Norbert Oellers

Antik – modern? Kleists Aufsatz »Über das Marionettentheater«

Der Titel des Vortrags mag die Erwartung erwecken, er wolle zeigen, daß Kleist sich in die Querelle des Anciens et des Modernes eingemischt und diesen Streit geschlichtet habe durch den Nachweis, er sei im Grunde gegenstandslos, weil es die Kluft zwischen dem Antiken und dem Modernen auf dem Feld der Kunsttheorie und Kunstpraxis nur scheinbar gebe. Die Erwartung soll von vornherein gedämpft werden: Es wird kaum etwas Neues über Kleists Aufsatz gesagt werden, schon gar nicht die These vertreten, der Autor habe die Querelle durch einen salomonischen Schiedsspruch beendet, der lautet, Alt und Neu seien eins. Der Blick geht in eine andere Richtung: Kleist ignoriert den Streit als einen um des Kaisers Bart; er war ihm nicht besonders wichtig, auch nicht in der in Deutschland praktizierten Diskussion, die am Ausgang des Jahrhunderts in Schillers »Über naive und sentimentalische Dichtung« und Friedrich Schlegels »Über das Studium der griechischen Poesie« einen (wahrscheinlich den) Höhepunkt erlebt hatte. Und schon gar nicht wollte er sich in die über ein Jahrhundert zurückliegenden Händel zwischen Charles Perrault und Nicolas Boileau einmischen; sie mußten ihm – ob er sie nun kannte oder nicht – so fremd sein, wie ihm Goethes 1818 erschienene Ansichten über »Antik und modern« interessant gewesen wären, wenn er sie noch hätte zur Kenntnis nehmen können: »Jeder sei auf seine Art ein Grieche! Aber er sei’s.«[1] Goethes gelegentliche Neigung zum Paradox, zur Verbindung des sich Ausschließenden, wie sie sich auch in seiner poetischen Existenz zeigte, in der sich naiv Sentimentalisches mit sentimentalisch Naivem mühelos zusammenfügte – diese Neigung war für Kleist (wie ein Jahrhundert später für Kafka) nicht nur in Hinsicht auf seine ›Lebensführung‹ charakteristisch, sondern sie war, wie oft genug gezeigt worden ist, geradezu konstitutiv für seine literarische Produktion.

Also nein: Mit der Querelle hat Kleists »Über das Marionettentheater« nichts zu tun. Aber doch: Weil es sich so verhält, ist es auch anders. Das Ausgegrenzte bildet die Grenze, die das Eingegrenzte bestimmt. Die Binsenwahrheit ist, da sie formal logisch nicht zu bestreiten ist, wenig brauchbar, wenn intendiert wird, Oppositionen als koinzident zu behaupten – was die Aufhebung von Grenzen nötig macht; einfacher ist’s, innerhalb eines Themenbereichs (der im vorliegenden Fall als die Frage nach der vollkommenen Kunst anzusehen ist) gar nicht erst Grenzen zu ziehen (hier, formal, zwischen Querelle und Nicht–Querelle und, inhaltlich, zwischen antik und modern). Dann sind von vornherein A und B (antik und modern), aber auch A und –A (antik und unantik), B und –B (modern und unmodern) wenigstens benachbart. Und wenn dann A mit –A und B mit –B zusammenfallen – wogegen sich der Verstand wehren mag –, dann kann die Gleichung A=B nicht nur nicht überraschen, sondern läßt auch den Verstand unaufgeregt. Auf Kleists Gespräch über das Marionettentheater bezogen heißt das: Die hier zusammengetragenen Paradoxa dienen dazu, die Gleichsetzung des anscheinend Ungleichen (antik und modern; nicht anders: Geschichtsphilosophie, unter Einschluß der Theologie, und Ästhetik) für den Leser leichter annehmbar zu machen. Darüber sollen ein paar Sätze gesagt werden.

Die gelehrte Literatur über Kleists Marionettentheater–Gespräch, das im kleinformatigen »Berliner Abendblätter«–Druck elf Seiten umfaßt,[2] ist beträchtlich; allein die in den beiden letzten Jahrzehnten erschienenen Veröffentlichungen zum Thema sind kaum noch zu übersehen. Daher sei gar nicht der Versuch gemacht, auf einzelne Ergebnisse zustimmend oder aus kritischer Distanz einzugehen, auch wenn die folgenden Überlegungen nicht ganz ohne ihre Kenntnis hätten angestellt werden können. Nur auf zwei Arbeiten, die auch nach über 15 Jahren ihre anregende Wirkung für mich behalten haben, will ich hinweisen, weil sie mir schon bei ihrem Erscheinen Anlaß waren, das ganz und gar Problematische und nicht eindeutig zu Verstehende des Kleist–Textes als sowohl beruhigend wie beunruhigend zur Kenntnis zu nehmen: Beda Allemanns Vortrag »Sinn und Unsinn von Kleists Gespräch ›Über das Marionettentheater‹« und Gerhard Kurz’ Aufsatz »›Gott befohlen‹. Kleists Dialog ›Über das Marionettentheater‹ und der Mythos vom Sündenfall des Bewußtseins«, beides Beiträge zur Kleist–Tagung 1981.[3] Beruhigend waren mir die Arbeiten, weil sie zu Versuchen, neue Lesarten zu finden, ermunterten; beunruhigend, weil nicht fraglich sein konnte, daß der Ertrag solcher Versuche, bildlich gesprochen, nicht auf einer Geraden, sondern auf einer Kreisbahn abzulegen wäre und weil es wohl ein Irrtum ist anzunehmen, im Zentrum des Kreises befinde sich der Untersuchungsgegenstand.

»Gespräch« sagt Allemann, »Dialog« (aber auch »Gespräch«) sagt Kurz; andere sagen »Essay« oder »Prosadichtung« oder »Erzählung« oder »Aufsatz« oder »Feuilleton« (»geistreiches Feuilleton« präzisierte Walter Silz in seinem Kleist–Buch von 1961[4]) oder »Diskurs« oder »Abhandlung« oder »Plauderei«. Da die Begründung für die Wahl der Textsortenbestimmung ›Gespräch‹ den geringsten Aufwand erfordert (es handelt sich nun einmal um eine Wechselrede zwischen dem Ich–Berichterstatter und Herrn C., einem Tänzer), sei weiterhin vom Gespräch »Über das Marionettentheater« gesprochen; dahinter verbirgt sich keine Theorie, und an eine Interpretation ist auch nicht gedacht. Allenfalls läßt sich sagen, daß sich der Autor (hier also Kleist) leichter aus einem Gespräch heraushalten kann als aus einem von ihm geschriebenen Aufsatz oder einem Essay oder einem Feuilleton. Dadurch hat auch der Leser eine beträchtliche Freiheit gegenüber den Gesprächspartnern; seine Verwunderung über das Hin– und Hergesagte sollte zu seiner Beteiligung an dem Gespräch, sollte zu Einsprüchen und Nachfragen führen.

Herr C. studiert die Bewegungen der Marionette, um etwas zu lernen. Er nennt die Bewegungen »gratiös« und meint mit diesem – in Kleists Erzählungen und kleinen Schriften nur hier gebrauchten – Wort nichts anderes als ›anmutig‹. So ist auch ›Grazie‹ – dieses Wort verwendet Kleist ebenfalls nur in diesem Text, und zwar gleich viermal – als Synonym von ›Anmut‹ zu lesen. Die Eigenschaft, so scheint es, ist dem Tänzer, der sich schnell als hochreflektiert, aber in seiner Argumentation keineswegs als überzeugend erweist, nicht gegeben, weil, wie aus seinen späteren Ausführungen hervorgeht, das Bewußtsein der Grazie Feind ist. Aber immerhin läßt sich die Grazie darstellen – in einem ›hübschen‹ Bild von Tenier[s] etwa oder in der vollendeten Handhabung eines gänzlich mechanisierten Marionettenspiels, von dem C. noch sprechen wird. Der Gedanke, daß die Kunst in der angemessenen Darstellung des von keinem Bewußtsein getrübten natürlich Anmutigen liege, wird nur angedeutet, aber nicht weiter verfolgt; denn eine Theorie des Schönen will und kann das Gespräch ja nicht sein. Statt dessen wird umständlich beschrieben, wie die graziöse Bewegung der Marionette möglich wird: durch das ›Regieren‹ des Schwerpunkts im Innern der Figur. Die Beschreibung, die der Tänzer liefert, verselbständigt sich; sie macht nicht deutlich, daß durch die Handhabung des Maschinisten Grazie erzeugt wird; sie ›belegt‹ nicht, daß die Grazie (wo und wie auch immer sie erscheinen mag) Ausdruck von Kunst ist; sie befördert auch nicht die Überzeugung, daß die Tätigkeit des Maschinisten irgend etwas mit Kunst zu tun hat. Doch ist unzweifelhaft, daß alles etwas mit Kunst (mit der des Tänzers zunächst) zu tun haben soll. Die beabsichtigten Unklarheiten rühren von der jedem Leser, aber offenbar nicht dem Gesprächspartner von C. befremdlichen Bestimmung von ›Grazie‹ (oder ›Anmut‹) her: daß sie nämlich in Nichtlebendigem, in einer Puppe, am deutlichsten in Erscheinung trete.

Daß eine Puppe anmutig sein könne, steht Schillers Bestimmung von Anmut, wie er sie in seiner Abhandlung »Über Anmuth und Würde« formuliert hat, kraß entgegen. »Anmuth ist die Schönheit der Gestalt unter dem Einfluß der Freyheit; die Schönheit derjenigen Erscheinungen, die die Person bestimmt«, heißt es da,[5] und so zieht es sich durch die ganze Abhandlung: keine Anmut ohne aktive Beteiligung des freien Willens. Daß ein nicht ganz freier Wille der Schönheit der Gestalt Abbruch tun und damit zu ›falscher Anmut‹ führen müsse, verdeutlicht Schiller am Ende seiner Abhandlung ausgerechnet am Beispiel des Tänzers, der aus zwei Gründen die ›wahre Anmut‹ verfehlen könne: »Wenn der *unbehülfliche* Tänzer bey einer Menuet soviel Kraft aufwendet, als ob er ein Mühlrad zu ziehen hätte, und mit Händen und Füßen so scharfe Ecken schneidet, als wenn es hier um geometrische Genauigkeit zu thun wäre, so wird der *affektirte* Tänzer so schwach auftreten, als ob er den Fußboden fürchtete, und mit Händen und Füßen nichts als Schlangenlinien beschreiben, wenn er auch darüber nicht von der Stelle kommen sollte.«[6] – In seinem 1795, zwei Jahre nach der Abfassung von »Über Anmuth und Würde« entstandenen Gedicht »Der Tanz« hat Schiller den vollendeten Tanz und damit den (und die) anmutigen Tänzer ins rechte Licht gesetzt; dieses ist freilich nicht von dieser Welt, wie gleich die ersten Verse unmißverständlich zu erkennen geben:

»Sieh, wie sie durcheinander in kühnen Schlangen sich winden, / Wie mit geflügeltem Schritt schweben auf schlüpfrigem Plan. / Seh’ ich flüchtige Schatten von ihren Leibern geschieden? / Ist es Elysiums Hain, der den Erstaunten umfängt? / Wie, vom Zephyr gewiegt, der leichte Rauch durch die Luft schwimmt, / Wie sich leise der Kahn schaukelt auf silberner Flut, / Hüpft der gelehrige Fuß auf des Takts melodischen Wellen, / Säuselndes Saitengetön hebt den ätherischen Leib.«[7] Da konnte Herr C., Kleists Tänzer, nicht mithalten. Ein anderer?

Die Bewegung der Marionette sei »gratiös«, sagt C.; und später wird er noch deutlicher, als er seinem Gesprächspartner versichert, »daß in einem mechanischen Gliedermann mehr Anmuth enthalten [sei], als in dem Bau des menschlichen Körpers«. »Nur ein Gott könne sich, auf diesem Felde, mit der Materie messen.«[8] Die Anmut der Materie – das klingt geradezu wie ein Sakrileg gegenüber den ästhetischen Überzeugungen der Weimarer Klassiker; diese versicherten aber ja nichts anderes, als daß die Bedingungen der Möglichkeit des Vollkommenen nur in einem fernen Elysium gegeben seien; denn der reine freie Wille könne nicht des Menschen Teil sein. Der niederschmetternden Konsequenz der Schillerschen Bestimmung setzt der Tänzer C. die Ansicht entgegen, es gebe auch im Diesseits das Pendant göttlicher Anmut – im bewußlosen Sein. C. sagt es zunächst ›probehalber‹, um ein Gespräch in Gang zu bringen, an dem sich allein der nicht sonderlich kompetente Berichterstatter beteiligt. Dieser hat keine wichtigere Funktion, als den Tänzer im Prozeß seiner Reflexionen weiterzuführen.

Will der Tänzer wirklich, wie es den Anschein hat, von der an Drähten geführten Puppe lernen? Und was? Daß die Linie, die der Schwerpunkt der Marionette beschreibt, der »*Weg der Seele des Tänzers*«[9] ist, wie er behauptet? Will er also nur den Weg seiner Seele wiederfinden? Der Verdacht drängt sich zunächst auf, der Tänzer wolle nur den Vorwurf abwehren, er vergnüge sich an den Marktplatzdarbietungen nicht anders als der in diesem Zusammenhang erwähnte »Pöbel«.[10] Dabei ist wieder Schiller präsent: »Sobald wir merken, daß die *Anmuth* erkünstelt ist, so schließt sich plötzlich unser Herz, und zurücke flieht die ihr entgegenwallende Seele.«[11] Der Tänzer ignoriert das Wissen seines Autors und derer, auf die dieser sich bezieht: daß alle Anmut, von Menschen gewollt, immer nur erkünstelt ist. Das unabweisbare Verlangen, sie zu sehen, an ihr zu partizipieren, führt also an den Menschen vorbei, und so entsteht die abstrus anmutende, wie aus der Not geborene Vorstellung, die Anmut ließe sich im Außermenschlichen finden; da Gott sich nicht zeigt, wird der Gliedermann erfunden, der sich nach Gesetzen der Mechanik und Mathematik bewegen läßt. In Kenntnis dieser Gesetze wird er konstruiert; die weitere Anwendung der Gesetze führt dazu, daß es scheint, er sei anmutig; mit dem bloßen Schein der Anmut soll es nicht genug sein. Reflektiert der Tänzer auch auf Goethes »Propyläen«–Gespräch »Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke«,[12] in dem der Anwalt der Kunst bestimmt, diese dürfe sich nicht anmaßen, wahr scheinen zu wollen, sondern müsse besorgt sein, einen Schein von Wahrheit als das sie Auszeichnende erkennen zu lassen? Mit dieser sich bescheidenden Beschränkung (die nichts weniger als anspruchsvoll ist) mag sich C. offenbar nicht abfinden.

Was der Tänzer über die Marionette sagt, mutet den Zuhörer, den Ich–Berichterstatter, sonderbar, ja paradox an. Er, der Kunst–Laie, möchte von einem Künstler wissen, was das Eigentümliche von Kunst sei, und wird nicht klug aus dem, was er hört. Da ist die Rede von »Ebenmaaß, Beweglichkeit, Leichtigkeit«, die als Forderungen an die »Kunstfertigkeit« zu richten seien; vor allem aber sei zu fordern »eine naturgemäßere Anordnung der Schwerpuncte«.[13] Was unter »naturgemäß« zu verstehen ist, bleibt im dunkeln, es sei denn, von der Natur der Marionette, des kunstgewerblichen Fabrikats, sei die Rede; doch diese ist ja nur abgeleitet, nie ursprünglich; und das Menschliche kann nicht ›natürlich‹ sein, weil es nun einmal auf Grund des Sündenfalls durch Scham und – in deren Gefolge – durch ›Ziererei‹ der Natur für alle Zeiten entfremdet ist.

Die Hilflosigkeit des Tänzers bei dem Bemühen, die antigrav sich bewegende Marionette als Muster praktizierter Kunst vorzustellen, ist die überzeugende Demonstration eines Unwissens, aus der sich der mit Bewußtsein ausgestattete Mensch – gleichgültig, ob Künstler oder nicht, gleichgültig, ob Tänzer C. oder Dichter Kleist – in Fragen der Kunst nie hat befreien können. Kleist benutzt C., um nicht nur die Möglichkeit zu schaffen, den Tänzer zu kritisieren und über ihn hinauszudenken, sondern auch, um über seine, Kleists, nicht explizit geäußerten Ansichten hinweg eine Meinung zu Problemen der Ästhetik zu gewinnen; als Grundlage bleibt allerdings das Unwissen, dem die Unfähigkeit korrespondiert, Kunst, wie sie nur gedacht (und immer nur falsch gedacht) werden kann, zu produzieren. Auf dieser Ebene wenigstens möchte sich Kleist mit dem Leser verständigen.

Der mit der Kunst beschäftigte, aber mit ihr nicht zu Rande kommende Protagonist wird zum Geschichtsphilosophen promoviert. Aus der Wirrnis seiner ästhetischen Anschauungen kommt er zur Sache: Die historischen Voraussetzungen werden benannt, um das Durcheinander der Kunstanschauungen plausibel zu machen. C. erwähnt beiläufig, warum den Künstlern notwendig Fehler unterlaufen: die seien »unvermeidlich, seitdem wir von dem Baum der Erkenntniß gegessen haben«. Und er fügt, nun anscheinend wissend, hinzu, das Paradies sei verschlossen, vom Cherub bewacht; also müsse der Versuch unternommen werden, »die Reise um die Welt [zu] machen, und [zu] sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwie wieder offen ist.«[14] Mit einer solchen Reise um die Welt war freilich nicht gemeint, was James Cook sowie Vater und Sohn Forster wenige Jahre vor Kleists Überlegungen erlebt hatten und was mit Georg Forsters »Reise um die Welt« (1778–80) an die Öffentlichkeit gekommen war, auch wenn Kleists Formulierung auf die Kenntnis dieses Werks hindeutet.

Was der Zuhörer vom Tänzer hört, bringt ihn zum Lachen, und dies ist nicht zu verwundern; denn C. scheint vom Thema abzulenken. Also wird noch ein wenig über den Gliedermann diskurriert, bevor C., eine Prise Tabak nehmend, zum Erkenntnisbaum zurückkehrt; denn mit ihm glaubt er, die Wirrnis, die Paradoxien, die Unlösbarkeit der Kunstprobleme bündig erklären zu können. Und nun wird er anscheinend zum Compagnon des Autors, vielleicht sogar dessen Sprachrohr. Das Paradies hat einen vorderen Ausgang, der nach dem Sündenfall für die Vertreibung der Stammeltern geöffnet und durch einen Cherub gesichert wurde (als könne die Geschichte rückwärts laufen und den Menschen wieder dorthin bringen; aber man weiß ja nie, was möglich ist und was nicht), und es hat einen Hintereingang, den die Menschen möglicherweise wieder betreten können, wenn sie die Geschichte durchlaufen haben. Die Geschichte, das ist die »ringförmige Welt«[15], deren genaues Ausmaß unbekannt ist, aber variabel erscheint, wie der Schluß des Gesprächs anzunehmen nahelegt, auch wenn die entgegengesetzte Annahme genauso berechtigt ist: daß die Welt unendlich sei.

Folgendes ist zu konstatieren: Herr C. erklärt die Unmöglichkeit vollkommener von Menschen geschaffener Kunst mit dem Sündenfall, der als Strafe die Erweckung des Bewußtseins nach sich gezogen habe, das als Gegenspieler der Natur, die allein schön sei oder auch: Schönheit hervorbringen könne, »Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen,«[16] anrichte, wie der Gesprächspartner C.s zu bemerken sich beeilt; denn ihm ist etwas Bemerkenswertes in Erinnerung gekommen. Unordnungen richtet das Bewußtsein natürlich nicht nur in der Kunst an, sondern in allen Lebensbereichen. Das findet seinen eindeutigen Ausdruck in den Paradoxa des Denkens, Sprechens und Handelns. Darüber hat das Gespräch über das Marionettentheater, das ziemlich plötzlich abbricht, den Leser belehrt.

Dieses Gespräch, das Beschreibungen von Befunden und Ansichten darüber bunt mischt, erhält seine Bedeutung dadurch, daß es Wichtigeres ins Auge faßt und irgendwann die Marionette als Metapher für geglückte Kunst interpretierbar macht.

Daß der mit Schiller förmlich vollgestopfte, ihm meistens zu–, aber auch oft abgewandte Kleist in seinem Marionettentheater–Gespräch gegen Grundpositionen von »Über Anmuth und Würde« polemisiert, wurde bereits angedeutet.[17] Im Zusammenhang dieses Vortrags ist es freilich naheliegender, auf Kleists Protest gegen Schillers »Über naive und sentimentalische Dichtung« aufmerksam zu machen. Es gibt meines Wissens keine Kritik, die, obwohl nur beiläufig, prägnanter die fundamentale Schwäche der Schillerschen Abhandlung benennt. Das dort vorgetragene triadische Welterklärungsmodell: Arkadien (die Welt der ›Alten‹) – Geschichte ›danach‹ (d.h. die der ›christlichen‹ Welt) – Elysium (die erwartete Welt der aufgelösten Widersprüche, in der Idyllen gedichtet werden können) ist allein aus poetologischen Gründen (gleichsam als heuristisches Modell) konstruiert worden, um das letzte Wort in der Querelle des Anciens et des Modernes sprechen zu können. Und es sollte nicht bestritten werden, daß Schiller seine Aufgabe gelöst hat – für sich, als Ästhetiker. (Fern waren ihm hier Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie.) Kleist aber macht da nicht mit, weil das Modell nur etwas taugt, wenn das vollkommen Schöne tatsächlich einmal geschaffen und überliefert werden konnte. Doch wie wäre das zu verstehen? Hatten Homer und Sophokles (von nichteuropäischen Dichtern zu schweigen) kein Bewußtsein, das Unordnung, »in der natürlichen Grazie des Menschen«, anrichtete? Waren sie nicht Menschen ›nach dem Sündenfall‹ wie Milton und Klopstock, Diderot und Schiller? Es gibt für die von Kleist mit der Diskussion über diese Frage beauftragten gedachten Gesprächspartner, also auch für die Leser, in der Regel ja nur zwei ›Welten‹ (wie ja ›eigentlich‹ auch für Schiller, wie, vor allem, für Kant, wie für die Mehrzahl der auf der einen Welt, in der einen Geschichte Lebenden): Diesseits und Jenseits. Das aber bedeutet: Die Alten gehören der Geschichte der Menschheit ebenso an wie die Späteren und Neuesten; sie sind Repräsentanten einer eigenen Epoche, wie jedermann Repräsentant einer Epoche ist. Ihre künstlerischen Hervorbringungen tragen die Spuren ihres Bewußtseins, ihrer der Kunst widerstreitenden Menschlichkeit. Sie sind nicht Natur, wie Schiller zu wissen vorgab, sondern sie suchen sie wie jeder Künstler zu jeder Zeit. Sie sind – in der Terminologie des ›Klassikers‹ – sentimentalisch.

Die Differenz zwischen antik und modern kann keine fundamentalästhetische, sondern nur eine historische (also eine politische oder soziale) sein. Das ist ganz pragmatisch gedacht. Selbst Herr C., dessen Reflexionsvermögen nicht ausreicht, die von ihm behandelten Probleme zu lösen, weiß, was nicht zu widerlegen ist. Am Ende schwingt er sich zu einem Fazit auf, das weder für eine tiefe Einsicht noch für die Beliebigkeit seines Denkens spricht: daß »die Erkenntniß gleichsam durch ein Unendliches« gegangen sein müsse, damit sich »die Grazie wieder ein[finde]«.[18] »Unendliches« kann hier, da der Sentenz (und dem sich anschließenden Gedanken des Gesprächspartners) das Moment freudiger Erwartung anhängt, nicht nur verstanden werden als das Nie–zu–Ende–Kommende, sondern auch als das Die–Geschichte–Abschließende; es meint dann die Ankunft an der Hintertür des Paradieses. Sollte es dazu kommen, wird es eine neue Art der Erkenntnis geben, nämlich der vom Übertritt des mit Bewußtsein geschlagenen Menschen in den Gott. (Wie sich Schiller das ja auch vorgestellt hat, als er den Idyllenplan »Herkules im Himmel« entwarf.)

Die Erkenntnis, die am Ende der Geschichte steht (und offenbar als menschenmöglich angesehen wird), korrespondiert der am Anfang der Geschichte stehenden: Beide stammen vom selben Baum. Similia similibus curantur, so lautet die Grundregel der homöopathischen Arzneikunde. Ganz logisch ist das zweimalige Vom–Baum–der–Erkenntnis–Essen natürlich nicht; denn der Baum steht im selben Paradies, in das der Mensch zurückwill (durch die Hintertür) und in das er wieder gelangen kann, wenn er von dem Baum ein zweites Mal gegesssen hat. Aber auch dieses ›Versehen‹ fügt sich in die A=–A–Struktur (oder –Textur) des Marionettentheater–Gesprächs bruchlos ein; es geht nicht auf Kosten dessen, der so spricht, denn seine Ansichten sind – wenigstens hier – die seines Autors.

So wäre also noch etwas über die Geschichten des ›Splitter‹– (nicht ›Dorn‹–)Ausziehers und des Bären zu sagen, damit nichts inhaltlich Wichtiges unerwähnt bleibt. Es handelt sich in beiden Fällen um Illustrationen der angedeuteten Grundthesen, die im Gespräch vertreten werden. Es handelt sich in beiden Fällen um Beispiele verwirrenden Bewußtseins: Weder die Geschichte des jungen Mannes, die der Berichterstatter erzählt, noch diejenige, die der Tänzer vom überlegenen Bären zum Besten gibt, sind so unmißverständlich, daß der Leser auf einer verläßlichen Grundlage für ihre Beurteilung bauen könnte.

Daß der junge Mann, indem er, seiner selbst bewußt, seiner natürlichen Anmut ansichtig wird und dadurch seine Unschuld verliert und nicht mehr die Freiheit des Spiels besitzt, sich zu zeigen, wie er einmal war, ist als Analogon zum Sündenfall–Mythos leicht einzusehen, auch wenn es verwundern mag, daß der Jüngling seine Unschuld bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr bewahrt hat und erst dann von der störenden Erkenntnis um die Möglichkeit der Demonstration seiner Schönheit gebracht wird. Der schöne Jüngling ist kein Künstler; er ist schönes Subjekt, das er aufhört zu sein, wenn er durch das Bewußtsein zum schönen Objekt gemacht werden soll, und zwar durch sich selbst. Die Prozedur künstlicher Nachahmung muß mißlingen. Ein kleiner Haken der Geschichte liegt in der Annahme, der junge Mann sei von »wunderbare[r] Anmuth«[19]; war doch zuvor gesagt worden (allerdings von C.), »daß es dem Menschen schlechthin unmöglich wäre, den Gliedermann darin [in seiner Anmut] auch nur zu erreichen.«[20] Ein größerer Haken besteht in der wie selbstverständlich vorgetragenen Ansicht, daß der »Splitterauszieher« (die als ›Dornauszieher‹ bekannte griechische Bronze–Statuette aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert, die Napoleon 1797 als Kriegsbeute aus dem Konservatorenpalast in Rom nach Paris hatte bringen lassen, wo sie bis 1815 im Louvre zu sehen war) ein vollkommen schönes Kunstwerk sei – nach dem Sündenfall. War nicht entschieden, daß in der Geschichte der Welt nur Naturphänomene schön sein können? Nun ist zu sagen, daß der Berichterstatter kein Kunstsachverständiger ist (wenigstens steht er der Kunst ferner als der Tänzer) und daß es ihm nicht um ästhetische, sondern um moralische Probleme geht: wie der Mensch auch außerhalb des Paradieses verführbar ist, seine Unschuld verliert durch seinesgleichen. »[...] ich lachte und erwiederte – er sähe wohl Geister!«[21] Mit dem Marionettenwesen hat die Erzählung vom jungen Mann, der um seine Unschuld gebracht wird, jedenfalls nicht mehr viel zu tun.

Auf den Anfang des Gesprächs führt am Ende Herr C. mit seiner Bärengeschichte zurück. Der Bär ist dank seiner Naturhaftigkeit und Unverführbarkeit im Fechtkampf nicht zu besiegen; er ist »wie der erste Fechter der Welt«[22] seinem planenden Gegner himmelweit überlegen. Der kleine Haken: daß der erdachte Kasus mit den Erfahrungen aus der Geschichte nicht übereinstimmt. Der größere Haken: daß die Abwesenheit von Reflexion nicht allein die Bedingung der Möglichkeit von Grazie (Anmut, Schönheit) ist, sondern mit dieser in einem Kausalitätsverhältnis zu stehen scheint, etwa dann (wie hier), wenn das bewußtseinsfreie Wesen (ob Bär, Elefant oder Esel) gezwungen wird, sich zu behaupten durch natürliche (und deshalb schöne) Bewegungen.

Summa summarum: Es bleibt als Grundprinzip von Schönheit – im Himmel wie auf Erden – das der Natur (Natürlichkeit), die durch keine Kunst (Künstlichkeit) zu ersetzen ist. Und es bleibt der dem Menschen eigene Zwang, durch Kunstproduktionen die Natur zu suchen; aber diese war und ist nicht zu erreichen, von den Alten so wenig wie von den Neueren. Mit dem »letzte[n] Capitel von der Geschichte der Welt«[23] wird sie ihr Ende finden, gleichgültig, ob die Tür zum Paradies geöffnet oder verschlossen ist. Spätestens dann wird offenbar, was Kleist wußte: daß die Querelle ein Streit um des Kaisers Bart war, der von Schiller falsch entschieden wurde, weil er ihn ernst nahm.