Sibylle Peters

Die »Berliner Abendblätter« als Agencement: Vom Kalkulieren mit dem Zufall

›Hallucinating Kleist‹

Mancherlei Rücksichten bestimmen mich, mit diesem Blatt, [...] aus der Masse anonymer Institute herauszutreten. Demnach bleibt der Zweck desselben zwar, in der ersten Instanz, Unterhaltung aller Stände des Volks; in der zweiten aber ist er, nach allen erdenklichen Richtungen, Beförderung der Nationalsache überhaupt: und mit meinem verbindlichsten Dank an den unbekannten Herrn Mitarbeiter, der, in dem nächstfolgenden Aufsatz, zuerst ein gründliches Gespräch darüber eingieng, unterschreibe ich mich,

*der Herausgeber der Abendblätter,*

Heinrich von Kleist.[1]

Kleist bekennt sich, er entbirgt sich, er bezeichnet schwarz auf weiß ein Ziel und einen Zweck. Die erste Auffindung der Signatur »Heinrich von Kleist« im 19. Blatt der »Berliner Abendblätter« könnte heimlich geschürten Hoffnungen neue Nahrung geben: Die merkwürdigen Täuschungsmanöver der im engeren Sinne literarischen Texte Kleists, die ein inhaltliches Anliegen gerade in der Dynamik übergroßer Dringlichkeit und Deutlichkeit zu verbergen scheinen, könnten hier, zu guter Letzt, ein Ende finden.

Im Ringen um Verstehen, im Fechten mit dem Bären, war die Lesende, wie wohl alle ihre heutigen MitstreiterInnen, mehr und mehr dahin gelangt, die Finten und Figuren, mit denen die Texte sie an der Nase herumführen, als dasjenige zu begreifen, von dem zu sprechen und zu schreiben wäre. ›Kleist‹ war für sie dabei schon seit längerem nicht mehr der Name einer historischen Person, sondern zur Chiffre dieser Figur der Täuschung geworden, zum Namen einer Blendung, die das allzu direkte Schauen in die Lichtquelle hervorruft. Nun scheint es, als verließe Kleist, als Herausgeber der »Berliner Abendblätter«, den Bereich der Kunst, und die Leserin fände sich zuletzt doch noch einer Person gegenüber mit einem gewissen Wollen und Wünschen.

Doch lesen wir die zitierte Verlautbarung genauer:

Ein anonym bleibender Autor hat einen Text geschickt, den Kleist, die Redaktion, gelesen hat. In der Verlautbarung der Redaktion wird nun dieser Text in gewisser Weise als stellvertretend für das angepriesen, was der Herausgeber Kleist will und wünscht: Kleist entbirgt sich, gibt sich als Herausgeber zu erkennen, um bezüglich seiner Programmatik auf einen anderen zu weisen, einen Unbekannten, präsent allein in einem Text – die Entbergung geht ins Leere, sie verkoppelt nicht Intention und Person. Wäre es zuviel der Lektüre, dieses Bekennerschreiben so gegen sich selbst zu verwenden?

Unbestritten ist seit langem, daß das Schwarz–auf–Weiß der »Berliner Abendblätter« den Weg seiner Referenz immer auch über den Umweg des Nicht–Gedruckten nimmt. Zumindest spannt sich zwischen uns und den Intentionen des Herausgebers ein dichtes Gewebe aus politisch–gesellschaftlichen Rücksichten, Repressionen der Zensurinstanzen und unbekannten Details des regionalen Anspielungsbereichs auf. Es ist also wahrscheinlich, daß der unbekannte Autor, auf den Kleist sich bezieht, nicht gerade deshalb anonym bleibt, weil er Kleist damit die Gelegenheit zu der literarischen Figur des sich partiell wieder entziehenden Bekenntnisses zu geben. Vielmehr läßt sich sein Name und der Grund seines Anonymbleibens wahrscheinlich durch historische Forschung ermitteln.[2]

Statt allein das Gedruckte zu lesen, gälte es also auch das Gewebe der Rücksichten und Kontexte zu entwirren, in dem die »Berliner Abendblätter« stehen. Zieht man aber in dieser Absicht an bestimmten Fäden, so geschieht es immer wieder, daß sich auch dieses Gewebe, statt sich zu entwirren, in filigrane Knoten verwandelt, deren Form in ihrer Fremdheit plötzlich wieder vertraut, nämlich ›kleistisch‹, erscheint. Dies geschieht schon dann, wenn man zunächst nur jene Referenzen überprüft, in denen die Redaktion eine Rolle spielt, die also in der Linie des zitierten Bekennerschreibens stehen. Im elften Blatt etwa findet sich die Beschreibung einer (offenkundig von Kleist erdachten) nützlichen Erfindung, der Bombenpost, mit der es möglich sein soll, wichtige Nachrichten mit Kanonen sehr viel schneller als mit der Post oder durch Reiter zu befödern.[3] Einige Nummern später antwortet ein ebenfalls von Kleist fingierter Leserbrief auf diese Veröffentlichung mit dem Hinweis, der Inhalt der meisten Briefe bedürfe durchaus nicht einer solchen Beförderung – ein Leserbrief, der die ein wenig paradoxe Unterschrift »Der Anonymus« trägt.[4] Die Redaktion, also wiederum Kleist, ist es nun, die sich vom Inhalt dieses »Briefes« in einer »Antwort« folgendermaßen distanziert: »Persiflage und Ironie sollen uns, in dem Bestreben, das Heil des menschlichen Geschlechts, soviel als auf unserem Wege liegt, zu befördern, nicht irre machen«.[5]

Irre macht hier vor allem, daß Kleist, als alleiniger Autor des gesamten Disputs zur Bombenpost, mit dem Bezug auf hehre Ziele – ähnlich denen, die in dem zuerst zitierten und wenige Ausgaben später veröffentlichten »Bekennerschreiben« formuliert werden – offensichtlich sein Spiel treibt; ebenso vielleicht mit der Formulierung »soviel als auf unserem Wege liegt«: Ist das Heil des menschlichen Geschlechts also eine Art Anhalter, der ein Stück Weges zu einem anderen Ziel mitgenommen wird? Die gleiche Figur der Selbstkommentierung findet sich bekanntermaßen auch im Verhältnis der redaktionellen Anmerkung zu der von Kleist fingierten Einsendung »Allerneuester Erziehungsplan«.[6] Und dieses Verwirrspiel ist für keineswegs marginal – selbst die Polizeiberichte, die laut redaktioneller Mitteilung aus dem vierten Blatt »die oft ganz entstellten Erzählungen über an sich gegründete Thatsachen und Ereignisse [...] berichtigen«[7] sollten, um Panik unter den EinwohnerInnen Berlins zu vermeiden, scheinen betroffen. Zum einen arbeitet Kleist dieser Forderung der »Redaktion«, »entstellte Erzählungen« richtig zu stellen, in den zahlreichen Anekdoten, die er in den »Berliner Abendblättern« veröffentlicht, geradezu programmatisch entgegen, zum anderen zeugen aber auch die Polizeiberichte selbst von der Allgegenwart einer Fiktionalisierung des Faktischen: Eine Meldung aus dem achten Blatt etwa beschreibt im lapidaren, fast amüsierten Stil des Unvermeidlichen genau einen solchen durch Vermutung und Hörensagen entstandenen Panikzustand, wie er durch die Veröffentlichung der Polizeiberichte verhindert werden sollte. Geschildert wird, welche Verwüstungen unter den Nutztieren mehrerer Dörfer durch in Panik geratene Menschen allein das Auftauchen eines fremden Hundes verursacht hat, der vielleicht bissig war, vielleicht auch nicht, vielleicht die Tollwut hatte, vielleicht auch nicht – dies läßt sich, wie schon innerhalb der Mitteilung deutlich wird, faktisch nicht ermitteln, sondern lediglich – und zwar auf folgenschwere Weise – vermuten.[8]

Je entschlossener ich der Spur dieser Intertextualitäten folge, desto mehr scheinen sie sich zu vervielfältigen. Sehe ich Geister? Vielleicht, aber was hier herantapst durch das entstehende Dickicht – durch die Dunkelheit des nächtlichen Gartens, in dem ich auf ein Treffen mit dem Geliebten gehofft hatte –, ist doch eher ein Bär, tatsächlich ein Bär. Er erscheint im fünften Blatt in einem Text über Madame de Staels Buch über die Deutschen. Hier heißt es:

[W]ir werden behandelt werden, wie es einem jungen, gesunden, mitunter etwas schwärmerischen, oder störrigen, oder stummen, oder ungeschickten Liebhaber gebührt, den eine solche Dame in die Welt einzuführen würdigt; kurz, wie der Bär im Park der Madame Stael.[9]

Dieser Text ist unterschrieben mit: »A. M.«, den Initialen Adam Müllers. Doch allzu sehr schimmert in vertrauter Spiegelverkehrung die bekannte Szene aus der »Hermannsschlacht« hindurch, allzu wahrscheinlich ist es, daß Kleist auf die eine oder andere Weise diesen Bären losgelassen hat.

In dieser erneuten Begegnung mit dem Bären kann ich dem Schwarz–auf–Weiß der »Abendblätter«, der direkten Referentialität des journalistischen Projekts endgültig nicht mehr trauen, nicht mehr den Initialen und Namenszügen und am wenigsten: »Heinrich von Kleist«. Dem Bären begegnen, das mag stehen für eine starke Verbindung von Schrecken und Faszination – und so kann man tatsächlich umschreiben, was die Leserin angesichts dieser finalen Kleistschen Finte, als die die »Abendblätter« nun erscheinen, empfindet. Erstaunlicherweise richtet sich die Referenz dieser Chiffre nun also nicht mehr auf eine Konstellation in einem literarischen Universum, sondern trifft eine Empfindung, die sich beim genauen Lesen der »Berliner Abendblätter« einstellt. An der Stelle der literarischen Konstellation des schrecklichen und faszinierenden Zusammentreffens ist nun ein Geschehen in der Rezeption durch die Leserin eingesetzt. Sie selbst trifft in dieser Figur nicht, wie zunächst erwartet, auf Kleist, den Herausgeber, sondern auf ›Kleist‹, sie wird als Leserin, und damit als genuiner Bestandteil des Projekts der »Berliner Abendblätter«, in jene Figur der Täuschung durch Transparenz, Verdunkelung durch Klarheit, deren Name ›Kleist‹ ist, hineingezogen. Der Unterschied zwischen den »Berliner Abendblättern« und den Texten der Erzählungen und Dramen, der Zaubertrick, der dieses imaginäre Zusammentreffen ermöglicht und meine Verwicklung in die Figur erzeugt, besteht darin, daß Kleist (welcher?) diese Figur in den »Abendblättern« in–szeniert, indem er selbst die Szene betritt: Eine letzte Täuschung durch Klarheit konstituiert sich gerade dadurch, daß die »Berliner Abendblätter« eine vermeintlich stabile Referenz in einer gesellschaftlichen Wirklichkeit haben, ihre Namenszüge sich auf reale Personen beziehen, die Teil eines historischen Kontinuums sind, einer Geschichtserzählung, die den Autor Kleist mit der heutigen Leserin der »Abendblätter« verbindet, ohne daß derselbe als Akteur und Träger seiner Intentionen in dieser Erzählung damit auffindbarer würde. Im Lesen der »Berliner Abendblätter« gelingt es letztlich weder, die Texte in ihren Referenzen auf soziokulturelle Wirklichkeit zu fixieren, noch in ihnen eine stabile Beziehung zwischen Intention und Ausdruck wiederzufinden. Dies haben sie mit den im engeren Sinne literarischen Texten Kleists gemeinsam. Die Leseerfahrung gestaltet sich jedoch in diesem Fall um so turbulenter, als ein solches Fassen und Feststellen der Texte und ihrer Beziehungen zueinander durch den Status der Zeitung immer wieder nahegelegt werden. Die Bewegung des Verfehlens zieht dadurch Intention und Wirklichkeitsreferenz als Figuren in ihre Dynamik formal mit ein und organisiert ihre Turbulenz mithilfe dieser Figuren. Das Schreiben und das Lesen der »Berliner Abendblätter« scheint von der Dynamik des zu Schreibenden, zu Lesenden affiziert zu werden, statt ihrer Herr zu sein.

Vielleicht ist es also gerade diese Turbulenz, die für die Zwitterposition der »Berliner Abendblätter« zwischen künstlerisch–performativem Experiment und journalistischem Projekt konstitutiv ist. Wie läßt sie sich beschreiben, welches Vokabular könnte diesem Grenzgang zwischen Fiktionalisierung und Wirklichkeit gerecht werden?

Tat und Tatsache, Akt und Aktualität

Von hier aus beginnt eine neuerliche Suche. Die geschilderte erste Begegung mit den »Abendblättern« geschah, vielleicht ohne dies zu reflektieren, entlang einer Grenze von journalistischem und ästhetischem Zugang zu Lebenswirklichkeit, einer Grenze, die in Beziehung zu weiteren Dualismen steht, wie etwa dem von gesellschaftspolitischer Programmatik und literarischer Umsetzung, Agititation und künstlerischem Ausdruck, vielleicht auch dem zwischen Lebenunterhalt und Lebensinhalt. Mit Blick auf diese Grenzen entstand die Hoffnung, Kleist einmal auf ihrer anderen Seite zu begegnen. Statt dessen geraten die entsprechenden Grenzlinien durcheinander. Und dieses Durcheinander läßt sich nicht ordnen, indem man die Hoffnung auf eine Begegnung mit Heinrich von Kleist als historischer Person fahren läßt und die »Berliner Abendblätter« nun auf der Seite der Kunst verortet. Meine Absicht ist deshalb, mich diesem Wirbel ein Stück weit auszusetzen und meine Fragestellung umdrehen zu lassen: Vielleicht, dies läßt sich hier nur erahnen, speist sich die Grenze zwischen Kunst und Realität, Fiktion und Faktum, die sich in ihrer heute geläufigen Form geradezu paradigmatisch in der Unterscheidung zwischen einem journalistischen und einem ästhetischen Zugang zu »Lebenswirklichkeit« darstellt, aus einer solchen Turbulenz, wie sie in den »Abendblättern«, also ganz zu Beginn der Entwicklung des modernen Journalismus, noch offen wütet. Das, was diese Grenze immer wieder unterläuft, wäre dann weniger eine romantisierende, ästhetisierende Überspielung derselben als die Dynamik ihrer eigenen Autopoiesis.

Die Suche nach einer Beschreibung dieser Turbulenz, die die »Abendblätter« auch in ihrem Miteinander von literarischen und anderen Texten organisiert, könnte von einem Verhältnis ihren Ausgangspunkt nehmen, das in den Vokabeln von »Tatsache« und »Aktualität« selbst lesbar wird. Diese Begriffe bezeichnen wesentliche Attribute, die aus heutiger Sicht journalistische Praxis kennzeichnen: Die Größe der Tatsache, der Tatsächlichkeit, verweist auf den Anspruch objektiver Berichterstattung; Aktualität steht für eine Relevanzordnung, die Zeitlichkeit und Wirksamkeit zusammenbindet. Beide sind den »Berliner Abendblättern« erklärtermaßen ein Anliegen, und beide stehen aus heutiger Sicht für die Stabilität der Referenz auf ein relevantes Gegebenes, durch die sich journalistische Praxis erst legitimiert.

Eine seltsame Dissonanz zur Stabilität dieser Referenz wird laut, bringt man die Etymologien der Vokabeln zum klingen. Tat und Akt, Tun und Aktivität organisieren diese Wörter. In der Verbindung von Tat und Sache findet sich dabei eine merkwürdige Gegenbewegung: Eine Sache, so sollte man meinen, ist das, was begegnet, das, worauf man stößt. Die Tat, das Tun, also Eingreifen und Veränderung, erscheint als Gegenstück dazu.[10] Gleiches gilt für die Aktualität: Sie nimmt Bezug auf die Zeit, auf eine zeitliche Ordnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, also auf das Vergehen derselben. Im Akt der Aktualität verbindet sich nun Aktivität mit dem, was vor allem anderen erduldet werden muß, was immer schon und ohnehin geschieht.

Tatsächlichkeit, Subjekt–Objekt–Beziehung einerseits und zeitliche Ordnung andererseits fungieren üblicherweise als das Koordinatensystem, innerhalb dessen sich Tun und Handeln erst vollzieht. In der Verbindung jedoch, die Tat und Akt in der Tatsache und der Aktualität in diesem System miteinander eingehen, erscheinen diese vermeintlichen Achsen mit dem Tun, das sich auf sie beziehen mag, koexistent. Aktivität und Passivität werden hier am Ursprung der Ordnung, durch die sie organisiert sind, ununterscheidbar.

Lessing schreibt über das Wort ›Tatsache‹:

das wörtlein thatsache ist noch so jung. ich weis mich der zeit ganz wohl zu erinnern, da es noch in niemands munde war. aber aus wessen munde oder feder es zuerst gekommen, das weißz ich nicht, noch wenger weisz ich, wie es gekommen sein mag, dasz dieses neue wörtlein ganz wider das gewöhnliche schicksal neuer wörter in kurzer zeit ein so gewaltiges glück gemacht hat; noch wodurch es eine so allgemeine aufnahme verdient hat, da man in gewissen Schriften kein blatt umschlagen kann, ohne auf eine thatsache zu stoßen.[11]

Die Jugend und der rasche Siegeszug der Tatsache läßt vermuten, daß das Spiel von Aktivität und Passivität, das sich in ihr entfaltet und heute nur noch als versteckte Dissonanz erscheint, um 1810 noch lebendig war. Auch Aktualität wurde in der Bedeutungsnuance, in der sie uns geläufig ist, um 1800 aus dem Französischen entlehnt (actuel) und erst im Laufe einer neuen Theorie der Geschichte im Laufe des 19. Jahrhunderts konzeptuell denkbar. Dabei wird, verkürzt gesagt, der von Aristoteles und aus der Scholastik stammende Gedanke, der eine gegenwärtige Konstellation von Wirklichkeit in den Zusammenhang einer Ganzheit des Werdens stellt, auf neue Art wieder aufgenommen. Dieser Zusammenhang wird unter anderem durch durch das Miteinander von Aktualität und Potentialität gewährleistet – Aktualität ist darin eine Form der Gegenwärtigkeit, die als Entfaltung einer Potentialität das Präsens überschreitet und so die Erfahrung des Werdens konstituiert.[12]

Zum Stellenwert von Akt und Tat zieht sich ein ganzes Netz von Verweisungszusammenhängen durch die »Berliner Abendblätter«: Der Text »Von der Überlegung«[13] korrespondiert dabei mit dem »Brief eines Mahlers an seinen Sohn«[14], mit den »Fragmenten aus den Papieren eines Zuschauers am Tage«[15], mit dem Epigramm »Gut und Schlecht«[16] und vielen weiteren Texten. In den Texten Kleists wird dabei die Tat, die Performanz, immer wieder gegenüber der Überlegung, der Betrachtung, der Meditation, der Zurückhaltung aufgewertet. Läßt sich nun zwischen der Aufwertung der Tat, der Performanz, die in diesem Netz von Verweisungen innerhalb der »Abendblätter« transportiert wird, und dem journalistischem Anspruch auf Tatsächlichkeit und Aktualität eine Verbindung herstellen, die uns einer Beschreibung jener merkwürdigen Performanz näherbringen kann, als die die Herausgabe der »Berliner Abendblätter« selbst erscheint? Die Antwort auf diese Frage muß einen weiteren kleinen Umweg in Kauf nehmen.

Das Kalkül mit dem Zufall

Tatsachenbezug und Aktualität werden zu Ansprüchen der »Berliner Abendblätter« zu einem historischen Zeitpunkt, an dem, vertrauen wir einen Augenblick auf das ideengeschichtliche Kontinuum, der Glaube an die Tat, an die prinzipiell unbegrenzte Möglichkeit menschlichen Eingreifens, bereits in seinem Entstehen erste Risse zeigt. In diesen Rissen blitzt eine Verwandtschaft des geschilderten Verhältnisses von Aktivität und Passivität mit Kants folgenreichem Spiel des Schönen auf, die ich ganz kurz skizzieren möchte: Kants Kritiken der reinen und der praktischen Vernunft, in denen er die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis einerseits und moralisch sinnvollem Handeln andererseits befragt, hatten ergeben, daß die Verfahrensweisen der Vernunft, um eine sinnvolle Einheit des denkenden und handelnden Subjekts sicherzustellen, notwendig über die Grenzen erkenntnistheoretischer Gewißheit hinausgehen müssen. Das menschliche Subjekt kann den Sinn seines Agierens, sei es auf dem Gebiet der Erkenntnis, sei es auf dem des sozialen Handelns, nur um den Preis der letzten Gewißheit eben dieses Sinnes herstellen.

Mit seiner Ästhetik scheint Kant aus diesem Dilemma einen Ausweg zu eröffnen, der sich von heute aus betrachtet als Überblendung der Konzepte von Autopoiesis und Mimesis verstehen läßt: Im Schönen eröffnet sich ein Raum, in dem das Subjekt im harmonischen und zweckfreien Spiel seiner Vermögen seine Einheit als seine Natur, das heißt auch als sinnvolles Analogon zur äußeren Natur, erfahren kann. Dieser Raum eröffnet sich gerade dadurch, daß das Subjekt die Erfahrung der Einheit in diesem Spiel nicht auf den Begriff bringt, also letztlich nicht als ihm eigen beherrscht. Die Erfahrung der harmonischen Einheit, des Sinns, widerfährt, und dennoch bringt Kant das Subjekt nicht in Abhängigkeit von etwas anderem, ihm Äußerlichen. Dies gelingt ihm durch die Konstruktion einer vollständigen Koinzidenz von Selbstaffektion und Affektion durch ein Anderes in der Verdoppelung des Naturbegriffs: Dem Subjekt begegnet die Erfahrung seiner Einheit als etwas, das es nicht beherrschen, herstellen, auf den Begriff bringen kann. Sie begegnet ihm jedoch nur in seinem eigenen Agieren, in einem Agieren, das deshalb zweckmäßig ist, ohne einen Zweck haben zu dürfen. Die Passivität in der Erfahrung des Sinns existiert nur auf der Basis einer Aktivität der subjektiven Vermögen. Das reflektierte zielvolle Agieren als Konzept stützt sich in der Hoffnung auf einen Sinn von nun an auf eine andere Art des Agierens, das dem Planen und Reflektieren ein Stück weit entsagt und so ein Affiziertwerden ermöglicht.[17]

In Kants Formulierung des Geniebegriffs wird noch deutlicher, welche neue Ökonomie der Tat dabei virulent wird: In der genialen Produktion muß das Subjekt agieren, ohne über Ziel und Zweck seines Agierens begrifflich zu reflektieren. Dadurch eröffnet sich in dieser Aktivität der Ort einer Passivität, in dem »die Natur durch ein Genie [der Kunst] die Regel g[ibt].«[18] Das Genie leistet einen operationellen Vorschuß, es begibt sich in seinem Tun in eine Position des Erleidenden, des Empfangenden, und beherrscht so im Kunstwerk das Unbeherrschbare – so zumindest der Plan. Von diesem Gedankengang aus, der sich bei Kant noch als kritisch–analytischer liest, entfaltet sich in der nachfolgenden theoretischen Entwicklung ein Kalkül mit dem Nicht–Kalkulierbaren, ein Kalkül mit dem, was zufällt, ein Kalkül mit dem Zufall. Mit Schillers Rezeption und Weiterentwicklung Kants tritt dieses Kalkül vollends seinen Siegeszug an.[19] Bereits hier wandert es aus dem Gebiet der Kunst im engeren Sinne aus und wird zum anthropologischen Prinzip, das auf alle Herstellungsprozesse des Menschen Anwendung finden soll. Die Kunst, das heißt die künstlerische Produktion, bleibt dennoch weitgehend das Vorbild eines solchen Konzepts von Tat und Herstellung, das damit prinzipiell ein ästhetisches ist: Das vorreflektive Tun eröffnet einen Raum, in dem die äußere Natur und die Natur des Subjekts als Einheit von Denken und Handeln sich entbergen und abbilden können. Das verborgene Wirken der duplizierten Natur wird im Kunstwerk sichtbar, schließlich auch in jenem Kunstwerk, zu dem die menschliche Gemeinschaft in Gestalt des Staates stilisiert wird.

In welcher Konstellation begegnet uns diese Strategie der ästhetischen Performanz bei Kleist?

Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. [...] Oft sitze ich an meinem Geschäftstisch über den Akten, und erforsche, in einer verwickelten Streitsache, den Gesichtspunkt, aus welchem sie wohl zu beurteilen sein möchte. Ich pflege dann gewöhnlich ins Licht zu sehen, als in den hellsten Punkt, bei dem Bestreben, in welchem mein innerstes Wesen begriffen ist, sich aufzuklären.[20]

Ausgehend von Anspielungen auf Descartes und den rationalistischen Glauben an universelle Gestaltbarkeit und Transparenz reflektiert Kleists Text »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« eine Krise im Prozeß von Herstellung und Erkenntnis. Sein Vorschlag zur Überwindung dieser Krise scheint dabei zunächst genau das eben geschilderte Modell des aktiv/passiven Entbergens einer verborgenen (natürlichen) Wirksamkeit abzubilden:

Und siehe da, wenn ich mit meiner Schwester davon rede, welche hinter mir sitzt, und arbeitet, so erfahre ich, was ich durch ein vielleicht stundenlanges Brüten nicht herausgebracht haben würde. [...] weil ich doch irgend eine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist.[21]

Anders als der Titel es erwarten ließe, handelt es sich bei diesem Text jedoch zunächst nicht um eine Analyse, eine Deduktion oder eine abbildende Beschreibung, sondern um eine Anleitung. Dieser Charakter der Anleitung – eine Anleitung zum Kalkül mit dem, was zufällt – eröffnet den Weg zu einer radikalpragmatischen Komplizierung des beschriebenen Modells. Die Anleitung lautet in verkürzter Form folgendermaßen: Gerätst du mit deinem zielgeleiteten Tun in eine Krise, begib dich aktiv in eine Konstellation, in der du passiv bist, in der du erleidest – sei es der Entzug der Schwester, sei es eine Todesdrohung –, und im Rahmen dieses Erleidens wirst du aufs neue produktiv werden. Aktivität und Passivität werden hier offensiv miteinander verwunden. Das, was dem Subjekt zustößt, wird nun bewußt gesucht, um den Prozeß der Selbstermächtigung auszulösen, der im Agieren des Subjekts eine Einheit erzeugt, und so dem Anfang ein Ende finden kann – aber nicht muß, wie weitere Beispiele in Kleists Text zeigen.

Entgegen der ersten Annahme erhöht der nunmehr explizite Charakter der Anleitung die Sicherheit des Kalküls mit dem, was zufällt, nicht, sondern setzt es in seinem Funktionieren erneut aufs Spiel: Wird qua Anleitung deutlich, daß die Passivität gemacht ist, daß sie aktiv hergestellt wird, so verschwindet darin jener Moment, in dem etwas widerfahren könnte – das Kalkül mit dem Zufall muß sich als solches verbergen, um zu funktionieren. Wird es als Kalkül sichtbar, tendiert die Bedrohung, die in der Auslieferung des Subjekts an das Andere (z. B. der Natur) liegt, das Risiko (der Zwecklosigkeit), das in der Zweckfreiheit eingegangen wird, notwendigerweise gegen null oder aber muß durch ein anderes, realeres Risiko ersetzt werden, etwa dasjenige, Schaden an Leib und Leben zu nehmen. Indem Kleist das Kalkül als solches benennt, es für eine Anleitung zur Sinnproduktion nutzt, erweist sich die Verwindung von Aktivität und Passivität im Innern des Kalküls nicht mehr als die mythologisch aufgeladene Begegnung mit der Natur im Subjekt und außerhalb desselben. Das Kalkül wird statt dessen zu einer quasi elektrischen, experimentellen Konstellation der Bedrohung, die zum Zweck einer produktiven Selbstermächtigung gesucht wird, die aber ebensogut zur Vernichtung des Agierenden führen kann, dessen Status als Subjekt damit gleichermaßen aufs Spiel gesetzt wird. Wird das Kalkül mit dem Zufall als solches markiert, wie dies in dem Text »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« geschieht, so wird es kenntlich als ein unsicheres Kalkül mit der Gewalt.

Dieses Kalkül mit der Gewalt beginnt in jenem Moment, indem das Ich des Textes den Schreibtisch verläßt. Schreiben, als Ordnung der Repräsentation, wird hier abgelöst durch ein Sprechen als ein Handeln in einer Verwindung von Aktivität und Passivität.

Die »Berliner Abendblätter« als ›Agencement‹

Ausgehend von Kant entfaltet sich ein Kalkül mit dem Zufall, das ein Tun vor der Überlegung vorschreibt, in das zur Geltung kommen kann, was zufällt. Auch der Text »Von der Überlegung. (Eine Paradoxe.)«, erschienen in den »Abendblättern« vom 7. 12. 1810,[22] stellt dieses Kalkül dar und damit aus. Dies geschieht in mikrologischer Form bereits im ersten Satz der mündlichen Rede, die in den Text eingelassen ist: »Die Überlegung, wisse, findet ihren Zeitpunkt weit schicklicher *nach,* als *vor* der That.«[23] Das eingeschobene »wisse« gerät dabei in entschiedenen Widerspruch zur Aussage des Satzes selbst. Ähnliche Bewegungen organisieren den Text als Ganzes: Inhaltlich wird auf das besagte Kalkül insofern reflektiert, als argumentiert wird, der Sinn einer Tat und des durch sie ausgelösten Geschehens lasse sich in der Retrospektive recht einfach finden, während eine wohlüberlegte, das heißt bewußt zielgeleitete, Handlung nur allzuoft scheitere und damit eine Einheit von Denken und Handeln unmöglich erscheinen lasse, die sich in der Retrospektive doch so leicht ergeben kann. Die Schilderung dieses Sachverhalts mag an sich paradox genug erscheinen, sie wird jedoch durch die Paradoxie der textlichen Form noch überboten. Offensichtlich ist dieser Sachverhalt zunächst einmal seinerseits Gegenstand einer Überlegung, und zwar einer Überlegung, die dereinst in ferner Zukunft eine Tat zur Folge haben soll: Das Ich des Textes will seinem Sohn, wenn dieser einmal Soldat werden sollte, einen entsprechenden Ratschlag geben. Auch in diesem Text findet sich also der Übergang vom Schriftlichen ins Mündliche der Rede, die jedoch ihrerseits in der Vorbereitung schriftlich niedergelegt, also geplant und damit als Aktion dem Scheitern ausgesetzt wird. Die Überlegung über das Verhältnis von Tat und Überlegung hat im Text »Von der Überlegung« ihren Ort offensichtlich vor der Tat, und liefert damit, folgt man der geschilderten Überlegung selbst, das gesamte Vorhaben dem Scheitern aus – ein Widerspruch durch Selbstbezüglichkeit, auf den der Untertitel »Eine Paradoxe« hinzuweisen scheint. Eben dieser Widerspruch durch Selbstbezüglichkeit ist es, der das beschriebene Kalkül des Zufalls, sobald es zu einer Handlungsanleitung wird, heimsucht und erschüttert – eine Erschütterung, die schon den Text »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« organisiert, die im Text »Von der Überlegung« jedoch weiter verdichtet und als solche sichtbar wird: Der Dualismus einer in der Ordnung der Repräsentation fixierten Überlegung einerseits und einer radikalpragmatischen Performanz andererseits wird in der Selbstbezüglichkeit, mit der der Text gerade auch durch die Einverleibung des Mündlichen in das Schriftliche seiner eigenen Textlichkeit spielt, in eine katastrophische Dynamik verwickelt.

Indem das Lob des Tuns und der Performanz sich ebenfalls als in der Repräsentation fixierte Überlegung zu erkennen gibt, richtet sich spiegelbildlich das Augenmerk auch auf das Performative in der Entstehung des Textes »Von der Überlegung« selbst, der seinerseits niedergeschrieben und veröffentlicht wurde – und zwar in den »Berliner Abendblättern«, einer Tageszeitung, die als solche das Performative in der Entstehung von Texten stark in den Vordergrund rückt. Indem der Text den Blick auch auf das Performative der Überlegung und des Schriftlichen lenkt – und zwar gerade auf der Rückseite des paradoxen Scheiterns jeder in der Repräsentation beherrschbar gewordenen Strategie der Performanz –, beläßt es Kleist in gewisser Weise nicht mehr dabei, das einfache Kalkül des Zufalls, wie es oben skizziert wurde, zu erschüttern und in seiner Kalkuliertheit, das heißt seiner Selbstreferentialität, auszustellen. Insofern er das Kalkül seiner Paradoxie nicht ausliefert, sondern dieselbe für einen Übergang des Kalküls aus seiner einfachen in eine komplexere Form verwendet, zeigt sich ein Unterschied zwischen der Paralyse, die durch ein Scheitern des Kalküls mit dem Zufall ausgelöst werden kann, und jener Raserei der Unentscheidbarkeit, in die sich die Kleistschen Verfahrensweisen immer wieder verwickeln.

Noch einmal: Die Überlegung zum richtigen Zeitpunkt der Überlegung nach der Tat, die die Tat eines Ratschlags zur Folge haben soll, widerspricht sich selbst. Dieser Widerspruch wird von Kleist jedoch seinerseits nicht nur beschrieben und im Sprachlichen beherrscht, sondern seinerseits ausgeschrieben und performativ in Szene gesetzt – bis die Performanz der Entstehung des Textes »Von der Überlegung« selbst auf der Szene erscheint. Dieses In–Szenieren der Paradoxie der Überlegung vom Verhältnis von Überlegung und Tat ist damit seinerseits eine Performanz, eine Tat, die dem Text »Von der Überlegung« in seinem bereits in sich paradoxen referentiellen Moment vorausgeht. Überlegung und Tat, Schreiben und Handeln, geraten damit in einen Strudel, der sie ununterscheidbar macht und dennoch ihre Differenz nicht völlig aufhebt, so daß kein Stillstand, sondern eine Beschleunigung des Wechsels die Folge ist: Das Kalkül wird als solches markiert, seine Paradoxie wird ausgestellt. Statt einer Paralysierung erfährt es dann jedoch eine Affirmation, Entgrenzung und Beschleunigung darin, daß die zu Beginn verdeckte Überlegung, die das Kalkül als solches einsetzt und seine Bewegung zu beherrschen sucht, ihrerseits als Performanz, als Tat, kenntlich und damit von der Gewalt des Zufalls getroffen wird. Die Affirmation des Kalküls geschieht so zum Preis seiner Beherrschung, ohne daß damit doch die Figur der Beherrschung aufgegeben würde – im Gegenteil wird gerade sie Motor der Dynamik, mit der das einfache Kalkül in seine komplexere Form übergeht. Paradigmatische Situation dieses entgrenzten Kalküls ist nicht das intuitive Tun, das sich einer Rechenschaft über sich selbst verweigert, sondern statt dessen das Fassen eines Planes zum Zwecke der Auslösung einer Dynamik seines Scheiterns. Die Selbstbezüglichkeit wird eine doppelte, die nicht nur an den Pol der Überlegung, sondern chiastisch auch an den der Tat anschließt und somit im präzisen Sinn des Wortes performativ wird. Hiermit löst Kleist Organizität, als klassisch–romantisches Modell der ästhetisierten Produktion, durch Elektrizität ab: Es geht nicht mehr darum, für einen verborgenen Keim ein Klima des Wachstums zu schaffen, sondern um den Aufbau einer Spannung, die zu blitzartigen weiteren Auf– und Entladungen führt, wie dies zum Beispiel auch in dem Text »Allerneuester Erziehungsplan«[24] skizziert ist.

Mathieu Carrière beschreibt das entgrenzte Kalkül des Zufalls, diese ins katastrophische gewendete Strategie des Performativen, als »Agencement«. In seinem an die verstreuten Überlegungen von Deleuze und Guattari zu Kleist angelehnten Gedankengang ist das Agencement »Synonym für Maschine, d. h. die Agentur, die Verkoppelung von beliebigen Kräften oder Strömen nach einem abstrakten Plan zum Zwecke spezifischer, immanenter Produktion von Begehren«.[25] Im Französischen meint ›agencement‹ darüber hinaus auch Faltenwurf. Ich möchte das Wort für die »Berliner Abendblätter« gebrauchen, indem ich es in Richtung auf eine solche performative Übereilung des Repräsentativen verschiebe, wie ich sie anhand des Textes »Von der Übrlegung« vorläufig skizziert habe. Agencement meint kein Ersetzen der Repräsentation durch die Tat, sondern eine Forcierung des Performativen der Repräsentation in der labilen Verbindung, die jedes sinnvolle Handeln, um ein solches zu sein, mit der Performanz von Sinnkonstruktion aufnehmen muß – eine Forcierung, die für diese Beziehung von Tun und Sinn zu einer Katastrophe wird. Das Agencement schließt in Carrières Essay zu Kleist die Biographie und die Texte Kleists miteinander kurz. Carrière schreibt:

Kein Plan, der die künstlerische Produktion zu einem ›Werk‹ totalisieren könnte. Ein Plan ist bei Kleist abstrakte Maschine; nicht Bild der Schöpfung, sondern Transportregel von einem Agencement zum nächsten. Der Plan ist eine Formel, ein Projekt, dessen Ausführung gar nicht so wichtig ist und sicher nicht sein genaues Abbild. Wichtig ist es, eine Transportformel zu haben, immer eine neue. Bei Goethe koinzidiert der Plan mit der Konstruktion, der eine ist Modell der anderen. Bei Kleist hat der Plan wenig mit dem zu tun, was geplant ist: mit seiner Verlobten eine Übermenschenrasse zu zeugen oder der Plan, Napoleon zu vergiften, führen weder zu Heirat noch zum politischen Mord, provozieren aber eine Liebesbriefmaschine oder veranlassen ihn, auf dem Schlachtfeld Gedichte vorzutragen, für Österreich zu spionieren oder ein Stück zu schreiben. Ein Plan erlaubt es, etwas Neues zu unternehmen.[26]

Wie sieht es vor diesem Hintergrund nun mit dem Plan aus, eine Tageszeitung herauszugeben? Ist das nicht geradezu eine radikalisierte Form des genannten Kurzschlusses, der im Agencement seine ›Form‹ hat? Wäre das Agencement dann die ›Form‹ einer Aktualität und einer Tat–sächlichkeit der »Berliner Abendblätter«?

Schon an früherer Stelle der hier versuchten Analyse hätte sich argumentativ die Möglichkeit ergeben, die »Abendblätter« als »allmähliche Verfertigung der Gedanken« – der Texte beim Veröffentlichen – zu bezeichnen und in ihnen damit eine Umsetzung der in dem Text »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« beschriebenen Programmatik in die eigene Produktionsweise zu sehen. Dies hätte jedoch den Eindruck hervorrufen können, die »Abendblätter« wären eine Umsetzung des beschriebenen Kalküls in seiner einfachen Form, und somit von Kleist in seiner Doppelrolle als Herausgeber und Anonymus hinter den Kulissen als solches künstlerisch geplant und beherrscht, also gewissermaßen »inszeniert« im klassischen Sinn des Wortes. Es sollte jedoch deutlich werden, inwiefern das Agencement der »Abendblätter« erst dadurch entsteht, daß Kleist selbst die Szene des damit entgrenzten Kalküls betritt, also in–szeniert.

Die »elektrischen« Konstellationen, in denen die Produktion der »Berliner Abendblätter« statthat, haben dennoch vieles mit jenen gemeinsam, die in dem Text »Über die allmähliche Verfertigung [...]« beschrieben werden: Da sind Adressaten wie Iffland, Gruner und andere Repräsentanten der Macht – Adressaten, die mit einer Kontrollgewalt ausgestattet sind, die sowohl zum Stottern als auch zu einer siegreichen Konvulsion der Sprache veranlassen kann, die sowohl attackiert, als auch verführt werden sollen. Schreiben in diesen Konstellationen ist Handeln, ein Handeln im Angesicht der Gefahr. Andererseits kann und muß jeder Handlungsimpuls sich in Textproduktion niederschlagen, einer Textproduktion, die bereits durch ihre formale Organisation unter Druck steht, unter Zeitdruck – das Ende der Produktionszeit widerfährt dem Schreibenden unablässig, täglich. Begreift man die »Berliner Abendblätter« in diesem Sinne als Agencement, wird sichtbar, daß die schwierigen und hinderlichen Bedingungen ihrer Herausgabe eben nicht nur zu bedauern sind; daß sie zwar möglicherweise zu ihrem Ende, sicherlich aber auch zu ihrem (täglichen) Entstehen beigetragen haben.[27]

Außerdem findet sich hier vielleicht ein Weg, die nur scheinbar banale Frage zu beantworten, warum die »Berliner Abendblätter« täglich erschienen sind, eine Antwort also auf den Charakter ihrer Aktualität. Kaum einer der in den »Abendblättern« auftretenden Texttypen verlangt das tägliche Erscheinen, im Gegenteil. Es findet seine Notwendigkeit indessen vielleicht gerade in der Verbindung, die die Vokabel der Aktualität mit einer katastrophischen Strategie des Performativen unterhält. Eine Verbindung, die zugleich das fehlende Glied zwischen den beiden Bedeutungen von Aktualität markiert: zwischen jener Aktualität, die im philosophischen Kontext die Manifestation des Werdens und Wirkens eines verborgenen Zusammenhangs im Präsens des einzelnen Aktes meint, und jener Aktualität, die im heutigen journalistischen Kontext dem diffusen Audruck der Zeitnähe korrespondiert.

Die Kriege des Agencements

Die Rede von den »Berliner Abendblättern« als Agencement setzt Kleist nicht als Autor–Gott und Performance–Künstler des Zeitungs–Projekts und der darin verhandelten Welt ein und erklärt die »Abendblätter« nicht zu Kunst. In gewisser Weise ist es im Gegenteil gerade das Agencement, das durch seine Übereilung und Forcierung jener Strategie des Performativen, die in der künstlerischen Produktion ihr Modell findet, Kunst als Modell von Sinnkonstitution tendenziell verunmöglicht. Indem Kunst in der Nachfolge der dritten Kritik Kants zu einem neuen Modell von Sinn herstellender Performanz wird, ist sie in der hegemonialen Position, die dieses Modell in der Theoriebildung um 1800 einnimmt, paradigmatischer Ausdruck eines kontrollierten Umgangs mit dem Kalkül des Zufalls. Kleists entgrenzende Affirmation dieses Kalküls, die Elektrisierung, die Raserei der oben skizzierten chiastischen Selbstbezüglichkeit von Tat und Sinn richtet sich damit auch gegen den Dichter als der illusorischen Figur einer sanften, gewaltlosen und damit als solche verdeckt bleibenden Beherrschung des Kalküls. Wie gesagt: Auch das Agencement operiert mit der Figur der Beherrschung, die Pläne faßt, Ziele und Zwecke verkündet; in den »Abendblättern« ist dies die Figur der Redaktion. Es bringt aber dennoch oder gerade deswegen einen Kontrollverlust mit sich, der vielleicht in dem Wort vom In–Szenieren sichtbar wird, liest man es als Versuch der Beherrschung einer Konstellation und zugleich als ein Betreten derselben, womit die Figur der Beherrschung ihrerseits vom Szenischen des Kalküls beherrscht würde. Diese Form des Kontrollverlusts verbindet Kleists literarische Texte mit dem Projekt der »Berliner Abendblätter« in seiner Performanz, und zwar ungeachtet der unterschiedlichen Situationen der Referenzbildung. Das Agencement ist damit auch die Übertragung eines narrativen Experimentierens mit dem Zufall – einer experimentellen Narrativität – auf die Produktionsweise von Texten selbst, deren Referenz dann konsequenterweise auf eine Lebenswirklichkeit zielt, die den Autor selbst als Figur auf der Szene des Kalküls mit einschließt.[28] Das Agencement wäre also die genaue Verkehrung jener mehr oder weniger romantischen Bewegung, in der die Kunst in einer globalen Ästhetisierung ihre Grenzen sprengt und sich als Heilsbringer aller möglicher anderen Herstellungsprozesse anbietet. In dieser Verkehrung führt das Agencement einen Vielfrontenkrieg: Es wendet sich gegen den Versuch, die Paradoxie als Motor zur Systemkonstruktion zu verwenden,[29] sowie dagegen, aus der Paradoxie des Kalküls, ist sie einmal erkannt, die Konsequenz der Askese zu ziehen; gegen den Versuch also, sich der Figur der Beherrschung zu enthalten und dabei unablässig auf tragische Weise schuldig zu werden.[30]

Vor allem aber erklärt das Agencement jenen den Krieg, die das Kalkül mit dem Zufall durch ein Verstecken seiner paradoxalen Struktur als sanften Naturprozeß erscheinen lassen. Eine Spur dieses dritten Feldzugs findet sich unter anderem in Kleists Text »Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten«, erschienen in der achten Nummer des zweiten Quartals vom 10. 1. 1811,[31] aus dessen drittem Teil ich ein wenig ausführlicher zitieren möchte:

Die dritte Geschichte,‹ fuhr der Officier fort, ›trug sich zu, im Freiheitskriege der Niederländer, bei der Belagerung von Antwerpen durch den Herzog von Parma. Der Herzog hatte die Schelde, vermittelst einer Schiffsbrücke, gesperrt, und die Antwerpner arbeiteten ihrerseits, unter Anleitung eines geschickten Italieners, daran, dieselbe durch Brander, die sie gegen die Brücke losließen, in die Luft zu sprengen. In dem Augenblick, meine Herren, da die Fahrzeuge die Schelde herab, gegen die Brücke, anschwimmen, steht, das merken Sie wohl, ein Fahnenjunker, auf dem linken Ufer der Schelde, dicht neben dem Herzog von Parma; jetzt, verstehen Sie, jetzt geschieht die Explosion: und der Junker, Haut und Haar, sammt Fahne und Gepäck, und ohne daß ihm das Mindeste auf dieser Reise zugestoßen, steht auf dem rechten. Und die Schelde ist hier, wie Sie wissen werden, einen kleinen Kanonenschuß breit.‹[32]

In dieser Anekdote geht es zunächst um eine Brücke, die eigentlich keine Brücke ist, sondern aus Schiffen besteht, die aneinander befestigt sind. In der Ferne assoziiert man dabei vielleicht eine andere Brücke, die ebenfalls eigentlich keine Brücke ist, sondern eine Schlange, und die doch eine Verbindung herstellt zwischen Lebens– und Traumwelt.[33] Die Brücke in Kleists Anekdote vom Krieg schafft keine Verbindung, sie ist Teil eines Belagerungszustands, genauer gesagt: eine Sperre, gegen die man andere, mit Sprengstoff beladene Schiffe (Brandern) treiben läßt, um sie zu zerstören. Der Sprengstoff explodiert im Moment des Auftreffens auf dem Hindernis – Schiffe zerstören also in der Selbstzerstörung eine Brücke, die aus Schiffen besteht und im Grunde keine Brücke ist. Und in der Explosion geschieht das, was gegen alle Wahrscheinlichkeit ist – ein Erreichen der anderen Seite gelingt gerade in der kalkulierten Zerstörung der Brücke; eine absurde Eroberung, denn es ist, »das merken Sie wohl«, der Fahnenjunker des Herzogs von Parma, der diesen Salto Mortale vollführt, ohne Schaden zu nehmen. Verbindung ist Sperre und Zerstörung; Explosion entzündet die Zufälligkeit, die etwas zufallen läßt, ein neues, unbesetztes Gebiet; der Fahnenjunker, der hochgeschleudert wird und fällt – dies sind die katastrophischen Strategien des Agencements im Krieg gegen die Kunst, auch die Kriegskunst, als Beherrschung dessen, was zufällt. Goethe äußert sich zu diesem Thema:

Der Dichter betritt das Traumreich dann, wenn sich die Menge der Krieger in eine Brücke verwandelt hat. Ein allzu maßloses Begehren verschließt dies Reich des Traumes.[34]

Und auch aus dieser Anleitung Goethes zum Betreten des Traumreichs läßt sich wieder die dichterische Beherrschung des Kalküls des Zufalls herauslesen: Der Dichter entfesselt das Gewirr eines Kampfes entlang einer Ökonomie, in der er jenen Teil seines Wissens zurückhält, der ihm versichert, daß in einer bestimmten Konstellation die kriegerische Begegnung der Gegensätze in das Bild der Brücke umschlagen kann und wird. Das Betreten des Traumreichs ist unmöglich. Dem Dichter aber ist es notwendig, Unmögliches zu begehren, jedoch nur so sehr, daß er die Ökonomie des Kalküls, also jenes Spiel, in dem Zufall und Notwendigkeit kurzgeschlossen werden können, noch beherrscht.

Kleist indessen macht in den »Unwahrscheinlichen Wahrhaftigkeiten« eine Begebenheit zum Gegenstand seiner literarischen Produktion für die »Berliner Abendblätter«, die er im gleichen Text als ungeeignet für die Dichtung markiert, und zwar gerade im Rekurs auf die Programmatik der »Klassiker«:

Herr Hauptmann! riefen die Andern lachend: Herr Hauptmann! – Sie wollten wenigstens die Quelle dieser abendtheuerlichen Geschichte, die er für wahr ausgab, wissen. Lassen Sie ihn, sprach ein Mitglied der Gesellschaft; die Geschichte steht in dem Anhang zu Schillers Geschichte vom Abfall der vereinigten Niederlande; und der Verf. bemerkt ausdrücklich, daß ein Dichter von diesem Factum keinen Gebrauch machen könne, der Geschichtschreiber aber, wegen der Unverwerflichkeit der Quellen und der Übereinstimmung der Zeugnisse, genöthigt sei, dasselbe aufzunehmen.[35]

Der Erzähler der Anekdote, der Offizier, verschweigt seine Quelle. Die Äußerung »Lassen Sie ihn« scheint darüber hinaus anzudeuten, daß Schiller mit seinem Kommentar zu der Anekdote,[36] den Kleist fingiert hat, für den Erzähler eine persona non grata ist. So sprengt Kleist mit dem Agencement der »Berliner Abendblätter« vielleicht auch jene Brücke, die ihn mit der »deutschen Dichtung« und ihren diskursiven Gepflogenheiten verband, indem er Brander gegen jene Brücke treiben läßt, die die Verbindung zum ästhetischen Traumreich sichert und die damit auch Ausdruck der vermeintlichen Sicherheit und Beherrschbarkeit des Kalküls vor seiner entgrenzenden Affirmation ist.

Die Affirmation des Zufalls, die keine Verweigerung gegenüber der Figur der Beherrschung impliziert, sondern weitergehend nicht mehr nur das Zufällige notwendig, sondern auch das Notwendige zufällig erscheinen läßt, wird nicht nur in der demonstrativen Verwendung dieser Begebenheit an der Schelde in einem literarischen Text markiert: die »Berliner Abendblätter« sind voll von Berichten über Zufälle und sonderbare Begebenheiten, ihre Aktualität ist häufig weniger eine Aktualität der Relevanz als eine »Aktualität« der Merkwürdigkeit.

Diese »Aktualität« mag jene der Bombenpost sein; der Bomben, mit denen die Brücke in das Reich des Traumes beschossen wird – um dasselbe vor seinen allzu aufdringlichen Belagerern zu schützen. In diesem ständigen Beschuß gibt es aber auch jenen Moment, in dem tatsächlich etwas zufällt, in dem anstelle des Dichters plötzlich der Fahnenjunker sich staunend am entgegengesetzten Ufer wiederfindet. Auch beim Lesen der »Abendblätter« gibt es jene Momente, in denen die Intertextualitäten innerhalb der Zeitung eine Konstellation erzeugen, die denen der Erzählungen und Dramen Kleists so ähnlich ist, daß der Leserin etwas zufällt, was nicht nur zufällig zu sein scheint. Dennoch bleibt es unentscheidbar, ob hier tatsächlich der Text der »Abendblätter« beherrscht wird, ob ein Kalkül funktioniert, ob hier eine Bombenpost ihr Ziel erreicht.

Unentscheidbar auch deshalb, weil die Fronten des Krieges des Agencements auch durch die »Abendblätter« selbst mitten hindurchgehen, so daß konsequenterweise ebenfalls unentscheidbar wird, was eigentlich zum Agencement gehört und was nicht. Dies zeigt sich nicht nur in dem bekannten Streit zwischen Arnim, Brentano und Kleist um die Redaktion des Textes »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft«,[37] auch wenn hier vielleicht am deutlichsten wird, um welche Verschiebung es einem Kleistschen Agencement geht, wenn diesem Text die Augenlider weggeschnitten werden und so Gewalt und Kontrollverlust an die Stelle einer Ästhetik des Erhabenen treten. Nein, die Disparatheit zeigt sich vor allem im Detail[38] und macht damit jedem Versuch, das Agencement wenigstens von heute aus in seiner Rekonstruktion zu beherrschen, einen Strich durch die Rechnung.

Wisse, stets wird recht dein Handeln sein in dem *Leben,* Wuchert des Handelns Kern nicht in *dein* Leben hinein.[39]

So heißt es im 62. Blatt,[40] und selbst in dieser holprigen Ermahnung erinnert noch das Wort »wisse« an seine paradoxe Verwendung in dem Text »Von der Überlegung«. Am Ende bleibt der Leserin und der Analyse hier vielleicht nur noch das Erlebnis einer verzweifelten Komik angesichts der biederen Unschuld dieser präzisen Selbstdiagnose inmitten der Wucherungen des Agencements.