Briefwechsel zwischen Friedrich Gentz und Adam Heinrich Müller
1800-1829 (Stuttgart: Cotta 1857), 94-97
Gentz an Müller, Prag, 16. 5. 1807
Prag, den 16. Mai 1807.
Durch Ihren letzten Brief und dessen Beilage
haben Sie mir ein köstliches Geschenk gemacht. Im Grunde bedarf ich solcher
Äußerungen, wie dieser Brief sie gibt, weit mehr, als Sie der Versicherung meiner
unwandelbaren Liebe bedürfen; denn in Ihrem großen und lebendigen Geiste können
und müssen sich fast von Zeit zu Zeit noch große Revolutionen zutragen, und da ich Ihnen
längst nicht mehr folgen kann, so ist die Besorgniß wenigstens verzeihlich, daß eine
derselben mich von meiner Stelle wegspülen könnte; mit mir hingegen, da ich bis auf
einzelne <95:> Entwicklungen wohl so ziemlich mein Ziel erreicht habe, kann nichts
mehr vorgehen, das Sie von der Ihrigen verdrängte. Es ist mir daher nicht nur immer
unendlich erwünscht, sondern gewissermaßen auch immer wieder neu, zu vernehmen, daß ich
Ihnen unentbehrlich blieb.
Das Kleistsche Lustspiel hat mir die
angenehmsten, und ich kann wohl sagen, die einzigen rein angenehmen Stunden
geschaffen, die ich seit mehreren Jahren irgend einem Produkt der deutschen Literatur
verdankte. Mit uneingeschränkter Befriedigung, mit unbedingter Bewunderung habe ich es
gelesen, wieder gelesen, mit Molière verglichen, und dann aufs Neue in
seiner ganzen Originalität genossen. Selbst da, wo dieses Stück nur Nachbildung
ist, steigt es zu einer Vollkommenheit, die, nach meinem Gefühl, weder Bürger,
noch Schiller, noch Goethe, noch Schlegel in ihren Übersetzungen
französischer oder englischer Theaterwerke jemals erreichten. Denn zugleich so
Molière und so deutsch zu seyn, ist wirklich etwas wundervolles. Was soll
ich aber nun von den Theilen des Gedichtes sagen, wo Kleist hoch über Molière
thront! Welche Scene, die, wo Jupiter der Alcmene das halbe Geheimniß enthüllt! Und
welche erhabene Entwicklung! Wie unendlich viel edler und zarter und schöner sind
selbst mehrere der Stellen, wo er im Ganzen dem Gange des Franzosen gefolgt ist, z. B. das
erste Gespräch zwischen Amphitryon und seiner Gemahlin! Und welche vis comica in
den eigenthümlichen Zügen, womit er den Charakter des Sosias noch ausgestattet hat!
In Molière ist das Stück, bei allen seinen einzelnen Schönheiten und
dem großen Interesse der Fabel (die ihm so wenig angehört als Kleist), am Ende doch
nichts als eine Posse. Hier aber verklärt es sich in ein wirklich Shakespearesches
Lustspiel, und wird komisch und erhaben zugleich. Es war gewiß keine gemeine Aufgabe, den
Gott der Götter in einer so mißlichen und so zweideutigen Lage, wie er hier erscheint,
immer noch groß und majestätisch zu halten; nur ein außerordentliches Genie konnte
diese Aufgabe mit solchem Erfolge lösen. Die Sprache ist durchaus des ersten
Dichters würdig; wenn Sie nicht von Mackeln gesprochen hätten, würde mir kaum
eine aufgestoßen sein; diesen Styl nenne auch ich classisch. Die einzige Sprachunrichtigkeit
im ganzen Stück fand ich S. 109: an seinem Nest gewöhnt, ist ein
offenbarer Fehler. Alsdann hätte ich das Wort Saupelz weggewünscht,
weil es doch etwas zu niedrig ist, ob es gleich da, wo es steht, nichts desto weniger gute
Wirkung thut. <96:>
Nun sagen Sie mir doch vor allen Dingen, worüber Sie wahrlich nicht
ganz hätten schweigen sollen: Wer ist denn dieser Kleist? Woher kennen Sie ihn? Warum
hörte ich nie seinen Namen? Wie kommen Sie zu seinen Manuscripten, und wie kommt er zum
Schlosse Joux? Wäre er etwa ein Sohn von einer Tochter des alten General Tauenzien? Haben
Sie ihn vielleicht durch Gaudys kennen gelernt? Oder wie hängt das alles sonst
zusammen?
Ich freue mich unaussprechlich auf Ihren Julianus. Da ich über dieses
Kleistsche Stück so ganz, so über alle meine Hoffnung ganz mit Ihnen
übereinstimme, so ahnde ich zum Voraus, welchen Genuß mir das Ihrige bereiten wird.
Lassen Sie es nur recht bald zum Vorschein kommen! Und entziehen Sie mir auch Ihre
Vorlesungen nicht länger, als nöthig ist!
Jetzt muß ich auch, obgleich schüchterner, ein Wort über Schubert
sagen. Mit der gespanntesten Erwartung griff ich nach diesem Werk; aber kläglicher war
ich lange nicht getäuscht worden. Wenn es in Sanskrit geschrieben wäre, so bliebe mir
doch wenigstens der Trost, die Züge anzubeten, im gläubigen Vertrauen auf Ihren
Enthusiasmus. So aber ist es deutsch, und ich verstehe keine Zeile davon. Ja, ich
darf auch nicht einmal dem Verfasser (ob mir gleich der Vortrag verworren, und die
Ökonomie des Buches ganz wild und bodenlos scheint) nicht einmal einen Vorwurf
darüber machen. Denn wer, der nicht in alle Geheimnisse der neueren Physik und Chemie
eingeweiht ist, kann es unternehmen, dieß Buch zu studiren? Ich versuchte es, mich zum
Verständniß zu zwingen (auf gut Fichtisch); ich schlug mich durch alle
Geheimnisse unseres großen (mir leider sehr fremden) Lehrers Winterl,
durch alle Basicitäten und Aciditäten u. s. f., muthig hindurch, und hoffte immer
endlich einmal auf etwas Faßlicheres zu stoßen. Nun hub aber die Geschichte mit den Gegensätzen
an. Sind das Adams Gegensätze? Oder wieder ganz neue? Diesen Zweifel vermochte ich mir
nicht zu lösen. Je mehr ich las, je finsterer wurde die Finsterniß. Genug, ich
mußte es aufgeben. Und anstatt mit H. zu sagen:
Soll jeder Wunsch bei deinem Werke schweigen,
Lehr uns nur noch zu leben, um zu sterben,
Wie du zu sterben, um zu leben lehrest,
(welches ich übrigens sehr schön gesagt finde) hätte ich lieber ausrufen mögen:
<97:>
Lehr uns nur noch zu lesen, um zu lernen,
Wie Du zu lesen, um zu leiden lehrtest.
Von einzelnen Stellen, die mir gefallen haben, traue ich mich gar nicht zu sprechen, denn
ich fürchte, ich habe sie ganz anders verstanden, als sie gemeint waren.
Ich habe denn auch in Stollbergs Kirchengeschichte, nicht mit durchgängiger Befriedigung,
aber doch mit großer Erbauung und vieles mit Entzücken gelesen. Von einer Menge anderer
Bücher, die ich neulich durcharbeitete (unter anderm vier Bände einer höchst elenden
Reise durch Schweden, die mir den Arndt so verekelt hat, daß ich jetzt
den Geist der Zeit ganz zu vergessen suchen will denn es macht einen
zuletzt toll, daß derselbe Mensch so vortrefflich und doch auch wieder so grenzenlos
schlecht sein kann), citire ich Ihnen hier eins, welches zwar zu sehr außer dem Kreise
Ihrer Beschäftigungen liegt, als daß ich Ihnen zumuthen sollte, es zu lesen, von dem Sie
doch aber wissen müssen, daß es existirt. Es ist ein nachgelassenes Werk von Rulhières
in vier Bänden: Histoire de lanarchie de la Pologne; nach meinem Urtheil
das beste historische, das je ein Franzose hervorgebracht hat, und gewiß eine der
vorzüglichsten unter allen historischen Compositionen der Neueren; dabei von einem
solchen Interesse, daß ich zwei Nächte aufgeblieben bin, um es zu verschlingen.
In etwa acht Tagen werde ich nun in Teplitz seyn. Dann wird es
offenbar nur von Ihnen abhängen, ob wir uns von Zeit zu Zeit sehen sollen. Wenn Sie
einige Tage bei mir wohnen wollen, lasse ich Sie von Dresden abholen und wieder
zurückfahren, so daß Ihnen die ganze Expedition auch nicht einen Groschen kosten soll.
Denken Sie wenigstens über diesen Antrag nach. Ich sorge auch dafür, daß Sie in Teplitz
eine eigene, ruhige Stube finden, und also nach Herzenslust dichten oder faullenzen
können, wie es Ihnen belieben wird.
Leben Sie wohl, mein sehr
würdiger Freund!
G.
Vor einigen Tagen erhielt ich
einen langen Brief von meinem Vater aus Königsberg, der dort recht ruhig, froh und
gemächlich lebt. Es war mir eine außerordentliche Freude.
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