(Major
Gerwien:) General-Lieutenant Rühle von Lilienstern. Ein
biographisches Denkmal, in: Beiheft zum Militair-Wochenblatt für die Monate Oktober,
November und Dezember 1847 (Berlin: Mittler), 125-191; darin: 132-134
Rühles Zeitschrift Pallas
Ehe wir jetzt die äußeren Schicksale Rühles weiter verfolgen, sind die
bedeutenden wissenschaftlichen und literarischen Bestrebungen, mit denen sich der
vielumfassende Geist desselben während des Aufenthaltes in Dresden bis zum Jahre 1809,
vor und nach der Vollendung des bereits erörterten militairischen Werks in allen
Richtungen erweiterte Bahnen öffnete, näher zu betrachten.
Bei dem Mangel aller
militairischen Aussichten in der Zukunft erwachten die früheren Lieblingswünsche nach
einer vollendeteren wissenschaftlichen Entwickelung bald mit neuer Kraft. Die in Berlin
betriebenen Studien in der Mathematik, Philosophie und der Naturkunde wurden eifrig
fortgesetzt. Die Lehre vom Staat, als Produkt der sich durchdringenden Kriegs- und
Friedenskunst betrachtet, erhielt eine vorzügliche Beachtung, und förderte auf diesem
Wege gleichzeitig die militairische Ausbildung. Der nach Indien gerichtete Blick führte
zu mannichfaltigen geographischen und historischen Untersuchungen über dieses Land
selbst, und die mit demselben im Zusammenhange stehende politische Lage von England.
Endlich schlossen sich hieran ästhetische, über mehrere Gebiete der Kunst verzweigte,
Arbeiten.
Vorzüglich
belebt, verallgemeinert und in mehr als einer Richtung vervollständigt wurde aber damals
Rühles wissenschaftliche und künstlerische Ausbildung durch einen nahen Umgang mit den
gelehrtesten und geistreichsten Männern in Dresden, unter denen neben <133:> den
älteren Freunden Heinrich von Kleist und von Pfuel, die ihren Wohnsitz gleichfalls
daselbst aufgeschlagen hatten, besonders Adam Müller, Christian Krause, der
Natur-Philosoph Schubert, die Maler Hartmann und Kügelchen herauszuheben sind, und die
freundliche Aufnahme bei dem Hofrath Böttiger und im Körnerschen Hause als erste
Vermittelung zu dem vorher bezeichneten ausgedehnteren Umgange anzugeben ist. Endlich aber
muß den vorher angeführten Namen auch noch Gentz hinzugefügt werden, dessen
Bekanntschaft mit Rühle sich wahrscheinlich im Jahre 1807 in Dresden entwickelte, und zu
dem bereits erwähnten interessanten Briefwechsel führte, dessen Bruchstücke uns in den
Schriften von Gentz aufbewahrt sind.
Die nächste Folge der so
eben erörterten geistigen Bestrebungen und Anregungen war die Herausgabe der Pallas,
einer Zeitschrift für Staats- und Kriegskunst, welche im Mai des Jahres 1808 im Verlage
von Cotta zu Tübingen erschien, und sich die Entwickelung des Wesens vom Staat in der
bereits oben erwähnten Vereinigung der Kriegs- und Friedenskunst auf
historisch-szientifisch-kritischem Wege als Tendenz setzte. Im Zusammenhange mit dieser
Vorstellung war der Name Pallas gewählt. Rühle unterscheidet\1\ edle, schöne, nützliche Künste, repräsentirt dieselben
durch Pallas Athene, Apollo mit den Musen und Hermes, und rechnet zu den edlen
Künsten alle praktischen Hervorbringungen, bei denen es auf lebendiges Handeln und die
Erreichung erhabener bürgerlicher Zwecke abgesehen ist, an deren Spitze sich also kühn
die Kriegskunst stellen darf. In diesem Ideengange liegt zugleich die Berechtigung der,
alle militairischen Schriften Rühles durchziehenden, Ansicht begründet, welche den Krieg
als Kunst auffaßt, und sich der, in späterer Zeit von Clausewitz und Anderen, in Abrede
gestellten Existenz einer Kriegskunst beachtenswerth gegenüberstellt.
Die hohe Bedeutung, welche
die Tendenz der Pallas für ihre Zeit hatte, stellt sich heute, wo in einem großen Theil
von Deutschland jeder Bürger zugleich Soldat ist oder war, und sich die Ansicht, den
Krieg als eine fortgesetzte Politik mit anderen Mitteln zu betrachten, längst
durchgebildet hat, weniger heraus, ergiebt sich aber bald im Hinblick auf die Kluft,
welche damals zwischen den Völkern und ihren Heeren mehr oder weniger statt fand, und
eine weite Trennung politischer und militairischer Bildung zur natürlichen Folge hatte.
Den unerläßlichen Bedingungen des Kampfs zwischen Frankreich und Napoleon mit dem
übrigen Europa war es vorbehalten, auch diese unvollkommenen Zustände aufzuheben, und
Rühles Forderung, daß jeder Tropfen Bluts, welcher den Staat durchfließt, mit dem Eisen
des Krieges versetzt werden soll, in der eigenen Heimath die vollendetste Gestalt zu
geben.
Im Vergleich zu den
vorhandenen politischen sowohl als militairischen Zeitschriften, waren die Leistungen der
Pallas an vielseitigem Interesse, Frische und Tiefe bedeutend. Das vielseitige Interesse
folgte aus der Tendenz, welche die staatlichen und kriegerischen Beziehungen als wirkliche
Elemente, und nicht bloß als eine von den Zeitereignissen unwillkührlich bedingte
Färbung aufgenommen hatte. Die Frische und Tiefe aber knüpfte sich an die Produktionen
neuer oder gewiegter Kräfte, die wir hier auf dem politischen Felde in den Namen Adam
Müller, Simonde de Sismondi, Woltmann, Buchholz, und auf dem militairischen in Jomini, C.
v. W. (v. Müffling), Carnot, Hoyer, Bernhorst\1\,
auf beiden Gebieten endlich in Rühle selbst hervortreten sehen.
Vom militairischen Standpunkt
insbesondere angesehen, muß endlich der Pallas, neben den kriegsgeschichtlichen
Leistungen, insofern ein bedeutsamer Werth zugesprochen werden, als in derselben
namentlich von Rühle die irrthümlichen geometrischen und geographischen Auffassungen des
Krieges von Heinrich v. Bülow und Venturini bekämpft wurden, und mit diesem Widerspruch
erst der eigentliche Umschwung der Ansichten vom Kriege, welcher von der französischen
Revolution und Napoleon hervorgerufen wurde, beginnen konnte, um nach den Freiheitskriegen
seine volle Ausbildung zu erhalten.
In den militairischen
Aufsätzen, welche die Pallas von Rühle enthält, werden, ganz im Sinn der auch heute
noch geltenden Ansichten, nachstehende Gegenstände besprochen: Verhältnisse der Kriegs-
und Staatskunst; der Krieg als Kunst betrachtet; Verhältniß der Theorie und Praxis des
Krieges; gegenseitige Beziehung der Kriegslehre und Kriegsgeschichte; Wesen des kleinen
und großen Krieges; Feststellung der Begriffe Strategie und Taktik; der Soldatenstand als
Erziehungsmittel der Völker; Werth der Defensive (in Uebereinstimmung mit den
Clausewitzschen Ansichten); über die Geltung und Bedeutung der Begriffe
Operations-Basis-Linie u. s. w. (den Bülowschen und Wagnerschen Ansichten gegenüber);
Initiative gegen Stellungen und Provinzen, oder gegen die Armee; Bewerkstelligung und
<134:> Verhinderung der Flußübergänge; Nothwendigkeit der gleichzeitigen
Ausbildung des Fußvolks als leichte und Linien-Infanterie; Ausbeutung des Sieges; Ansicht
vom goldenen Brückenbauen u. s. w., u. s. w.
Wir haben den vorstehenden
Angaben nur aus dem Grunde einen Platz eingeräumt, um darzuthun, wie umfassend Rühles
Ansichten vom Kriege schon damals hervortraten, und wahrscheinlich auch auf die
militairischen Ideen seiner Zeit einwirkten. Am bedeutsamsten hat dies aber vielleicht mit
der Abhandlung: Gedanken über die beiden Schlachten auf dem Marchfelde bei Wien\1\, stattgefunden, da hier nicht allein
in Folge eigener Anschauung die Operationen und das taktische Verhalten Napoleons und des
Erzherzogs Karl dargestellt und kritisch beleuchtet, sondern auch das Verfahren, welches
Oestreichischer Seits zur Erreichung eines günstigen Resultats hätte eingeschlagen
werden müssen, in allem Detail, und sogar in wirklichen Dispositionen für die einzelnen
Korps, vorgezeichnet wird. In einem Briefe von Gentz an Rühle\2\ finden sich über den Eindruck jener Abhandlung in Oestreich
nachstehende Aeußerungen:
&c. Der Aufsatz in
der Pallas über die Schlachten im Marchfelde hat in Wien eine große Sensation gemacht.
Sie wissen, daß man in der Oestreichischen Armee nicht immer ganz gerecht gegen Fremde
ist; dieser Aufsatz aber ist mit einstimmiger Bewunderung gelesen worden. Während meines
Aufenthalts in Wien hörte ich unter den Militairs fast täglich davon sprechen. Die
beiden Generale v. Stutterheim, jeder in seiner Art ein sehr kompetenter Richter (und
wovon der eine die Geschichte des letzten Feldzuges schreiben will, wozu er sich gewiß
von allen unsern Offizieren am besten qualifizirt), der General Ignaz Hardegg,
Wartensleben, Wallmoden, Aloys und Moritz Lichtenstein, und alles was es nur beim
Generalstabe von irgend bedeutenden Menschen giebt, erklärten oft, daß bis jetzt
noch keine vernünftige Zeile über diesen Feldzug geschrieben, jener Aufsatz aber das
Werk eines Mannes nicht nur von großen Einsichten, sondern von wahrem militairischem
Genie sei. Selbst der Erzherzog Karl ist ganz davon betroffen gewesen, und hat sich nicht
enthalten können, mit Lob darüber zu sprechen; Sie wissen vielleicht nicht, daß schon
seit langer Zeit die Pallas das einzige Journal und à peu près das einzige Buch
ist, welches dieser Prinz lieset. &c.
Prag den 9ten April 1810.
Fr. Gentz.
Die Lesung der in Rede
stehenden, heute vielleicht wenig bekannten, Abhandlung von Rühle ist übrigens allein
hinreichend, um sich von der berechtigten Theilnahme desselben an dem oben genannten
Umschwung der militairischen Ansichten zu überzeugen, und es begreiflich zu finden,
welchen Werth Scharnhorst, Gneisenau und Müffling auf seine Gegenwart im Blücherschen
Hauptquartier im Jahre 1813 legten.
Neben den militairischen
Aufsätzen finden sich von Rühle endlich in der Pallas, außer den Beurtheilungen fremder
politischer und historischer Werke, z. B. Adam Müllers Elemente der Staatskunst, Fichtes
Reden an die deutsche Nation u. s. w., eigene Abhandlungen desselben Inhalts, welche als
gleichzeitige Bestandtheile einer besonders herausgekommenen Schrift mit dieser zu
erwähnen sind.
Schließlich ist noch in
Beziehung auf das äußere Erscheinen der Pallas anzuführen, daß vom Jahr 1810 ab die
Herausgabe derselben auf Kosten des Verfassers in dem Landes-Industrie-Komptoir zu Weimar
stattfand, und in den Jahrgängen 1808, 9 und 10 im Ganzen 24 Hefte dieser Zeitschrift
herausgekommen sind.
\1\ Vom Kriege. Frankfurt a. M. 1814. S. 89.
\1\ Der Briefwechsel Rühles mit Bernhorst,
in dem von E. v. Bülow herausgegebenen Nachlaß des letzteren, giebt hierüber
nähere Auskunft, und zeigt die großen Erwartungen, welche der untergehende Stern an den
aufgehenden knüpfte. Siehe 2te Abtheilung, Seite 308.
\1\ Jahrgang 1809. 2ter Band, 11tes Stück.
S. 473. 12tes Stück. S. 613.
\2\ Schriften von F. v. Gentz. Theil 1. S.
339.
Emendation
von] vvn D
|