Briefwechsel
zwischen Friedrich Gentz und Adam Heinrich Müller 1800-1829 (Stuttgart:
Cotta 1857), 133f.
Müller an Gentz, Dresden, 14. 3. 1808 Dresden,
14. März 1808.
Flach finden Sie diese Marquise von O.? und ich könnte lange nach Worten
suchen, um dieses ganz unbegreifliche, an viel weniger vortrefflichen Lesern noch
unbegreifliche Urtheil zu bezeichnen. Womit hat der Phöbus solche arge Mißhandlungen
gerade von Ihnen verdient? Denn Kleisten kann es wohl nicht weiter afficiren, da
Styl und Leben dieses Dichters, und sein unerbittlicher Muth, und seine vielleicht noch
allzuschroffe Erhabenheit keinem Blinden noch Geblendeten verborgen bleiben können.
Finden Sie vielleicht auch Reminiscenzen von Iffland in dieser Novelle, wie es einigen
Dresdener Beurtheilern begegnet ist? Also vermöchte die moralische Hoheit dieser
Geschichte nichts über Sie, der Sie doch auch das Leben von keiner flachen Seite kennen
gelernt, und durch die Apostasie von Buchstaben der Moral hindurchgedrungen sind zur
Erkenntniß der himmlischen Mächte, welche nur durch ein gewaltiges, vom Vaterhause
forttreibendes Schicksal, oder durch Schuld und Verbrechen entbunden werden? Und
Sie, leichtbeweglicher Freund, hätten der Thränen nicht nur sich enthalten, sondern
wären überhaupt kalt geblieben da, wo die Marquisin sich mit den Kindern in den Wagen
wirft? Aber nicht bloß wegen moralischer, noch so erhabener Richtung dieser
Geschichte, nicht bloß wegen Herzensergreifung und königlicher (im Gegensatz der
gemeinen natürlichen und pöbelhaften) Wahrheit sondern wegen der
unvergleichlichen Kunst in der Darstellung habe ich darauf gedrungen, daß schon das
zweite Heft damit geschmückt, und meine kleinen Arbeiten durch seine Gesellschaft
erhoben werden sollen. Kleine Arbeiten, denn mein Gemüth ist großem, und auch den
künftigen viel größeren Arbeiten Kleists gewachsen, aber sagen kann ich es nicht.
An Muth der Gedanken und an Umsicht des Geistes weiche ich nicht, aber an Muth der Stimme
und der <134:> Worte, an Resignation des Lebens und bildender Kraft erkenne ich ihn
für meinen Meister.
Überrascht werden Sie nicht in dieser Novelle: auf der zweiten und
dritten Seite wissen Sie das irdische Geheimniß, damit im Verfolg die klare
Betrachtung der Entschleierung des göttlichen Geheimnisses nirgends gestört
werde. Im gewöhnlichen Leben schürzen und lösen sich die Knoten der Schicksale von
einem Tage zum andern, und in leisem Wechsel von Verwicklung und Entwicklung wird die
leidende Seele groß und gut. Der gemeine Romandichter knäuelt und ballt die Schicksale
in einen einzigen derben Knoten zusammen, den er nachher platzen läßt oder zerhaut.
Kleist läßt die Heldin in einen solchen großen Knoten verwickelt werden, und sie ihn
selbst mit natürlicher, herzlicher Kraft wieder auflösen; aber den Leser führt er,
sanft, wie ein recht schönes Leben, aus leiser Spannung in leise Befriedigung, und so
fort: es geschieht ohne alle einzwängende Qual, und wenn die Seele am Schlusse eines
gemeinen Romans mit einem Glückseclat, mit einer brillanten Schlußdekoration belohnt
wird, aus der sie immer wieder schmerzlich in das stille Helldunkel des gewöhnlichen
Lebens und in den ruhigen Takt desselben zurückfallen muß, so bleibt hier für die ganze
Dauer des Herzens, welches sie empfindet, eine harmonische und jeder anderweitigen
Empfindung angemessene, freundschaftliche Schwingung zurück.
Das ist eines von vielem, welches ich Ihnen über diesen herrlichen
Gegenstand zu sagen habe. Was die Zeitgenossen darüber denken, ist gleichgültig!
Alles recht göttliche muß wohl dreißig und mehrere Jahre in irdischer Umgebung so
forttreiben, ehe es auch nur vom zweiten erkannt wird; dieß lehrt die
Weltgeschichte, die Bibel, und wird auch das Schicksal der Werke lehren, welche der
Phöbus verbreitet. Vielleicht sind sie etwas zu frühzeitig, und das wäre ihr
einziger, schöner Vorwurf; aber auch dieser hält nicht Stich, weil sich unter unsern
Freunden schon der zweite, der dritte, der vierte ihnen mit
Bewunderung angeschlossen hat.
Adam. H. Müller.
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