Jürgen
Behrens, Konrad Feilchenfeldt, Wolfgang Frühwald, Christoph Perels, Hartwig Schulz
(Hrsg.), Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe (Stuttgart, Berlin, Köln:
Kohlhammer 1975ff.), Bd. 32, Briefe IV (1996), 365f.
(Aus:) Clemens Brentano an Achim v. Arnim, Prag, 10./11. 12. 1811 \1\
Gestern erhielt ich von Savigny die Nachricht, daß Heinrich von Kleist sich vor 14 Tagen
nebst der Frau Rendant Vogel (Adam Müllers und Theremins Buhlschaft vor der
Sander) auf einem Dorfe zwischen Berlin und Potsdam nach eingenommenem <366:>
Frühstück scheinbar mit gegenseitigem Verständniß erschossen. Diese Nachricht hat mich
wenigstens wie ein Pistolenknall erschreckt. Der arme gute Kerl, seine poetische Decke war
ihm zu kurz, und er hat sein Leben lang ernsthafter, als vielleicht irgend ein neuer
Dichter, daran gereckt und gespannt. Er ist allein so weit gekommen, weil er keine recht
herrlichen Menschen gekannt und geliebt, und gränzenlos eitel war. Ich habe hier seinem
vertrauten Freund, dem Hauptmann von Pfuel, dem herrlichsten, unterrichtetsten,
pädagogischten, mildesten, und nach allen Seiten tiefsten und geistreichsten Soldaten,
dem ich jemals begegnet, die Nachricht mitgeteilt; er hat Kleist immer aufrichtig geliebt,
und die politische Zeit wie die ganzen poetischen Lehrjahre desselben mit ihm verlebt. Es
hat ihn bestürzt, aber nicht verwundert, er sagt mir, er habe nie etwas anderes von ihm
erwartet, er habe ihn einst acht Tage in Dresden wegen einer in der
Liebe gekränkten Eitelkeit wahnsinnig und rasend in seiner Stube gehabt. Was
wir nie erfahren, Kleist war einer der größten Virtuosen auf der Flöte und dem
Klarinet. Wir haben ihn überhaupt nur ganz zerrüttet gekannt. Bei allem dem, was ich
durch viele Züge aus Pfuels Munde weiß, ist nie einem Dichter seine
persönliche Bizarrerie, und alle sein Tollfieber, und alle sein Werk und Unwerk von
liebenden Freunden so nachgesehen und geschont worden. Überhaupt werden seine Arbeiten
oft über die Maßen geehrt, seine Erzählungen verschlungen, aber dies war ihm nicht
genug, ja Pfuel sagt mir, daß sich vom Drama zur Erzählung herablassen zu müssen, ihn
gränzenlos gedemüthigt hat. Ich glaube, wer Adam Müllern, der jetzt in Wien den
vornehmen Fuchsschwanz trotz in Berlin streicht, je so toll anbeten konnte, wohl zu
dergleichen Todschüssen in dessen ausgetretenen Liebespantoffeln kommen kann.
\1\ Der Text dieser Briefpassage ist nur in einer
Abschrift Varnhagens überliefert (in BJK); Varnhagen gab der Abschrift den Titel
Clemens Brentano an Heinrich von Kleist und Ernst von Pfuel und fügte
folgende Bemerkung hinzu: (Der arme Schelm ahndete nicht, daß Nostitz mit ihm
seinen Spaß hatte und seine Kammeraden mit dem Possenreißer amüsirte, dem übrigens
aller Schabernack angethan wurde, man bließ ihm den Tabaksqualm unter die Nase, suchte
ihm die Haare anzuzünden u. dergleichen mehr.) (Heinz Härtl, Briefe Arnims an
Brentano aus dem Arnim-Nachlaß des Goethe- und Schiller-Archivs. Mit zwei
Gegenbriefen Brentanos an Arnim und einem Brief Arnims an Niebuhr als Anhang, in: Roswitha
Burwick und Bernd Fischer [Hrsg.], Neue Tendenzen der Arnimforschung. Edition,
Biographie, Interpretation, mit unbekannten Dokumenten [Bern u.a. 1990], 120-197; hier:
168)
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