Herman
Grimm, Gustav Hinrichs (Hrsg.), Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm aus der
Jugendzeit (Weimar: Böhlau 1881), 176-179
Wilhelm Grimm an Jacob Grimm, Berlin, 3. 10. 1809
Berlin, 3. October 9.
Liebster Jacob! Unser lustiges Berlinisches Leben geht noch fort und Visitenlaufen und
Arbeiten läuft parallel neben einander, mit dem letzten thun wir auch die Buße ab, indem
wir uns den altdeutschen Bücherstaub wie Asche auf das Haupt streuen für mancherlei
Tollheiten und Lustigkeiten, die wir dort erlebt, oder wir gehen aus den elegantesten
Stuben in die alten Bücherkammern des Kochs, der jedesmal Wasser und Handtuch offerirt,
eh wir von ihm gehn. Ich will mich sogleich zu der merkwürdigen Menschen- und
Bücherbeschreibung wenden.
Vom Adam Müller wirst
Du am ehesten etwas wissen wollen. Es ist ein etwa 36jähriger,
sedater, sich Würde gebender Mann, der nicht dumm aussieht und in der gewöhnlichen guten
Manier uns allerlei erzählt hat. Das Traurigste davon war mir, daß der Kleist in dem
Kloster der barmherzigen Brüder zu Prag gestorben ist, an dem undenklich mehr verloren
ist als an dem Müller. Ich weiß nicht, fühlst Du nicht auch, daß eine gewisse Lüge
sich durch all seine Schriften verbreitet, indem er nämlich einen einzelnen richtigen
Punkt ausfindet, von diesem aber aus das Ganze überdeckt, so daß der Grundton und das
ganz einfach Wahre verschwindet? Seine Frau ist eine Polin, die sich von ihrem Mann und
acht Kindern hat trennen lassen und ein gescheidtes Gesicht hat. Müller will hier
Vorlesungen halten. Die berühmte Schauspielerin Unzelmann, jetzige Bethmann,
hab ich einmal spielen und darauf in einer Gesellschaft gesehn und gesprochen. Ihr
Spiel ist ungemein und ergötzt durch die Sicherheit und Gewandtheit, die ich noch nie so
gefunden. Im Trauerspiel werde ich sie noch sehn, dies war in einem kleinen französischen
Lustspiel. Man vergißt ganz, wie ihr äußerlich alles entgegen ist, ihre kleine Gestalt,
ihr unangenehmes Organ, das Unglück eines großen Kropfs auf der rechten Seite, ihr gar
nicht schönes, und jetzt schon altes Gesicht, sehr viel ersetzen aber ein Paar große,
lebhaftige Augen. In der Gesellschaft war sie recht angenehm und erzählte
gut. Die übrigen Schauspieler sind alle nach dem ordinären Schlag, wie eben
ihr Mann, und es ist die alte Leier wieder. Das Schauspielhaus ist sehr zierlich, aber
nicht prächtig, wie man überhaupt hier nichts Prächtiges sieht, als etwa das große
Schloß; Berlin wird immer die <177:> Spitze aller modernen, hellen, glatten,
eleganten Städte bleiben, wiewohl es an keinem Ort den Eindruck einer großen Stadt
macht. Franz Horn ist ein kleiner, dünner Mann, der ganz langsam
und auch wohl langweilig spricht und sich sehr glücklich fühlte, wenn er wieder ein Buch
herausgeben konnte. Chamisso hat sich einen altprovenzalischen Rock machen lassen,
eine alte Mütze und trägt dazu einen Spitzbart, schämt sich aber, wenn er auf der
Straße damit geht. Wunderlich ist, daß, während er so gewandt mit der deutschen Sprache
in seinen Versen umgeht, er im Sprechen sehr genirt ist; er ist nämlich ein Franzose. Der
Dichter Varnhagen ist in diesem Kriege blessirt und gefangen worden. Es ist vor kurzem ein
Roman herausgekommen: Karls Hindernisse, woran der ganze Kreis dieser hiesigen
Dichter gearbeitet und jeder ein Paar Kapitel geschrieben, es ist in der Manier des
Wilhelm Meisters und einiges ist recht gut, z. B. was Fouqué geschrieben, ich nenne es
Dir, weil es durch seine Anspielungen interessant ist. Der Reichardtische Garten kommt
darin vor, Louise, über die es schlimm hergeht. Johannes Müller wird sehr gut parodirt
und Voß. Du mußt es einmal lesen. Wen hab ich noch gesehen? Einen Doctor Wolfhart
aus Hanau, der auch Dichter ist und neulich ein Märchen herausgegeben hat mit
Steinzeichnungen vom Hundeshagen, die das Schlechteste mit sind, das ich gesehn. Ferner Buttmann,
der dem Brentano ähnlich sein soll, aber nicht ist und entsetzlich schreit.
Wir besuchten ihn nämlich
auf die Bibliothek und diese, womit ich schicklich zur Literatur übergehe. Wir haben
mancherlei gefunden und einen ganzen Arm voll Bücher mit nach Haus genommen, von denen
ich das Nöthige mitbringen werde. Sei doch aufmerksam auf die Romane von Jean Rebhu,
welche sehr vorzüglich und durchaus nach dem Simplicissimus zu nennen sind. Überhaupt
bin ich hier nach den alten Romanen, das Fach ist sehr interessant und Hagen bekümmert
sich darum gar nicht. Bei dem Koch sind wir öfter gewesen, der nun von seiner
Krankheit wieder genesen, aber wüste Streiche gemacht hat, z. B. ganze Nächte in
den Bordellen gesteckt hat und einmal daraus hervorgeholt worden, um Kinder zu
confirmiren. Ich habe für 12 Thlr. Bücher von ihm gekauft, darunter der
Simplicissimus u. a. m. Von den nordischen Sagen habe ich nur eine genommen, die
Eyrbyggia Saga, die andern scheinen mir nicht interessant: Sagan af Gunlaug
ok Skald Rafni, die Orkneyinga Saga und Landmannabok [sic], wenn Du
aber meinst, so sind sie noch immer zu haben, übrigens die <178:> besten Suhmischen
Editionen; ebenso verhält es sich mit einem Band Fischartischer Schriften (das
Ehzuchtbüchlein, podagramisch Trostbüchlein und Spital unheilsamer Narren), wofür er
2 Thlr. haben will, ich versichre Dich aber, daß es langweilig Zeug ist. Die Fabeln
aus den Zeiten der Minnesänger hab ich auch gekauft, eh ich den Meßkatalog
gelesen, indes ist es mit der neuen Edition noch weit hin. Hagen hat die ganze
Wilkinasage übersetzt und will sie herausgeben. Seine Druckereien sind übrigens durchaus
keine Geldspeculation, er giebt alles billig an die Buchhändler, die seine Freunde sind,
aber sein Treiben und seine Wissenschaft besteht in diesem Ediren. In dem neuen Heft wird
auch eine Abhandlung von Büsching über den Gral stehen, worin die gesammelten Stellen
nützlich sein können, was von ihm, ist sicher schlecht. Ich hätte bald vergessen zu
schreiben, daß uns Hagen zu ihm genöthigt, daß er uns mit einem Frühstück und Wein
traktirt hat und ein dummes Ansehn und Wesen hat. Bei dem Hitzig ist die Numancia
mit einer Übersetzung (von Fouqué) herausgekommen, die Du wohl kaufst, die Übersetzung
ist sehr geradbrecht. Hitzig will auch den Prometheus fortsetzen und hat sich an Goethe
gewendet, wenn er aber selbst Redacteur ist, so wird nichts daraus, er bleibt immer ein
Jud.
Gottlob, daß ich die Menge
literarischer Nachrichten vom Halse habe, ich schrieb Dir lieber noch etwas von mir. Einen
traurigen Tag hab ich wieder erlebt, daß ich mein Herzklopfen wieder hatte, zwar
nicht stark und lang, und jetzt bin ich auch wieder recht wohl, aber es ist immer schlimm.
Schuld war, daß ich mich für besser hielt, als es nun doch gewesen und die Pillen ganz
ausgesetzt hatte, gewiß, bleibt es nur wieder ein Jahr aus, so will ich Gott danken, die
Pillen gebrauch ich wieder regelmäßig.
Über Reichardts Buch willst
Du Auskunft. Ich habe nichts davon erfahren als hier; der Buchhändler hat ihm den Antrag
gemacht und ihm unsinnig 1500 Thlr. für zwei Bände geboten, da hat er denn gleich
zugegriffen und schreibt nun, zu Neujahr wird es erst fertig. Wie er etwas Gescheidtes
liefern kann, ist mir unbegreiflich. Das Beste ist, daß die Familie dadurch auf einige
Zeit aus ihrer höchst bedrängten Lage gerissen wird. Louise geht oder ist vielleicht
jetzt schon auf dem Weg nach Hamburg, dort Unterricht zu geben.
Liebster, ich muß Dir noch
den Empfang des Gelds melden und meinen herzlichen Dank, es kam sehr zu rechter Zeit, und
ich hatte schon geborgt. Denk, Bethmann kommt hierher, wir passen auf, <179:> kommt
die Auguste mit, was immer möglich, so geht Brentano auf eins von Arnims Gütern. Viele
Grüße von beiden an Dich.
Ich bin Dein getreuer W.
H: mit Adresse: A monsieur Grimm
etc., und Empfangsstempel: 6. Octo 1809.
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