Marianne Schuller

Eine Anekdote Kleists in der Zeitung.

Die »Berliner Abendblätter«, die Kleist in täglicher Folge vom 1. Oktober 1810 bis zum 30. März 1811 herausgegeben hat, sind von Anekdoten durchsetzt. Diese kleine Erzählform war um 1800 sehr verbreitet und beliebt. Die Spanne reicht von Anekdotensammlungen um Friedrich II., also von Herrscheranekdoten, bis zu der kunstvollen Kalendergeschichte eines Johann Peter Hebel. Reiz, Geltung und Popularität gewinnt die Anekdote daraus, daß sie ein bemerkenswertes, singuläres und vor allem wirkliches Ereignis zum besten zu geben verspricht.

Die Anekdoten der »Berliner Abendblätter« stehen in räumlicher Nähe zu den Tagesbegebenheiten und den Polizeiberichten, die der erste Berliner Polizeipräsident Justus Gruner in großer Zahl geliefert hat. Themen und Personal der Anekdoten entsprechen häufig dieser kriminalen chronique scandaleuse locale mit ihren merkwürdigen Vergehen, Verbrechen und gewaltsamen Toden. Die Referenz auf einzelne, bemerkenswerte und vor allem wirkliche Vorgänge ist es, die den Polizeibericht und die Anekdote einander nahe rücken. Der wirkliche Gegenstand erfordert, so Kleist, auch eine »authentische«, nicht entstellende Berichtsform. In seiner Begründung für die Aufnahme der Polizeiberichte in die »Berliner Abendblätter« heißt es im 4. Blatt des ersten Quartals vom 4. Oktober 1810:

»Die Polizeilichen Notizen, welche in den Abendblättern erscheinen, haben nicht bloß den Zweck, das Publikum zu unterhalten, und den natürlichen Wunsch, von den Tagesbegebenheiten authentisch unterrichtet zu werden, zu befriedigen. Der Zweck ist zugleich, die oft ganz entstellten Erzählungen über an sich gegründete Thatsachen und Ereignisse zu berichtigen, besonders aber das gutgesinnte Publikum aufzufordern, seine Bemühungen mit den Bemühungen der Polizei zu vereinigen, um gefährlichen Verbrechern auf die Spur zukommen, und besorglichen Übelthaten vorzubeugen.«[1]

In dieser programmatischen Begründung, welche die Lust am Verbrechen in moralisierende Zwecksetzung hüllt, kündigen sich jene Sensationsmechanismen an, welche etwa der Fahndungssendung »Aktenzeichen: XY ... ungelöst« im bundesrepublikanischen Fernsehen höchste Beliebtheit und Einschaltquoten beschert haben. Allerdings läßt die Nähe zwischen Anekdote und Polizeibericht bzw. Anekdote und Berichten über Tagesbegebenheiten weniger die Übereinstimmung als vielmehr die Unterschiede hervortreten: Anders als im Polizeibericht wird in der Kleistschen Anekdote der Referenzbezug der Sprache auf Wirklichkeit »selbst« fragwürdig. Zumindest scheint das in der ersten Anekdote der Fall zu sein, die Kleist, ohne Gattungsangabe, unter der Rubrik »Tagesbegebenheiten« am 2. Oktober 1810 seiner Zeitung einverleibt. Sie ist in Petit gedruckt und hat folgenden Wortlaut:

»Dem Capitain v. Bürger, vom ehemaligen Regiment Tauenzien, sagte der, auf der neuen Promenade erschlagene Arbeitsmann Brietz: der Baum, unter dem sie beide ständen, wäre auch wohl zu klein für zwei, und er könnte sich wohl unter einen Andern stellen. Der Capitain Bürger, der ein stiller und bescheidener Mann ist, stellt sich wirklich unter einen andern: worauf der &c. Brietz unmittelbar darauf vom Blitz getroffen und getödtet ward.«[2]

Die Anekdote ist aus zwei Sätzen gefügt. Beide Sätze sind jeweils durch einen Doppelpunkt unterbrochen. Sie folgen schnell, Schlag auf Schlag. Die Geschwindigkeit der Abfolge wird durch die Doppelung der zwischen Zeit– und Ortsadverben schwankenden Worte »worauf« und »unmittelbar darauf« betont. Die Kürze, Geschwindigkeit und Folgerichtigkeit der Sätze bewirkt, daß sich gleichsam automatisch das Schema von Ursache und Wirkung, d. h. von Kausalität, einstellt, das semantisch unterschiedlich besetzt werden kann. Eine moralische Interpretation würde den tödlichen Blitz als Strafe für die aggressive Rede der einen Person gegen die andere deuten; eine politisch–moralische würde im Blitz die natur– oder gottgesandte Strafe für das ungebührliche Verhalten eines Angehörigen des dritten Standes gegenüber einem adligen Militär sehen usw. Interpretationen dieser Art aber sind nur möglich, sofern das Paradigma eines Ursache–Wirkung–Schemas unterstellt wird und in Funktion tritt.

Die dramatische Abfolge, zu der sich, diesem Schema gemäß, die einzelnen Vorgänge verknüpfen, wird von der Anekdote Kleists aber nicht nur gewährt, sondern es wird zugleich gestört. Die einfachste Störung ist inhaltlicher Natur: Ist die tödliche Strafe, ist das Gottesgericht nicht übertrieben? Die Nachfrage führt zu einem neuerlichen Blick auf den Text: Gibt es denn auf der Ebene des Textes diesen Übergang von thematisiertem Ereignis und erzählerischer Explikation, der eine solche folgerichtige Interpretation erlaubte? Plötzlich nimmt man wahr, daß die evozierten Zusammenhänge, welche den Ereignissen einen moralischen, religiösen oder politischen Sinn verleihen, gar nicht auf der Bühne des Textes stehen. Ganz im Gegenteil: Der Text, in seiner Gedrängtheit, (er)scheint kontextlos, wie ein Blitz aus heiterem Himmel.

Der Entzug von kausaler Kontext– und Sinnstiftung stellt sich angesichts eines Vergleichs mit anderen Vermeldungen des Ereignisses deutlich heraus. Denn der Vorfall des tödlichen Blitzschlages wird auch von anderen Zeitungen aufgegriffen. So heißt es etwa in der »Vossischen Zeitung« am Morgen des 2. Oktober 1810:

»Am 29sten Septbr., Nachmittags um 31/2 Uhr, ließ sich bei einem starken Gewitterregen unvermuthet ein einziger starker Donnerschlag über die Stadt hören. Dreißig Schritt von einem Hause, das mit einem Blitzableiter versehen ist, schlug der Wetterstrahl in eine Pappel auf der neuen Promenade, die nach dem Haakschen Markte führt, streifte auf einer Seite des Baumes die Rinde von der Krone bis 3 Fuß von der Erde glatt ab, und erschlug einen Mann, der sie umklammert hielt. Der Unglückliche starb auf der Stelle, und hinterläßt eine Wittwe und 3 Waisen.«[3]

Nach diesem Bericht der Vossischem Zeitung stellt sich das Ereignis als Unglücksfall dar, der nicht zuletzt dadurch eingetreten ist, daß die Natur über die Technik in Gestalt des 1752 erfundenen Blitzableiters auf erschütternde und furchtbare Weise triumphiert hat. Eine Woche später übernimmt die Zeitschrift »Der Freimüthige« die Version der »Vossischen Zeitung«, ergänzt sie jedoch durch die Anekdote Kleists aus den »Berliner Abendblättern«. Dabei stellen sich kleine Modifikationen ein, die für eine Veränderung des Kleistschen Textes ums Ganze sorgen. Nach Abdruck des Berichts der »Vossischen Zeitung« findet sich im »Freimüthigen« folgender Zusatz:

»Merkwürdig ist dabei noch folgender Vorfall: Der Capitain von Bürger, vom ehemaligen Regiment Tauenzien, hatte sich unter denselben Baum neben Brietz hingestellt, um vor dem Regen Schutz zu suchen. Brietz sagte zu ihm in einem ziemlich barschen Tone: der Baum, unter dem sie beide ständen, wäre auch wol zu klein für zwei, und er könnte sich unter einen anderen stellen. Der Capitän v. Bürger, der ein stiller, bescheidener Mann ist, stellte sich wirklich unter einen andern: worauf Brietz vom Blitz getroffen und getödtet wurde.«[4]

Der Vergleich mit dem Text aus dem Freimüthigen läßt das Verfahren, nach dem Kleist die Anekdote bastelt, deutlich hervortreten. Es ist ein Verfahren der Aussparung. Ausgespart sind Adjektive, die den Vorgang deuten wie auch das Nennen von Motivationen, welche die Handlungen einsichtig machen. Durch die Ergänzungen, die im »Freimüthigen« ganz im Sinne der Kausalverknüpfungen hinzufügt werden, stellt sich ein schlüssiger und geschlossener Ablauf her. Das Kleistsche Verfahren des Aussparens von Bezugsebene und Motivation provoziert den Einsatz des Ursache–Wirkung–Schemas zur imaginären Vervollständigung und macht dieses Schema im selben Atemzug brüchig. Mit andern Worten: Die Sprache tritt aus der Entsprechungsfunktion zwischen Ereignis und Bedeutung heraus. Folgt man Reinhard Koselleck, so ist das Auseinanderklaffen von »Worten« und »Sachen« eine mit der Französischen Revolution eintretende Erfahrung, als deren Zeitgenossin sich die Kleistsche Anekdote damit präsentiert.[5]

Wenn die Entsprechungs– oder Abbildfunktion der Sprache zerbricht, wenn – wie bei Kleist – dieses Zerbrechen forciert und gesteigert wird, dann schlägt die Stunde der Einzelheit, des Details. Das Detail der Kleistschen Anekdote setzt die teleologische Paradigmatik von Narration und von Geschichte aus. Ein Detail in diesem Sinn stellt die Apposition zum Namen »Capitain v. Bürger« dar: »Dem Capitain v. Bürger, vom ehemaligen Regiment Tauenzien, sagte der, auf der neuen Promenade erschlagene Arbeitsmann Brietz«.

Die Erwähnung des Preußischen Generals und seines Regimentes entspricht zweifellos dem Realitätsgebot der Gattungsregel. Zugleich aber findet der Satz keine Entsprechung im thematischen Vorwurf. Mit dieser Nichtentsprechung springt die eng verfugte Wortfolge auf, mit dem Effekt, daß sich ein einzelnes Wort hervortun, gleichsam auftreten kann. Plötzlich fällt, indem es sich aus der Verfugung herauslöst, ein Akzent auf das Wörtchen »ehemalig« und verleiht ihm Gewicht. Es ruft die Vorstellung von Vergangenem, Untergegangenem herbei, die sich nun an den Namen Tauenzien heftet. Unter diesem einen Namen finden sich (wie so oft bei Kleist) allerdings zwei Referenten: Bogislaw Friedrich von Tauentzien (1710–1791) und dessen Sohn Friedrich Bogislaw Emanuel Graf von Tauentzien (1760–1824). Das Erscheinungsdatum der Anekdote und der nach Helmut Sembdner historische Name »v. Bürger«[6] legen allerdings nahe, an den General Bogislaw Friedrich von Tauentzien zu denken. Der war nicht nur ein Held des Siebenjährigen Krieges, der zur militärischen Glorie Preußens beitrug, sondern er ist auch biographisch, werkgeschichtlich und gleichsam anekdotisch mit einem Helden der deutschen Literatur verbunden: mit Gotthold Ephraim Lessing.

Im 7. Buch von »Dichtung und Wahrheit« kommt Goethe auf Lessings Komödie »Minna von Barnhelm« als der »wahrsten Ausgeburt des Siebenjährigen Krieges, von vollkommenem norddeutschem Nationalgehalt« zu sprechen. »Minna von Barnhelm« sei »die erste aus dem bedeutenden Leben gegriffene Theaterproduktion, von spezifisch temporärem Gehalt, die deswegen auch eine nie zu berechnende Wirkung tat«.[7] Den Grund für die dramaturgische Erneuerung sieht Goethe in Lessings »zerstreuten Wirtshaus– und Weltlebene« begründet, das er im »Gefolge des Generals Tauentzien« geführt habe.[8]

Es gibt eine Äußerung Lessings, ein Aperçu , das sich auf den General Tauentzien bezieht. Darin heißt es: »Wäre der König von Preußen so unglücklich geworden, seine Armee unter einem Baume versammeln zu können, General Tauentzien hätte gewiß unter diesem Baum gestanden.«

Eine Wurzel des Baums der Kleistschen Anekdote also führt in die Literatur, zu dem in preußischen Diensten stehenden Lessing. In Lessings »dramatischem Gedicht« »Nathan der Weise« taucht wiederum das Gleichnis von zwei Bäumen auf, die, wenn sie zu eng zusammenstehen, sich gegenseitig die Äste zerschlagen: »Der große Mann braucht überall viel Boden; / Und mehrere, zu nah gepflanzt, zerschlagen / Sich nur die Äste«.[9]

Mit diesem Gleichnis wird, wie aus der Äußerung eines Königsberger Zeitgenossen ersichtlich, das Verhältnis zweier Königsberger Philosophen charakterisiert: das Verhältnis zwischen Kant und dem dreißig Jahre jüngeren Christian Jakob Kraus (1753–1807). Kraus wiederum ist Gegenstand einer heftigen Debatte, die von Adam Müller am 12. Oktober 1810, also kurz nach Erscheinen der Anekdote Kleists, in den »Berliner Abendblättern« entfacht wird.[10] Im Zusammenhang der Neuedition der »Abendblätter« im Rahmen der »Brandenburger Kleist–Ausgabe« hat Roland Reuß die Konstellation als grundsätzliches Verfahren der Kleistschen Zeitung herausgestellt.[11] Wird nicht auch im Fall unserer Anekdote von Kleist ein konstellative Bezüglichkeit als Verweisungsverfahren innerhalb der Zeitung eingefädelt?

In jedem Fall bewirkt das sich verzweigende Beziehungsnetz, daß sich der empirische Referent »Baum« in einen symbolischen verwandelt. Mit dieser Verwandlung ist das Initial für weitere symbolische Assoziationen gegeben: Der biblische Lebensbaum stellt sich ein, der in der Anekdote zum Baum des Todes wird; aber auch der Baum der Erkenntnis, der zur Vertreibung aus dem Paradies geführt hat, zum Sündenfall. Aber ist nicht auch Preußen seit der Niederlage von Jena und Auerstedt aus seinem Paradies gefallen? Ist nicht das von Lessing im Modus eines Exemplums angesprochene Unglück eingetreten? Liest man in der Apposition »vom ehemaligen Regiment Tauenzien« die Aussetzung aus dem Schema kausaler Verknüpfung mit, liest man sie als Detail, dann passieren Geschichten: alte, preußische Geschichten, von mythisch–christlichen und literarischen durchflochten. In dem Maße, in dem alte preußische Geschichten passieren, beginnt ein weiteres Detail zu plaudern: Die Erwähnung der »neuen Promenade«. Zum einen ist damit eine topographische Realitätsmarke gesetzt, welche den Berichtscharakter stärkt. Als Detail gelesen aber entsteht eine Konstellation: Jetzt nämlich wird der Sachverhalt signifikant, daß die »neue Promenade« an die Stelle des Namens »Alte Commandantenstraße« getreten ist. Das Passieren von Geschichten knüpft sich zu einem Motiv: zum Motiv des Umschlags von »alt« zu »neu«, dem Preußen nach den Siegen Napoleons ausgeliefert war. Das »Alte« ist mit dem Adel und dem Militär assoziiert, während das »Neue« dem Bürgerlichen gehört: dem Städtischen, dem Promenieren, dem Flanieren.

Zerbricht das Kausalschema von Ursache und Wirkung, birst die Entsprechung von Wort und Sache, dann kann der Name, dann kann sogar der Buchstabe zur Szene werden. So tauchen in dem einen Namen »Capitain v. Bürger« drei für Preußen dominante gesellschaftliche Instanzen auf: Militär, Adel und Bürgertum. Im Unterschied zur Version des »Freimüthigen« läßt Kleist das ohnehin schon zu »v.« abgekürzte Adelszeichen »von« im zweiten Satz weg. Nach der Rede des Arbeitsmannes Brietz heißt es: »Der Capitain Bürger, der ein stiller und bescheidener Mann ist, stellt sich wirklich unter einen andern«. Nachdem die Rede des Arbeitsmannes bei dem Adligen von Bürger als Befehl angekommen ist, dem er gehorcht, ist das Adelszeichen verschwunden. Was bleibt, ist ein »stiller und bescheidener Mann«, ein Bürger, wie er im Buche steht. Während der Arbeitsmann den symbolischen Adelsplatz des Befehls einnimmt – ein Befehlshaber –, wird der Adlige zum Bürger umgestellt, der diesem Befehl »wirklich« folgt. Erweist sich damit die »Wirklichkeit« als Funktion einer ersetzenden Umstellung, so wird diese ausgeführt: Er geht von einem Baum zum andern. Ein »Bäumchen–wechsel–dich«. Denkt man an das Lessingsche Gleichnis von der Standhaftigkeit des General Tauentzien, so erscheint dieser v. Bürger sogar als ein Verräter an preußischen Tugenden. Der Arbeitsmann Brietz dagegen, in dessen Namen über den Klang der Silben ›–ietz‹/›–zien‹ eine Ähnlichkeit, über die chiastische Anordnung jedoch eine Gegensätzlichkeit zur Geltung kommt, erscheint für einen Augenblick als ein Usurpator und Repräsentant. Da er jedoch den anderen an der Stelle vertritt, welche dieser im doppelten Sinne verläßt, erscheint er als ein Repräsentant von der komischen oder der traurigen Gestalt. Eine Parodie auf die Französische Revolution? Ein achtzehnter Brumaire avant la lettre de Marx? En miniature? Oder aber ist der Blitz ein Vorzeichen? Eine unheimliche geisterhafte Prophezeiung? Kündigt sich das fordernde Auftreten des dritten Standes an? ›Brietz‹ und ›Blitz‹: Die Differenz ist gering.

Die winzige Anekdote, bestehend aus zwei Sätzen, öffnet sich, indem sie die Paradigmatisierbarkeit nach dem Kausalschema setzt und aussetzt. Hervor tritt die labile bewegliche Form des Details, aus dem sich Geschichten entspinnen, welche triviale Tagesbegebenheiten mit großen geschichtlichen Stationen verwickeln. Gemäß dieser Lesart begibt sich in der Anekdote eine Verschiebung dessen, was als »Geschichte« auftaucht. Geschichte ist nicht ein Gegenstand, der beschrieben und als Wissen besessen werden könnte. Vielmehr ist Geschichte das, was passiert, wenn die Paradigmatik der kausalen Verknüpfung sich lockert, löst, an Halt und Formierungskraft verliert. Wenn die Anekdote Geschichten passieren läßt, kommt in/mit ihr das Zufällige und Kontingente ins Spiel. Damit stellt sich diese literarische Kleinstform zugleich als ein Verarbeitungsmodus des großen Themas der Geschichtsschreibung dar. Als Verarbeitung der Disjunktion von Geschichtsschreibung und Dichtung, wie sie seit Aristoteles eingeführt ist. Die berühmte Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung aus dem 9. Buch der »Poetik« lautet:

»Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. [...] Die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Gechichtsschreibung hingegen mehr das Besondere mit. Das Allgemeine besteht darin, daß ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut.«

Während Dichtung nach Aristoteles das Allgemeine, das heißt: die organische Einheit des Seins, bekunden soll, präsentiert Geschichtsschreibung nur die einzelnen Ereignisse, ohne je einer Theorie der Wirklichkeit fähig zu sein. Die Geschichtsschreibung hat das Nicht–Paradigmatisierbare zum Vorwurf, das sich als das ganz Kleine oder das ganz Große der Anschauung und der Erkenntnis entzieht und jeder Anstrengung der Theorie als blinder Fleck begegnet. Werner Hamacher hat gezeigt, daß nach Aristoteles der Zufall mehr und mehr aus der Geschichtsschreibung verdrängt wird, indem er unter den Imperativ der Ästhetisierung und Teleologisierung gerät. Mit Hamacher kann man sagen: Geschichtsschreibung gehorcht zusehends dem Gebot der Ideo–Logisierung, das Aristoteles für die Dichtung aufgestellt hatte. Diese Bewegung, in der Geschichte zur Verwirklichung des Wesens einer Sache und Geschichtsschreibung zur Mimesis ihrer Parusie werden, kulminiert in Wilhelm von Humboldts Schrift »Über die Aufgabe des Geschcihtsschreibers« (1821). Dort heißt es: »Die historische Darstellung ist, wie die künstlerische, Nachahmung der Natur. Die Grundlage von beiden ist das Erkennen der wahren Gestalt, das Herausfinden des Nothwendigen, die Absonderung des Zufälligen.« Damit stellt sich die »wahre Gestalt« und deren Erkenntnis als Effekt einer Verleugnung und Verschweigung des Kontingenten dar: als eine Form der Gewalt. Die Anekdote Kleists bringt die Ästhetisierung von Geschichte zu Fall und verhilft so der verleugneten Kontingenz zur literarischen Artikulation.

Aber ist in der hier vorgeschlagenen Lektüre – trotz aller Problematisierung – nicht immer noch das Paradigma einer konsistenten Sinnbildung wirksam? Eine Konsistenz, die nur möglich ist, sofern eine weitere ambivalente und wolkige Stelle des kleinen Textes übersehen und verleugnet wird. Wie nämlich ist der unscheinbare Signifikant, das Pronomen »er« zu lesen? Auf wen – so lautet die Frage – auf wen bezieht sich eigentlich das »er«, das in der indirekten Rede steht: »Dem Capitain v. Bürger, vom ehemaligen Regiment Tauenzien, sagte der, auf der neuen Promenade erschlagene Arbeitsmann Brietz: der Baum, unter dem sie beide ständen, wäre auch wohl zu klein für zwei, und er könnte sich wohl unter einen Andern stellen.«

Das Pronomen »er« kann sich grammatisch und syntaktisch sowohl auf die eine als auch auf die andere der beiden Figuren beziehen. Wenn man den Bezug zu Brietz herstellt, dann hätten wir es mit einem äußerst höflichen Mann zu tun und einer höflichen Konversation. Damit stellt sich die Frage: Hat die hier vorgenommene Lektüre nicht ihrerseits den Arbeitsmann Brietz, indem sie ihn als Aggressor aufgefaßt hat, einem Paradigma unterstellt, das ihn als Subjekt fixiert und mortifiziert? Habe ich mich nicht meinerseits schuldig gemacht am anderen, am Anderen des anderen? Aus der wolkigen Textstelle trifft mich diese Frage wie ein Blitz.

Genau an dieser wolkigen Stelle nun fällt mir eine witzige Sequenz ein. Sie stammt aus einem Sketch von Karl Valentin: Karl Valentin hat sich in einem Schallplattengeschäft bereits mehrere Schallplatten angehört. Nachdem er eine weitere mit Wohlwollen und großem Behagen vernommen hat, bemerkt er, daß man dazu nicht tanzen könne. Als gute Verkäuferin schließt Lisl Karstadt daraus messerscharf, daß sein Wunsch auf den Erwerb einer Tanzplatte gehe: »Sie wollen eine Tanzplatte.« Daraufhin Valentin: »Wieso?« – An dieser Frage zerfällt blitz– und witzartig das Paradigma der Kontinuität und Widerspruchsfreiheit, unter dem Lisl Karstadt – und hierin gleicht sie mir als Interpretin des Arbeitsmannes Brietz aufs Haar – den anderen spekuliert und damit in der Vorstellung, die wir Wissen nennen, gefangen hält. Eine solche den anderen mortifizierende Spekulation sprengt der Witz auf und gibt dem Subjekt für einen unmeßbaren und unermeßlichen Augenblick das Geschenk abgründiger Ungebundenheit.

Wie verhalten sich der Witz und die Kleistsche Anekdote zueinander? Mit dem Witz teilt die Anekdote die Leuchtkraft blitzhafter Kürze, das Brüske, Unvorhersehbare, welches das Subjekt aus den imaginären Halterungen seiner Vorstellungswelt reißt. Aber es gibt auch signifikante Unterschiede, die sich an der Zeitlichkeit von Witz und Anekdote erweisen lassen. Unter diesem Aspekt sei ein Ausflug zum Witz erlaubt. Mit Bezug auf Samuel Weber kann man sagen: Der Witz als sprachliche Fügung, welche den Sprung ins Lachen bewerkstelligt, ist nur »da«, gleichsam in Aktion, sofern sich etwas präsentiert, was unserer Geistesgegenwart entzogen ist. Er ist nur da, sofern sich etwas präsentiert, was sich nicht (gleich) vorstellen läßt. Der Witz wird den Subjekten – ob Erzähler, Erfinder oder Zuhörer – »sozusagen geschenkt«. Seine Präsenz ist ein Präsent, das nie als solches repräsentiert werden kann. Wird es repräsentiert, als geschenkt dar– und vorgestellt, ist es keines mehr. Dazu eine Probe aufs Exempel, die ich im Anschluß an Weber Sigmund Freuds Buch »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten« von 1905 entnehme. Dort findet sich jener unsterbliche Witz:

Ein Herr kommt in eine Konditorei und läßt sich eine Torte geben; bringt dieselbe aber bald wieder und verlangt an ihrer Statt ein Gläschen Likör. Dieses trinkt er aus und will sich entfernen, ohne gezahlt zu haben. Der Ladenbesitzer hält ihn zurück. »Was wollen Sie von mir?« – »Sie sollen den Likör bezahlen.« – »Für den habe ich Ihnen ja die Torte gegeben.« – »Die haben Sie ja auch nicht bezahlt.« – »*Die habe ich ja auch nicht gegessen.*«

James Strachey übersetzt, in der wörtlichen Rückübersetzung durch Samuel Weber, Freuds Witz–Erzählung in der »Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud« folgendermaßen: »Ein Herr kam in eine Konditorei und bestellte eine Torte; bald aber brachte er sie zurück und verlangte an ihrer Statt ein Gläschen Likör. Dieses trank er aus und wollte sich entfernen, ohne gezahlt zu haben. Der Ladenbesitzer hielt ihn zurück« usw.

Die Veränderung betrifft die Zeitform: bei Freud finden wir das Präsens; bei Strachey das epische Präteritum. Der Übersetzer fügt hinzu, daß damit »unvermeidlich der Witz dabei verschwindet«. Weil aber »vermutlich der Blick des Lesers nicht auf ein augenblickliches Vergnügen, sondern darauf gerichtet« sei, der Ideen Freuds »habhaft« zu werden, erscheint dieser Eingriff für Strachey gerechtfertigt. Die Art und Weise jedoch, in der qua Übersetzung der Witz zum Verschwinden gebracht wird, zeigt, daß Strachey vom Witz etwas erkannt hat. Denn die Zeitform des Witzes bringt die Ordnung durcheinander: die Ordnung der Ideen, des Raumes und der Zeit. »Ein Herr kommt in eine Konditorei [...]« Wann geschieht das? Wo geschieht es? »Jetzt«, antwortet das Präsens. Wo aber ist dieses Hier und Jetzt? Es ist ganz nahe; es geht einen an. Aber diese unsägliche Nähe stellt keinen Gegensatz zu großer unvorstellbarer Ferne dar. Denn die Zeitform situiert die Handlung im Medium der Sprache »selbst« (wenn die Sprache ein Selbst hätte). »Das Präsens weist auf eine Zeit hin, welche die der Äußerung oder der Einschreibung ist, präsent, doch immer wieder und überall, wo gesprochen und gehört, geschrieben und gelesen wird. Indem Witze – und auch Träume – in dieser Zeitform kommen, zeigen sie, daß ihre Zeit hier und jetzt, immer wieder und immerfort ist. Zeit einer Wiederholung, die niemals ganz zu sich selber kommen kann. Immer wird ein Wort für ein anderes gegeben, ohne daß die Schuld je beglichen werden könnte. Der Witz ist ein absolut unberechenbarer Bursche, weil er immer wieder immer hier und jetzt und daher zugleich immer anders und anderswo stattfinden kann, wo es Hörer und Erzähler, wo es Geselligkeit, wo es Leser und Texte gibt.«

Und die Kleistsche Anekdote? Sie bleibt in der Zeitform des Präteritums, das den Vergangenheitscharakter des Berichts, seine Abbildlichkeit und lineare Zeitlichkeit zu stützen scheint. Jedoch wird das Präteritum in diesen Funktionen nicht nur aufgerufen, sondern auch auf unheimliche Weise gestört: »Dem Capitän v. Bürger [...] sagte der, auf der neuen Promenade erschlagene Arbeitsmann Brietz«. Der Arbeitsmann Brietz ist bereits vor seiner Rede erschlagen, nach der er erschlagen wird. Spricht hier geisterhaft ein Toter? Oder stellt die Ent–Stellung der Chrono–Logie, die eine einfache Opposition von Leben vs. Tod impliziert, eine winzige Allegorie auf die Diskursform Bericht dar? Stellt sie dar, daß sich mit dem Auftritt des Berichts das Ereignis immer schon begeben hat? Daß das Ereignis des Berichts den Gegenstand nicht nur transportiert, sondern auch erschlagen haben wird?

Wenn die Zeitform des Präteritum eine Distanz schafft, die dem Subjekt und dem Objekt, der Erinnerung und dem Erinnerten ihren jeweiligen Platz und ihre jeweilige Zeit zuweist, so wird in der Anekdote Kleists diese Distanznahme verdreht und gefährdet. Die Verschlingung von Perfekt und Präteritum um–schreibt im Innern der Erzählung einen undefinierbaren kryptischen Ort, der sich der Darstellung entzieht. Während mit dem Witz ein Augenblick von unmeßbarer und ermeßlicher Zeit gleichsam explodiert, nämlich im Genuß des Lachens, um–schreibt/umschraubt die Anekdote Kleists eine unvorstellbare Leere innerhalb der Textur und an ihren Rändern. Sie beschreibt in sich ein »In–Zwischen«, das, sofern es mit den Thematiken von Tod und Leben verschlungen ist, als Ort der Abwesenheit und Differenz verdeckt anwesend ist. Er gibt keinem explodierenden Lachen, keinem Genießen der Ungebundenheit statt. Doch geht aus diesem unbestimmten Kipport eine lebendige Dynamik hervor: die Dynamik des Erzählens, die sich, wie zu lesen war, im Freisetzen von Details/Singularitäten zu Konstellationen endlos verzweigt, also trennt und verbindet.

Es ist als hätte Kleist das griechische Wort an–ekdota beim Wort genommen, das übersetzt »nicht Herausgegebenes« heißt. Als Bezeichnung für eine Textgattung ist der Terminus »Anekdote« 550 n. Chr. von dem griechischen Geschichtsschreiber Procopius eingesetzt worden: Unter dem Titel »Anekdota« hat Procopius Aufzeichnungen über den (schlechten) Charakter und das (lasterhafte) Leben des Kaisers Justitian und der Kaiserin Theodora versammelt, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollten. Die Anekdote bildet danach eine Art Fußnotentext zur offiziellen Geschichtsschreibung. Als Herausgeber einer Tageszeitung gibt Kleist hingegen eine Anekdote heraus, die keineswegs vorenthält, was andern, geheimen, sozusagen polizeilichen Orts aufgezeichnet und gewußt wäre. Vielmehr schreibt Kleist diesen heimlich–unheimlichen Ort als Ab–Grund des Schreibens seiner Anekdote selbst ein. Wie der Anekdote Kleists dieser der Darstellung und dem Wissen unzugängliche Ort eingeschrieben ist, so erscheint die Anekdote innerhalb der Tageszeitung vielleicht als jene wolkige Stelle, die dem feststellenden Polizeibericht wie dem Bericht über die Tagesbegebenheiten ins Wort fällt.