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Friedrich de la Motte Fouqué, Ein Gespräch über die Dichtergabe Heinrichs von Kleist, in: Morgenblatt für gebildete Stände, 1. - 2. 3. 1816, Nr. 53-54, 209-211, 213-215

Ein Gespräch über die Dichtergabe Heinrichs von Kleist.

Der Abend, welcher von einer Gesellschaft geistreicher Männer und Frauen wöchentlich einmal für den engern dichterliebenden Kreis, den sie unter einander bildeten, ganz ausschließlich bestimmt war, dämmerte wieder vertraulich herein, und alle Theilhaber sammelten sich in Amaliens Zimmer. Die Wirthinn leuchtete heute in erhöheter Liebenswürdigkeit; man hatte sie kaum je so klar und heiter gesehen, indem ein ihr sonst eigner kleiner Zug von neckend unzufriedner Laune, ja bisweilen von trüber Ungedult, dergestalt in den Hintergrund getreten war, daß es beynahe <210:> schien, als habe er durchaus seinen Abschied bekommen. Der junge Mahler Adelphus aber fand sich dadurch einigermaßen gestört. Ihm war nie wohler zu Sinne, als wenn die Eigenthümlichkeiten eines Jeden recht scharfgezeichnet heraustraten, und er pflegte nicht gerne eher zu ruhen, bis es so weit gekommen war. Dann aber verhielt er sich desto ruhiger, und sah dem bunten Spiel mit schweigsam schalkhaftem Lächeln zu. Weil nun seine ganze Seele Anmuth und Güte war, hatte auch billigerweise Niemand Arges aus seinem Schweigen und Achtgeben, ja selbst der scharfe, besonnene Wilibald ließ sich gern von dem Jüngling in's Feuer bringen, zu Anfang mit einiger Absichtlichkeit, mehr und mehr aber von dem Strome fortgerissen, und gewöhnlich am Ende leise über sich selbst lächelnd, daß er den Nachtwandler gespielt habe, und darüber zum Nachtwandler geworden sey. Wer sich aber ganz unverhohlen und vor aller Welt über solche Unfälle auszulachen pflegte, war ein Dichter, namens Friedebert, der sich alle Tage zehnmal vorsagte, es zieme seinem ernsten Mannsalter und seinen äußern Verhältnissen, eine gewisse Zurückhaltung anzunehmen und einen weisen Stolz, und der sich das auch eben so oft versprach, um es eben so oft zu brechen. Da er nun aber in andern Fällen sich und seine Nebenmenschen immer sehr ehrlich Wort hielt, schadeten ihm jene Übertretungen nicht sonderlich; vielmehr fanden manche Gutmeinende ihre Freude daran und ganz insbesondre Adelphus, den auch wiederum Friedebert aus voller Seele lieb hatte.
Nicht lange währte es, so hatte der junge Künstler sein altes Recht behauptet, und durch freundlich neckende Worte Amalien dahin gebracht, daß sie mit einiger Heftigkeit gestand, es sey keineswegs eben die Gesellschaft, welche sie so heiter stimme, sondern vielmehr ein kurz vorher gelesenes Buch. Auch sprach sie, zu Adelphus großem Ergetzen sehr lebhaft, und beynahe ernstlich scheltend auf ihn selbst hinein, betheuernd, es sey nicht mehr zu ertragen, daß er seinem Witz die möglichsten Sporen gebe, um ihr unzufriednes Gemüth zu verspotten, und wenn sie dann einmal recht zufrieden sey, und wohl gar dasjenige, was er klar zu nennen beliebe, halte er wieder keinen Frieden, bis er die ungeduldigen Wolken ihres Geistes heraufbeschworen sehe. – Doch plötzlich wieder ganz ruhig lächelnd, lehnte sie sich gegen die Sophakissen zurück und sagte: “aber Ihr sollt sehen, heute thu' ich unserm neckenden Herrn Kobold auf keine Weise etwas zu Gefallen, und damit mir kein überscharfsinniges Wort den Strahl breche oder gar verdunkle, in dessen Licht ich so zufrieden athme, will ich Euch Allen verschweigen, welch ein Buch ich gelesen habe.
„Rathen ist doch erlaubt?“ fragte Wilibald.
„O ja; erwiederte Amalie. Aber mache sich Niemand Rechnung darauf, ein Ja oder Nein aus mir herauszubringen.“
„Das würde auf die Art zu einem sogenannten Fragespiel gedeihen, lächelte Ferdinand , welche Gattung der geselligen Unterhaltung jedoch ohne Einen, der zu antworten geneigt ist, einige Schwierigkeiten finden soll.“
„Gebt Euch nicht damit ab, ihr ein Geheimnis entlocken zu wollen, sagte Elise, sondern hört lieber auf eine Klage, die ich Euch ganz offenbar und ungefragt über ein Buch vorbringen will, das mich heute ordentlich recht in Ärger gesetzt hat, ja ich möchte behaupten, in Zorn.“
„Der Verfasser muß verbrannt werden, rief Friedebert. Er ist ein Hexenmeister. Das Lämmchen zum Wolf umgewandelt. – Aber waren Sie, kleine Taube Ludmille, nicht etwa auch bey der Lectüre? Und sind Sie nicht etwa in einen furchtbarlichen Geyer verzaubert?“
„Ja, ich war dabey, entgegnete das freundliche Mädchen, und spotten Sie nur sachte, denn Elisens Klage geht einigermaßen mit auf Sie.“
„Auf mich? Am Ende habe ich das Buch selber geschrieben. Das wär' eine schöne Geschichte. Man hat solche Exempel von gräßlichen Verbrechern, die sich zum Scheiterhaufen verurtheilten, weil man ihnen ihren eignen Unfug zum Richter vorlegte, und sie dachten, es hätte ihn für diesmal ein Andrer angefangen.“
„Es war diesmal auch wirkliche ein Andrer, lieber Friedebert, sagte die ernster werdende Elise, aber Sie haben ihn bey mir eingeführt. – Ich habe nämlich das Käthchen von Heilbronn gelesen.“
Auch Friedebert ward ernst. Er sahe eine Zeitlang wehmüthig vor sich hin. Endlich entgegnete er mit leiser Stimme:
„So viel ich weiß, habe ich niemals das Käthchen von Heilbronn bey ihnen eingeführt.“
„Nicht?“ sagte Elise . „Das heißt wol nicht ein Gedicht einführen, wenn man der Freundinn immer davon vorredet, wie es ein edler Dichter als Schoßkind im Herzen getragen habe, als die Erscheinung der himmlischen und dennoch im wahrhaften Leben vollkommen begründeten Liebe, die er in unendlicher Sehnsucht vergeblich auf Erden suchte, und nur in seiner glühenden Phantasie, und vorzüglich in diesem, diesem Einen Bilde fand, – und dann –“
Elise hielt unwillig inne. Amaliens schönes Auge perlte von milden Thränen, die sie aber schnell und unbemerkt zu verbergen wusste, und das um so leichter, da Alle mit ernster Aufmerksamkeit auf Friedebert's Antwort Acht gaben.
„Was ich Ihnen gesagt habe, erwiederte dieser, nach einigem Schweigen, ist und bleibt meine heilige Überzeugung; aber ich redete von dem Bilde, das Heinrich Kleist im Herzen trug, nicht von dem, welches er mangelhaft auf das Papier brachte“. <211:>
„Die Vertheidigung, wandte Wilibald ein, könnte am Ende für jedes fehlerhafte Kunstwerk gelten.“
„Sie könnte nicht allein, sagte Friedebert etwas heftig, sondern sie kann auch, ja, sie muß; vorausgesetzt, daß wirklich ein ehrliches, poetisch durchglühtes Herz zum Grunde liegt. Wo von schlechten Nebenzwecken, von sündhafter Oberflächlichkeit die Rede ist, da ist etwas absolut Verwerfliches begangen, und jede Entschuldigung fällt weg. Aber keine noch so hochwertige Kritik, die da sehr wohl weiß, das Kunstwerk dürfe nie durch die Individualität des Künstlers entschuldigt werden, soll uns Dichterfreunden das Recht und die Gabe rauben, aus der verfehlten Zeichnung den göttlichen Gedanken herauszuahnen, welcher dem sehnenden Gemüthe des Künstlers vorschwebte, und diesen Gedanken festzuhalten und zu lieben, mit aller Innigkeit eines Herzens, das überhaupt die Liebe kennt.“
Ein lohnender Blick aus Amaliens  Augen fiel auf den Dichter; Wilibald reichte ihm ernst, aber freundlich die Hand, sprechend:
„Ich weiß, dir kommt weder meine Kritik hochweise, noch mein Herz für die Liebe unempfänglich vor, und wir sind überhaupt vollkommen einig.“
„Das wusste ich ja gleich!“ rief Jener mit großer Innigkeit, und schalt sich heimlich, daß sein heißes Blut abermals etwas rascher gelaufen sey, als er wollte. Adelphus aber konnte diesmal vor herzinniger, wohlgefälliger Rührung nicht zum Lächeln über seinen ältern Freund gelangen.
„Es wäre nur schön, sagte Ferdinand, wenn uns Elise, da wir doch das Käthchen von Heilbronn wol Alle gelesen haben.“ –
„Ich unter Andern nicht; fiel Amalie ein. Aber ich fühle mich jetzt getrieben dazu.“
Soll ich dir nicht abrathen?“ sprach Elise, und senkte ihr schönes, ernstes Auge nachdenklich gegen den Boden. „Denn fürwahr, was mich betrifft, ich habe sehr Unrecht daran gethan. Und wenn ich, lieber Ferdinand , Ihre Rede ergänzen und im Voraus beantworten darf, erkläre ich, daß ich nun auf keine Weise auseinandersetzen kann und will, was mich an der Erscheinung des Käthchen so sehr verletzt hat. Zum Theil wäre mir das schon früher nicht wol möglich gewesen, am mindesten aber, seit Friedebert gesprochen hat.“
„Sind Sie mir böse? Und bin ich etwa auch gegen Sie ungeschickt und starrsinnig herausgefahren?“ fragte dieser, und sprach auf ihr freundlich verneinendes Kopfschütteln weiter: „daß ein feuriger Künstlergeist das Gute noch immer zum Bessern, das Beste zum Überbesten treiben will, und so, sich sich selbst überflügelnd, die reine angeborne Schönheit seines Schwunges entstellt, – ist denn das eine so unerhörte Erscheinung? Heinrich Kleist erinnert mich oft an Vater Klopstocks Ode, wo ein Jüngling die nordische Grazie Nossa gegen seines Gefährten allzuraschen Eislauf in Schutz nimmt.“ – – – –
„Töne nicht vor! Ich dulde das nicht!
– – – – – – – – – – – –
Mit zu schnellem Flug Scheuchest du Nossa weg! –
Pfeilverfolger! Reize sie nicht! Verachtet kehrt sie nicht um,
Ich seh'es, halt inn, ich sehe'es, sie zürnt!
Das Wölkchen Laune
Dämmert schon auf ihrer Stirn!“
„O, daß ein kunstverwandter Freund unsern Heinrich so hätte warnen dürfen! Sein liebes Käthchen von Heilbronn wäre der Liebling aller deutschen Frauen und Jungfrauen geworden!“.
„Ich habe Sie diesmal nicht ganz so klar verstanden, als sonst, lieber Friedebert, sagte die kleine Ludmille, aber es wehte durch ihre ernsten Worte dennoch etwas hin, das mir viel Freude machte, und mir vielen Muth gab. Ja, nun will ich es nur ganz offenherzig gestehen: als Elise während dem Lesen und nach dem Lesen so sehr über das arme Käthchen schalt, ist es mir recht an's Herz gegangen. Es kommen zwar ordentlich häßliche Reden und Thaten in dem Gedichte vor, aber da kann ja das Käthchen nicht dafür, sondern nur die häßlichen Leute, mit denen es allzumal umgeben ist. Schenkt es ja doch Alles, was sonst den Menschen auf Erden theuer und werth ist, in reiner unschuldiger Liebe weg, und wer das arme Kind nicht in seine Burg aufnehmen will, mag es doch draußen wohnen lassen, wo der zwitschernde Zeisig in den süßduftenden Hollunderbüschen sich sein Nest gebaut hat. Das musste ja selbst der eitle, mattherzige, grobe Graf Wetter vom Strahl verstatten,“ –
„Den das Wetter erschlagen wolle!“ murmelte Adelphus mit ächtem Jünglingszorne darein.“
„Ja, fuhr die glühende Kleine fort, selbst der musste das dem Käthchen erlauben, und lange, bevor er wusste, daß es eine Kaisertochter war. Aber mochten die Menschen das Käthchen schelten und bedrohen und es gar schlagen wollen, – ein Engel Gottes waltet über dem armen Kinde, und Alles ging dennoch herrlich hinaus, und das dumpfe Volk ringsumher, Kaiser und Bräutigam mit eingerechnet, wird gewiß am Ende nicht gewusst haben, wo es mit seinen blöden Augen hin sollte vor der frommen Herrlichkeit der Prinzessin Katharina von Schwaben.“ Ludmille schwieg erschöpft, und trocknete sich die lieben blauen Augen.

(Der Beschluß folgt.)

<Nr. 54, Sonnabend, 2.3.1816, S. 213-215, 184 Zeilen>
<213:>
Ein Gespräch über die Dichtergabe Heinrichs von Kleist.
(Beschluß.)
„Ich hatte mir vorgenommen, sagte Ferdinand nach einer Weile, noch etwas ausnehmend Kluges zu Markte zu bringen über die wundersame Gründlichkeit, mit welcher Heinrich Kleist in alle Einzelnheiten der kühn ersonnenen Fabel eingegangen ist, aber wahrhaftig: eine Kritik des Käthchens nach Ludmillen anheben, hieße eine Ilias nach dem Homer schreiben,“
Die Kleine sah verschämt und etwas unwillig auf, doch belehrte sie bald das sichtliche Wohlgefallen, womit alle Blicke gerührt nach ihr hingerichtet waren, es gelte in Ferdinands lustigen Worten mehr innigen Ernst als neckenden Spaß, und so lächelte sie alsbald wieder heiter und vertraulich, wie zuvor.
„Wenn Du, lieber Ferdinand, hub Wilibald an, die strenge Tiefe und Gründlichkeit unsers Dichters preisen willst, brauchst Du eben nicht bey dem Käthchen von Heilbronn stehen zu bleiben; vielmehr, ob sich gleich dieser Charakterzug Heinrichs von Kleist auch hier, wie in allen seinen Werken wiederfindet, offenbart er sich dennoch unendlich herrlicher und klarer in einer Dichtung von scheinbar ganz entgegengesetztem Streben, in einer Dichtung, der man zur Vollkommenheit fast nichts wünschen dürfte, als einen andern Gattungsnamen.“
„Und als das Weglassen eines einzigen Verses;“ setzte Friedebert sehr ernst, beynahe strenge, hinzu. <214:>
„Ganz recht; sagte Wilibald. Und ich sehe daraus, wie wir ganz und gar über diese kühnste und launigste und gründlichste aller niederländischen Gemählde einig sind, über diesen zerbrochnen Krug, der als komisches Idyll nach meiner Überzeugung nie genug zu loben steht, obgleich er als Lustspiel schon einmal auf der Bühne große Fatalitäten auszustehen hatte, und vielleicht nicht ganz zu Unrecht.“
„Das käme noch darauf an; sprach Friedebert. Was mich betrifft, ich fasse es nicht, wie ein gut dargestellter lichter Adam irgend ein Herz kalt lassen könnte mit seinem komischen Selbstbewußtseyn böser Dinge, und dennoch mit der wahrhaft heroischen Standhaftigkeit, die ihm gleich nach jeder verlornen Position unmittelbar zu einer andern verhilft, schlecht oder gut, das gilt ihm gleich viel, aber er wehrt sich darin bis auf den letzten Mann, und macht dabey zum schlechtesten Spiel die allerlustigste Miene, ja, seine angeborne Lustigkeit wallt oftmalen im ganzen Ernste auf, und macht die Anschläge seiner Verfolger zu nichte, bis er denn wirklich am Ende in rettungslose Flucht gedrängt wird; aber auch die ergreift er mit einer Art von Entschlossenheit, mit der klaren Erkenntniß, hier sey nun nichts Andres mehr zu thun, und wer denn doch einmal laufen müsse, laufe besser gleich, als zu spät, – o man könnte Kriegsregeln aus diesem Adam ziehen!“
Und alsbald fing er an, mit großer Lust und Fertigkeit Stellen aus diesem trefflichem Adam herzusagen, und Adelphus fiel so mimisch gewandt, jetzt als Schreiber List, jetzt als die zürnende Frau Marthe, oder als der gesetzte, besonnene Gerichtsrath ein, daß beyde Declamierende sammt allen Zuhörern eine lange Zeit von dem Ergetzen an diesem Spiele gar nicht loskommen konnten.
Endlich brach Friedebert ab, und sagte mit gewohnter Freundlichkeit zu seinem Adelphus: „Sie haben mich ja aber heute Abend noch nicht ein einziges Mal ausgelacht, liebes Kind, und mich dünkt, ich wäre schon ein Paar Mal ganz artig aus der bekannten Gravität und Ruhe, die ich mir als Staatsbürger und vierzigjähriger Mann schuldig bin, herausgetanzt.“
„Das erste Mal, entgegnete Adelphus, war ich zu gerührt, um zu lachen und das zweyte Mal tanzte ich selber mit, so unwillkürlich, daß ich es für eine Art von fröhlichem Veitstanz halten muß; mir bleibt nur zu erwarten, was etwa der Abend noch fürderhin bringt.“
„O, Sie sollen nicht leer ausgehen!“ rief Friedebert, und begann zu erzählen, wie er nun eben noch heuten Nachmittag einen jungen talentvollen Dichter, der sich seiner Leitung vertraue, zu einem höchst gesetzten Betragen ermahnt habe, im allzugroßen Eifer ihm sogar betheuernd, auch unter Freunden müsse man sich immerdar etwas zurückgezogen halten, weil denn doch selbst der Nächste und Beste nicht eben Alles in uns verstehen könne, sobald seine Aufmerksamkeit durch einen geselligen Kreis zerstreut sey: – „und, setzte er hinzu, mit diesen und noch weit vortrefflicheren Redensarten nehme ich Abschied, um mich sehr besonnen hierher zu begeben, fahre alsbald meinen lieben Wilibald heftig an, deklamiere Euch sodann über dreyviertel Stunden lang den Richter Adam vor, und wenn es hiermit für heute ein Ende hat, liegt es einzig und allein daran, daß meine Weisheit in keine neue Versuchung geräth.“
Alle stimmten von Herzen in sein Lachen ein, bis auf Wilibald, der nur halb hingehört hatte, und also auch nur mit dem halben Munde lachte, mehr höflich, als lustig. Sein scharfsinniges Denken konnte noch immer nicht vom Richter Adam ablassen, und er redete auch, als wenn gar nichts dazwischen gekommen wäre, an der vorhin abgebrochnen Stelle des Gespräches und des Declamirens weiter.
„In der That, sagte er, ich finde es jetzt unbegreiflich, daß der vortreffliche Richter Adam auf der Bühne kein Glück machte. Sollte es an dem Schauspieler gelegen haben? Und nur an dem Schauspieler ganz allein? Oder wo liegt der Fehler in der Dichtung?“
„In einer großen Vortrefflichkeit derselben, welche Du, lieber Freund, noch vor Kurzem verdientermaßen gerühmt hast, entgegnete Ferdinand. Die strenge, liebevolle Gründlichkeit, womit Heinrich Kleist seinen Gegenstand durch und durch erschöpft, und keinen einzigen Standpunkt der möglichen Beleuchtung unausgesprochen lassen kann, – eben diese seltne Tugend, welche unsern Dichter nie und am wenigsten bey dem zerbrochnen Krug verlassen hat, gehört weniger auf die Bühne als in's Lesegemach, und in diesem Sinne meine ich auch, daß du schon vorhin unsern vielgeliebten Richter Adam lieber in einem komischen Idyll sehen wolltest, als in einem Lustspiel.“
Friedebert nickte beyfällig, meinte aber doch, er könne deshalb an einer gelungnen Aufführung dieser Dichtung nicht verzweifeln.
„Seltsam, sehr seltsam!“ sagte Wilibald, nachdenklich. „Derselbe Dichter, welcher vorhin des sich selbst Überfliegens angeklagt wurde, muß nun den Tadel einer allzubesonnenen Gründlichkeit erleiden; und was noch seltsamer ist: in Beydem geschieht ihm vollkommen recht. – Aber gerade hierin spricht sich die wundersame Mischung oder vielmehr Vereinigung scheinbar entgegengesetzter Gemüthskräfte aus, vermöge welcher Heinrich Kleist zu einem Dichter von ganz eigenthümlicher Größe berufen war. Wie man mit vielem Grund die Mahler neuerdings nach ihren verschiednen Strebungen als musikalische, plastische, ja sogar pittoreske bezeichnet hat, können wir Heinrich Kleist um jener unermesslichen Gründlichkeit und Verständigkeit willen einen juridischen Dichter nennen, und doch möcht' Ihr ihn billig einen Dichter der glühendsten Liebe heißen. Und eben darum gährte es so lange in ihm, und gährte gewaltig, <215:> bis das edle Gefäß zersprang, ehe noch der begeisternde Wein, den es enthielt, zu seiner vollen Kraft und Klarheit gelangen konnte. Denkt Euch, was sein „Michael Kohlhans“ für eine Dichtung hätte werden müssen! Denkt Euch, wenn es wäre ausgeführt worden, nicht nur in den Kurfürstlichen, sondern auch in durch Heinrich gedichteten Kohlhans'schen Aktenstücken, dies wunderbarlichste Ringen, wo von einer Seite die gesetzlichste Form die ungerechteste Sache, von der andern Seite die außergesetzlichste Form die gerechteste Sache verficht!“
„Oder lieber noch, fiel Friedebert ein, lieber noch denkt Euch, welch ein Ganzes sein Robert Guiskard gewesen seyn muß, dieser Kampf des gesunden Heldengeistes wider den todtkranken Leib, und dennoch der Heerführer immer die Seele des ermatteten, murrenden, sterbenden, aber begeisterten Heeres! – Und denkt, daß dieses Gedicht vollendet dastand, und nur dem Zorn, vielleicht Einer unmuthigen Stunde, von der Hand des edlen Unglücklichen selbst geopfert ward, und wir nun unter den Trümmern umhergehen, wie unter den Ruinen edler Burgen, welche die Überkraft des deutschen Volkes selbst zerstörte, und nur ahnen können und errathen, wie viel der Herrlichkeit und Kraft hier gewohnt hat und wie viel der süßen Liebe. – “
„Ja, nun kommen Sie auf die alten Burgen, unterbrach ihn Amalie. Nun wissen wir schon, wo es hingeht. Oder vielmehr: weder Sie noch wir wissen es eigentlich mehr.“ – Friedebert schwieg plötzlich und sahe etwas unzufrieden vor sich nieder. Ein erinnender Blick Elisens, ein bittender aus den Augen der kleinen Ludmille flog der schönen, launischen Wirthinn entgegen.
„Nein, sagte Amalie lächelnd, Ihr braucht mich heute gar nicht zu hofmeistern; mir thut es schon ganz von selbst im Herzen leid, daß ich unsern guten Friedebert vielleicht gekränkt habe. Es war in der That nicht böse gemeint, lieber Minnesinger.“
Leicht versöhnt, drückte Friedebert einen Kuß auf die dargebotene schöne Hand, und sagte: „Sie meinen es niemals und mit Niemanden böse, liebe Amalie.“
Freylich nicht, entgegnete sie, aber heute ist es doch viel anders und besser mit mir bestellt, als gewöhnlich. Das Wesen, welches Einige von Euch meinen argen Dämon zu nennen pflegen, hat sich für diesen Abend seiner Macht ganz und gar begeben, und zwar vor dem Friedensgruß eines Dichters, und dieser Dichter ist der eben jetzt so vielfach besprochne Heinrich von Kleist. Weil Ihr aber Alle mit inniger Liebe von ihm geredet habt, seid Ihr es auch werth, daß ich Euch die Bilder erneue, welche so heilbringend in meinen Geist hineinlächeln.“
Und sie nahm Heinrich Kleists Erzählungen zur Hand, und las die Legende von der heiligen Cäcilia, und las das Bettelweib von Locarno, und zum Schluß das Erdbeben von Chili, und in den edlen Kometenwein, welchen man das Andenken des Dichters feyernd, aus hellen Gläsern trank, fiel manch eine heiße, aus dem Herzen entquillende, Thräne.
L. M. Fouqué

Für den von Fouqué entworfenen Gesprächsrahmen hat Helmut Sembdner einen realen Hintergrund auszumachen versucht (SEMBDNER 1994, 215-218). Er bezieht sich dabei allgemein auf einen Brief Achim v. Arnims an Clemens Brentano vom 3.2.1816, in dem Arnim über den Besuch eines Lesekreises bei Marie v. Kleist (laut Sembder: „Amalie“) berichtet, in dem Kleists „Herrmannsschlacht“ vorgetragen wurde und an dem namentlich Ernst v. Pfuel („Adelphus“) und Wilhelm Schütz-Lacrimas („Ferdinand“) teilnahmen. Konkret stützt Sembdner seine Vermutung auf eine von ihm Wilhelm Schütz-Lacrimas zugeschriebene Äußerung, die mit der Meinung des „Ferdinand“ im „Gespräch“, der „Zerbrochne Krug“ gehöre „weniger auf die Bühne als in's Lesegemach“ (Z. 340), fast wörtlich übereinstimme (SEMBDNER 1994, 216). Quelle dieser – entgegen dem Verweis – im „Nachruhm“ nicht enthaltenen Äußerung ist eine von Karl Siegen (Heinrich von Kleist und Der zerbrochene Krug . Neue Beiträge [Sondershausen 1879], 47) zitierte Mitteilung Karl von Jariges' in einem undatierten Brief an Stephan Schütze über einen „Poeten Schütz“, dieser halte den „Krug“ für ein „treffliches Lustspiel: freilich mehr zum Lesen. als für die Bühne“ (vgl. H. Sembdner, Schütz-Lacrimas [Berlin 1974], 84). Man wird sicherlich in der Figur des „Friedebert“ ein Selbstporträt Fouqués annehmen dürfen, ob sich allerdings allein aus der von Sembdner aufgefundenen Parallele eine gesicherte Teilnahme Fouqués an Marie v. Kleists Lesekreis ableiten läßt, bleibt zweifelhaft. Über eine nähere Bekanntschaft Fouqués zu Marie v. Kleist über den Kontakt im Zusammenhang mit der geplanten Ausgabe von 1812 (vgl. >> Helmuth Rogge, Heinrich von Kleists letzte Leiden. Nach unveröffentlichten Zeugnissen aus dem Nachlaß Julius Eduard Hitzigs, in: JbKG [1922], 31-74; darin: 97-99) hinaus, ist nichts bekannt (so auch SEMBDNER 1994, 218).
Fatalitäten] Anspielung auf die mißglückte Uraufführung des „Zerbrochnen Krug“ unter der Regie von Goethe in Weimar am 2. 3. 1808.

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