleistliteratur
gewöhnlich Christian benannt. Ich habe hier (in Übereinstimmung mit Schuster, dem
Herausgeber der Tagebücher Delbrücks) den richtigen Namen nach der Familiengeschichte
wieder eingesetzt, die ihn als Friedrich Wilhelm Christian bezeichnet, die beiden ersten
Namen hervorhebend. Er war in Dessau mit dem dortigen Erbprinzen Friedrich, nicht, wie
Rahmer eigentümlicherweise annimmt, mit dem späteren König Friedrich Wilhelm III.
zusammen erzogen worden. (Geschichte des Geschlechts v. Kleist III 3, S. 136, vergl.
auch Delbrücks Tagebücher I 63.)
\1\ Sie war geboren am 24. Oktober 1761 und
starb am 16. Juni 1831 zu Manze in Schlesien. Ihr Grab befindet sich in Grün-Hartau,
dem Pfarrdorfe von Manze.
\1\ Kondolenzbrief an Maries Sohn
Adolf, vom Empfänger datiert Berlin 23. 6. 31.
\2\ Werke V, S. 327, 492.
\3\ Ich führe zur Illustrierung einige
Sätze aus ihrem Aufsatz Über Töchter-Erziehung höherer Stände an: (Nach
Klagen über die gewöhnliche Erziehung durch Gouvernanten.)
Keine Ahnung
haben diese Miethlinge von dem, was wahre Erziehung ist. Sie halten Erziehung für eine
Arbeit, die zu gewissen Zeiten und Stunden abgemacht werden kann, wie man ein Zimmer
Schäuert, ein Kleid garnirt &c.
Erziehen heißt bey den meisten
Menschen Verbieten, Befehlen und sagen, das muß man thun, das muß man lassen. Ach! sie
ahnen nicht, daß das Haupt-Erziehungsprinzip ist: Sein
Sieht der Zögling
nichts als Vortreffliches, so wird er vortrefflich, ohne es zu ahnen, ohne es zu wissen,
und das ist die wahre Erziehung
\1\ Erich Schmidts Kleistbiographie.
\2\ Minde-Pouet Briefe, S. 491;
vgl. S. 305, Anm., und 471. Bereits ein viertel Jahr nach der
Scheidung, am 28. Februar 1813, also kurz vor dem Auszug ins Feld, vermählte sich
Fr. W. v. Kleist mit einer Brandenburger Bürgerstochter.
\3\ Adolf, ein Patenkind der Königin Luise
und als Knabe häufiger Gespiele des Kronprinzen, war der spätere
Kammergerichtspräsident und Vizepräsident des Geh. Ober-Tribunals, der 1848 als ein
Mitglied der Fronde gegen die revolutionären Neuerungen seinen Abschied nahm. Lulu
v. Kleist heiratete im Jahre 1825 den Grafen Stosch auf Manze in Schlesien. Sie war
die intimste Freundin und Vertraute der Prinzessin Elisa Radziwill. In ihrem Hause starb
1831 die Mutter.
\4\ Im Juli dieses Jahres schickt die
Königin dem Ehepaare 50 Dukaten als Beitrag zur Erziehung ihres Patenkindes Adolf.
\5\ Rahmers weitgehende Folgerung aus
Kleists Besuch in Potsdam im Februar 1810 ist also schon deshalb hinfällig, weil er seine
Cousine damals dort nicht hat antreffen können (Kleistproblem S. 160 im
Anschluß an Steig: Neue Kunde über Heinrich von Kleist. S. 6 f.)
\1\ Sie warnt ihren damals 17jährigen Sohn
vor übereilter Wahl, denn nichts ist schrecklicher in dieser Welt als eine
schlechte Ehe und Gottes Willen zuwiederer. Sie stellt Berechnungen an, wie sie mit
den Einkünften aus einer eben gewonnenen Erbschaft auskommen könne. Da ich
nun gedenke,
Louisen ganz ohne etwas von Vatern zu nehmen, zu erziehn
Will
Vater Deine Erziehung unterbrechen und (Dich) aus Deiner Pension nehmen, so laße ich mir
auch noch lieber etwas abziehn und alsdann muß ich wieder so herrum ziehn wie jetzt und
vielleicht sogar den Winter (von Berlin?) wegbleiben. Die Datierung s. unten unter
No. I. Der Brief ist schwarz gesiegelt.
\2\ Am 10. Mai oder Juni
1813 (nach der Ergänzung Adolfs) schreibt sie, sie müsse der Kriegsgefahr wegen
Berlin verlassen.
\3\ S. Kleists Brief vom
9. Nov. 1811 (Minde-Pouet Nr. 190). Vgl. Maries Brief an Peguilhen vom
12. Dez. 1811 (Gegenwart IV No. 32, Seite 89).
\4\ Bereits von Rahmer, Kleistproblem
S. 162 hervorgehoben.
\5\ Minde-Pouet S. 492 und unten
No. V. (Vgl. Rahmer Kleist S. 404f.)
\6\ S. Kleists Brief vom 10. Nov.
(Minde-Pouet 191). Den Brief vom 9. hat Marie damals noch nicht gehabt. Damit fallen
die voreiligen Schlüsse Rahmers auf Maries Charakter in sich zusammen.
(Kleist S. 405f.)
\1\ Vorher finde ich
Heinrich Kleist nur einmal genannt, in einem Briefe aus Bialokosch vom 21. April
[1810]:
Hier on mappelle en mannonçant un Cavallier,
qui demande a me voir. Je sors, je vois par derriere un homme baissé vers Lulu, et dans
le premier instant je crois que cetoit vous. Et qui étoit-ce? devinez? Eh bien?
Allons qui étoit-ce? Henri Kleist. Non.
Rühle. non. Henri Putkamer oui, cétoit lui qui est venu a
pied de Franckfort passer les fètes ici
\2\ oder les? Marie schreibt am Wortanfang ein
langes s, das hier dicht am unteren Seitenrand vom l kaum zu unterscheiden ist.
\1\ geschrieben: souer.
\2\ Vermutlich die Hauptmannsequipierung.
Vgl. Briefe No. 188.
\3\ Adelheid von Massenbach, Maries Nichte.
\4\ Im Brief vom Juni 1811 (oben
No. I) schreibt sie bereits, sie müsse vor dem Winter einige Wochen in Berlin
zubringen, denn der éxécutor des
Testaments
wird wahrscheinlich gegen diese Zeit in Berlin sein.
\5\ Siehe ihren Brief vom 12. Dez. in
der Gegenwart IV. No. 32, S. 89.
\6\ oder 16? Die Ziffer ist
korrigiert. Ist der Brief vom 10. 12., so hat Marie (nach ihrem in der
Gegenwart a. a. O. gedruckten Briefe vom 12. 12.) die letzten
Briefe Heinrichs noch nicht erhalten. Nur von seinem Selbstmord ist sie schon ungefähr am
5. Dez., wie es scheint ohne nähere Details, unterrichtet worden. Von Henriette
Vogel scheint sie in diesem Briefe daher noch nichts zu wissen.
\1\ Schreibfehler, durch das vorangegangene
Schein veranlaßt?
\2\ Ich drucke diese Ermahnungen mit ab, um
zu zeigen, daß die vorhergehende Charakterschilderung schon teilweise durch pädagogische
Nebenabsichten beeinflußt ist.
\3\ Vgl. den ebenso
abrupten Schluß in Kleists letzten Briefen.
\4\ Vgl. No. IV.
\5\ Carl Ludwig Fernow,
Kunstschriftsteller, geb. 1763 zu Blumenhagen i. Uckermark, gest. 1808 in Weimar
als Bibliothekar der Herzogin Amalie. Bekannt namentlich durch seine Römischen
Studien (3 Bände, Zürich 1806-1808), in derem drittem Bande auch der hier
besprochene Aufsatz Über Rafaels Teppiche enthalten ist. 1810 war
Fernows Leben, herausgegeben von Johanna Schopenhauer erschienen, ein Buch, das Arnim in Kleists Abendblättern günstig
besprochen hatte.
\1\ Vgl. hierzu Minde-Pouet Brief
S. 445, Anm. zu S. 10!
Emendationen
den] dem D
verheirateten] verheiraten D
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