Johann Wolfgang
v. Goethe, Werke, hrsg.
im Auftrage der Großherzogin Sophie v. Sachsen, 133
Bde. (Weimar: Böhlau 1887-1918), IV. Abt. (Briefe),
Bd. 33 (1905), 173-175
Johann Wolfgang v. Goethe an Christoph Ludwig
Friedrich Schulz, Jena, 27. 8. 1820
Nachstehendes sollte, mein Theuerster, nebst verschiedenen
anderen Puncten, nach Verlauf einiger Zeit zu Ihnen wandern,
inliegender Brief jedoch veranlaßt mich, auch dieses Blatt
sogleich mitzuschicken.
Wie
viel ich Ihnen für Ihr Kommen und Mittheilen, Handeln, Leiten
und Lenken schuldig geworden, wissen Sie selbst, und ich
deute deshalb nur dahin. Von den schätzbarsten Wirkungen
ist eine solche Zusammenkunft; ich wollte schon jetzt im
Einzelnen angeben, was Ihre Gegenwart in und an mir gefördert
und was dadurch über die Maaßen beschleunigt worden. Nehmen
Sie jedoch nur im Allgemeinen einen freudigen Dank, empfehlen
Sie mich den lieben Ihrigen und den drey werthen thätigen
Kunst-Genossen. Mögen Sie unsern lieben Plastikern sagen:
daß Kaufmann seinen Auftrag glücklich vollendet, und die
Kisten, aufs sorgfältigste gepackt, heute abgegangen
sind.
Aus
einer billigen Freundlichkeit und aus Furcht, allzu menschen-
und ehrenscheu auszusehn, habe ich mich entschlossen, morgen
hier zu bleiben und der Feier meines Geburtstags persönlich
beyzuwohnen, was ich sonst so sorgfältig vermied. Ihrem
Besuch gebe ich die Schuld dieser Sinnesänderung; Ihre Theilnahme
und die Thätigkeit der jungen Männer <174:> hat mich
ins Leben wie zurückgerissen. Das nächste Stück von
Kunst und Alterthum folgt balde; sobald die entoptischen
Blätter abgedruckt sind erhalten Sie solche. Denken Sie
ja darauf, wie wir jungen Leuten das alles theoretisch überliefern
und praktisch in die Hände geben. Sehen Sie nur den Greuel
an, wie Ihr Professor Fischer die Farbenlehre vorträgt.
Nicht
weiter! damit die Post nicht versäumt werde.
Jena den 27. August
1820. |
treulichst
Goethe. |
Gar mancherley Einzelnheiten zur Farbenlehre hatten
sich in diesen Jahren bey mir gehäuft und ich dachte, in
meinem Überhinsinne, sie am Schlusse des neuesten Heftes
noch eilig abdrucken zu lassen. Nun sehe ich aber, daß wir
viel weiter sind, als wir selbst gedacht: denn die Darstellung
der entoptischen Farben, wie sie nun abgeschlossen vor mir
liegt, giebt unserm Wesen einen ganz neuen Halt; ich sistire
den Druck und gedenke, zwar kein explicites,
aber ein implicites Ganze zusammenstellen; was man in unserer
ästhetischen Literatur vor einigen Jahren ein organisches
Fragment nannte.
Hiezu
aber bedürfte ich dringend Ihres Beystandes. Könnten Sie
die Hauptmomente dessen, was Sie für physiologe Farben gethan,
uns darstellen? könnten Sie mir einen anschaulichen Begriff
von Comparettis und des Purkinje Verdiensten kürzlich
geben; so würde <175:> ichs mit Freuden einfügen;
ich selbst muß Verzicht thun, dergleichen zu durchdringen
und, wenn ichs gewonnen hätte, darzustellen.
Höchst
merkwürdig ist in Professor Fischers Lehrbuch der mechanischen
Naturlehre die wunderlich angeschobene Farbenlehre; ich
konnte noch nicht die Sache näher ansehen; es ist aber für
uns ein lustiger Einblick, wie die Herren einen ganz verständigen
Rückzug anlegen. Die Franzosen, wenn sie flüchteten, nannten
das ein mouvement rétrograde. Des Herrn Akademikers
Rückschritt ist so tanzmeisterlich, daß man wirklich seine
Gewandtheit bewundert. Die physiologen Farben schließen
nicht allein das Capitel, sondern das ganze Buch, und so
steht das wieder auf dem Kopfe, was wir seit so vielen Jahren
auf die Füße zu stellen suchten.
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