Heinz Dieter Kittsteiner

Der Streit um Christian Jacob Kraus in den »Berliner Abendblättern«

Die Geschichte der »Berliner Abendblätter«, dieser »ideale[n] Wurstzeitung«, wie Wilhelm Grimm sich auszudrücken beliebte,[1] ist nach allen Richtungen hin – sozusagen quadratzentimeterweise – erforscht. Neues kann nicht erwartet werden, zumal dann nicht, wenn kein Kleist–Experte das Wort ergreift. Dennoch kann von jemandem, der sich vor vielen Jahren einmal mit Christian Jacob Kraus befaßt hat und der an den Fragen der Adam–Smith–Rezeption in Deutschland nach wie vor interessiert ist – denn um diese geht es bei der hier ins Auge gefaßten Kontroverse – sehr wohl erwartet werden, daß er alle Beiträge, die zu diesem Komplex gehören, unter diesem Aspekt noch einmal durchliest. Nicht um sie in ihrer Textualität und Intertextualität als Monument ihrer selbst, sondern als Dokument, als »Zeichen für etwas anderes« zu betrachten, nämlich für das, »was von den Menschen in dem Augenblick, da sie den Diskurs vortrugen, hat gedacht, gewollt, anvisiert, verspürt, gewünscht werden können«.[2] Die Aufgabe des Historikers ist die Re–Konstruktion des Denkens und Handelns im »Dunkel des gelebten Augenblicks« – um ein Wort von Ernst Bloch zu gebrauchen. Es geht um das Handeln von Menschen in Situationen, die sie nicht vollständig überblicken können und innerhalb von Strukturen, die sich jenseits ihrer Verfügung bewegen. Diese Gegebenheiten der geschichtlichen Existenz des Menschen treten in historischen Kontroversen am deutlichsten hervor im Streit um Entwicklungswege, die an »Bifurkationspunkten«[3] der Geschichte eingeschlagen werden sollen. Den Schreibern eines Teils dieser Texte ging es seit dem Tilsiter Frieden vom 9. Juli 1807 darum, die vollständige militärische Niederlage des alten Preußens umzumünzen in eine umfassende Reform von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat. Unter dem vordergründigen und alles beherrschenden Zwang zur Zahlung der Napoleonischen Kriegskontributionen wollte man die momentane Schwächung der staatstragenden Schicht – des Adels und seiner ökonomischen Grundlage, der ostelbischen Gutsherrschaft – ausnutzen, um lange schon debattierte Reformmaßnahmen in die Tat umzusetzen. Denn diese Reformbestrebungen waren auf den erbitterten Widerstand der alten regionalen Stände, allen voran denen des Adels, gestoßen, der auch in dieser spezifischen historischen Konstellation durchaus nicht zurücksteckte, sondern der der Administration entgegentrat und seinerseits in die publizistische Offensive ging.[4] In diesem Bezugsrahmen stehen Heinrich von Kleists »Berliner Kämpfe«, im Lichte dieses Horizonts erlangen sie ihre Bedeutung.

Der vom Forschungsstand her vorgegebene Ausgangspunkt soll so unspektakulär wie möglich gewählt werden. Da vor allem die ältere Literaturwissenschaft dazu neigte, das Schicksal der »Berliner Abendblätter« mit dem Untergang ihres Helden in engste Verbindung zu bringen, tendierte sie dazu, das Außergewöhnliche hervorzuheben, sowohl was das Konzept der Zeitung selbst betraf als auch ihren Konflikt mit der Zensur. Für die Historikerin Andrea Hofmeister–Hunger ist das Schicksal der »Abendblätter« nur »Legende und zensurpolitischer Routinefall«: »Weder war Kleist das außerordentliche Opfer einer perfiden, bürokratisch–despotischen Verfolgungskampagne, noch sein Blatt die Krone des zeitgenössischen Journalismus«.[5] Kleists Blatt war auch nicht, wie Reinhold Steig zu Beginn des Jahrhunderts wollte, der bewußte Mittelpunkt einer altständisch–konservativen Fronde gegen den Reformkanzler Hardenberg, die sich in der Anfang 1811 gegründeten »Christlich–deutschen Tischgesellschaft« zusammengefunden hätte.[6] Es stehen sich – trotz des Interessengegensatzes – nicht einfach zwei Lager gegenüber; die Bruchlinien dieses Streits verlaufen subtiler und verworrener.[7] Offen bleibt indessen die Frage, ob Kleist durch seinen Freund Adam Müller mit den in den »Berliner Abendblättern« geschriebenen Artikeln gegen Christian Jacob Kraus und nicht zuletzt gegen das Finanzedikt Hardenbergs vom 27. Oktober 1810 in eine schwierige Lage hineinmanövriert worden ist. Diese Version ist vor allem in der Erinnerungsliteratur des 19. Jahrhunderts durch »Hardenbergs rechte Hand« Friedrich v. Raumer und andere gepflegt worden. Sie lautet kurz und bündig: Der gutmütige, politisch unerfahrene Kleist ist von dem Intriganten Adam Müller mißbraucht worden.[8] Überhaupt hat sich das Bild Adam Müllers über die Zeit hinweg in der Literatur typisiert. Er gilt als Kleists »böser Geist«, als ein serviler, opportunistischer, amoralischer Höfling – ein Charakter, der letztlich auch auf Kleist abgefärbt habe: »Ich glaube,« – so schreibt Clemens Brentano an Achim von Arnim angesichts des Todes von Kleist – »wer Adam Müller, der jetzt in Wien den vornehmen Fuchsschwanz trotz in Berlin streicht, je so toll anbeten konnte, wohl zu dergleichen Totschüssen in dessen ausgetretenen Liebespantoffeln kommen kann.«[9] Aliquid semper haeret. Kleist erscheint dann zumindest als jemand, der – politisch blind – im Festhalten an seinen Freunden auf seinen eigenen Untergang hinarbeitet. Wenn überhaupt, kann man hierin das Tragische an diesem auf den ersten Blick so trockenen Stoff sehen: »Kleist ist ganz sicher nicht der Mann der altständischen Oppositionspartei gewesen, aber schon der Anschein war lebensgefährlich, bei der Schwäche seiner Position. Kleist war diffus, aber der Verdacht im Hardenberg–Clan, daß Kleist auf dieser Seite stehen könnte, war das Gefährliche für ihn.«[10] Auf der anderen Seite geht die bloße Reduzierung der romantischen Opposition gegen die deutschen Smithianer auf die Interessen des kurmärkischen Adels nicht auf. Adam Müller ist zu Beginn seiner ökonomischen Anschauungen selbst ein Anhänger von Smith – er schlägt dann aber eine andere Richtung ein, die erste grundsätzliche Einwände gegen das System des Liberalismus formuliert. Sehen wir zu, wie sich dieser Konflikt der »Berliner Abendblätter« mit der Administration Hardenberg langsam entfaltet.

I. Die erste Phase der Kontroverse: Gegen Christian Jacob Kraus und Johann Gottfried Hoffmann

Als die »Berliner Abendblätter« am 1. Oktober 1810 zum ersten Mal erschienen, hatten sie gute Startbedingungen. Sowohl der ungewohnte Erscheinungstermin als auch die Polizeirapporte, die der Polizeichef Gruner seinem Freunde Kleist überließ, machten sie vorübergehend zur Novität unter den hauptstädtischen Zeitungen. Es ist aber keineswegs so, daß die »Abendblätter« in den Tagen ihres Erfolges das Publikum nur mit Mordbrenner–Geschichten unterhielten. Bereits das 2. Blatt bringt einen Artikel, der sich vom 2. bis zum 4. Oktober 1810 unter der Überschrift »Freimüthige Gedanken bei Gelegenheit der neuerrichteten Universität in Berlin« über drei Ausgaben hinzieht.[11] Er ist geschrieben von Adam Müller, unterzeichnet mit »Ps.«. Es ist nicht gesichert, ob das Pseudonym Ps. an die Zeit des »Phöbus« erinnern sollte, an jenes gemeinsam mit Kleist 1808 in Dresden herausgegebene Kunstjournal.[12] Müller begrüßt anläßlich der Publikation des Vorlesungsverzeichnisses der neuen Universität die Zurückdrängung des Titel–Unwesens. Namen wie Wolf, Niebuhr, Savigny, Reil und Fichte stünden für sich selbst. Wollte er sich diesen Namen zugesellen? Im zweiten Beitrag wird er deutlicher und versucht, die politische Ausrichtung der Universität zu beeinflussen. Die bisherige kosmopolitische Funktion der Gelehrtenrepublik sei aufzugeben; die Gelehrten sollten *»vaterländische«*[13] werden. Für ein »bloßes Gastmahl für die wissenschaftlichen Gourmands von Europa«[14] sei diese Universität nicht gegründet. Die Zeiten seien nicht danach. Als noch ein christlicher Glaube Europa einte, da gingen die universalen Bestrebungen der großen alten Universitäten Bologna, Paris und Prag doch zugleich auf ein »großes Besonderes, Bestimmtes und Nächstes«[15]; die frei vagierende universale Humanität und Philanthropie des vergangenen Jahrhunderts hingegen könne nur im Staat ihren festen Umriß erhalten. Die Professoren sollen preußische Beamte ausbilden. Indes: aus den preußischen Universitäten seien bislang nur »Virtuosen der Jurisprudenz und Provinzialbeamte«[16] hervorgegangen. Warum keine höheren Staatsbeamten? Weil die Universitäten zu sehr »im Universo«[17] geschwelgt hätten unter Vernachlässigung des »vaterländischen Universums«[18].

Diese Eröffnung ist nicht ohne tiefere Bedeutung, denn schon im 11. Blatt vom 12. Oktober erscheint – wiederum von »Ps.« – ein Artikel über Christian Jacob Kraus.[19] Wer war Christian Jacob Kraus? Unlängst ist ein Buch über ihn erschienen, dessen erstes Kapitel lautet »Wie wird man ein unbekannter Philosoph?«.[20] Kraus (1753–1807) war ein aufklärerischer Universalgelehrter mit besonderer Vorliebe für die Mathematik. In die Wissenschaftsgeschichte ist er eingegangen als langjähriger Tischgenosse Kants und als Übersetzer und Anwender der Adam Smith’schen Nationalökonomie auf die preußischen Verhältnisse im späten 18. und in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts. Als Bearbeiter des Adam Smith wird er auch von Adam Müller eingeführt. Er sei »ein scharfsinniger und wohlgeordneter, obwohl etwas langsamer und unfruchtbarer Kopf«[21] gewesen. Seine Übersetzung des Adam Smith sei ein Werk »rechtschaffenen und mühseligen Fleißes«, besser immerhin als die »völlig Unberufenen«, die Soden, Lüder und Sartorius, die Adam Smith »zersetzt und zerfetzt, ausgezogen und ausgesogen« hätten.[22] Die abwertende Nennung des Namens Sartorius läßt aufhorchen, denn dem Göttinger Gelehrten hatte die Universitätskommission den neuen Lehrstuhl für Staatswissenschaften zunächst angeboten. Doch dessen finanzielle Forderungen erwiesen sich als unannehmbar – so hatte man an zweiter Stelle als sichere Reserve Johann Gottfried Hoffmann (1765–1847) gesetzt. Adam Müller hatte übrigens in seiner Göttinger Studienzeit selbst bei Sartorius gehört und von ihm wahrscheinlich einen ersten Einblick in die Smith’sche Nationalökonomie erhalten.[23] Durch Kabinettsorder vom 4. Oktober 1810 wurde dann Hoffmann zum Ordinarius und gleichzeitig zum Leiter des Statistischen Bureaus in Berlin ernannt.[24] Hoffmann wiederum, Statistiker und Nationalökonom, war zunächst Schüler und dann 1807 Nachfolger von Christian Jacob Kraus auf dem Lehrstuhl für praktische Philosophie und Kameralwissenschaft in Königsberg gewesen. Er wurde gefördert durch dieselben wirtschaftsliberalen Kreise Ostpreußens, die auch schon Kraus unterstützt hatten.

Als Staatsrat unter Theodor v. Schön hatte Hoffmann auf Anfrage Humboldts ein »Unmaßgebliches Gutachten, das Studium der sogenannten Staatswissenschaften auf der Universität zu Berlin betreffend« ausgearbeitet und insofern schon die Strukturen der Universität mitbestimmt. Dieses Gutachten vom 25. Mai 1810 ist allerdings, was Adam Müller betraf, insofern brisant, als Hoffmann darin von dem potentiellen Konkurrenten ausdrücklich abrät. Nachdem er das staatswissenschaftliche Studium in einen publizistischen, ökonomischen und polizeilichen Sektor unterteilt und auf eine Nationalrepräsentation und die Pressefreiheit als wünschenswerte Organe der »öffentlichen Meinung« hingewiesen hat, kommt er auf die möglichen Kandidaten zu sprechen: »Die Universität bedarf ihres äußeren Rufes wegen eines Mannes dazu, der schon Celebrität erworben hat. Meine Bekanntschaft mit Gelehrten ist zu eingeschränkt, um irgend Jemand empfehlen zu können. Adam Müller, der hier zur Stelle wäre, scheint sich durch seine staatswirthschaftlichen Vorlesungen nicht zu dieser Professur legitimiert zu haben.« Er fügt noch hinzu: »Der ohnehin vorschnellen Jugend möchte jetzt wohl am meisten damit gedient sein, daß man sie prüfen, zweifeln, und des kommenden Tages harren lehrte.« Auch zusätzliche Gutachten, etwa von Thaers Institut für Landwirtschaft in Möglin, hatten von einer Besetzung des Lehrstuhls mit Gegnern der Reformen mit Adam Müller oder mit dem entschiedenen Physiokraten Schmalz dringend abgeraten.[25] Der Umstand, daß Müller im Gutachten Hoffmanns direkt genannt wird, dazu die Formulierung »Adam Müller, der hier zur Stelle wäre« müssen wohl so gelesen werden, daß Müller zumindest als möglicher Kandidat im Gespräch war, oder daß er sich ins Gespräch hatte bringen wollen. Der Artikel gegen Kraus erscheint dann als eine Kampfansage des abgeschlagenen Aspiranten. Hatte Müller Kenntnis von dem Gutachten erhalten? Es muß auffallen, daß in der nachfolgenden Polemik mit J. G. Hoffmann auch das Motiv der »vorschnellen Jugend« eine gewisse Rolle spielt. Müllers Artikel erscheint unmittelbar nach der Ernennung Hoffmanns. Der vorangegangene Bericht über die neu gegründete Universität fällt gerade in die Tage der Entscheidung über die Besetzung des Lehrstuhls. Austragungsort des Richtungsstreits um die künftige staatswissenschaftliche Ausbildung der Preußischen Verwaltungsbeamten sind Kleists »Berliner Abendblätter«.

Daß sie es werden konnten, hängt wiederum mit ihrer nicht mehr in allen Einzelheiten rekonstruierbaren Entstehungsgeschichte zusammen. Hardenberg, im Juni 1810 an die Macht gekommen, hatte bereits 1807 in seiner »Rigaer Denkschrift« auf die Bedeutung der öffentlichen Meinung, der »Opinion«, hingewiesen. Es gab Projekte über die Gründung eines offiziellen (oder zumindest offiziösen) Regierungsblattes, die in ein konkreteres Stadium traten, als sich Adam Müller anheischig machte, im Verfahren von Rede und Gegenrede eine öffentliche Meinung überhaupt erst zu begründen. Und zwar eine solche, die geschickt für die Reformen beeinflußt werden sollte. An den Geheimen Finanzrat Friedrich August v. Stägemann schreibt er 1809: »Ein Staat wie der reorganisierte Preußische muß auch sprechen: die Gesichtspunkte sowohl für die Beurtheilung der neuen Organisation, als für die außerordentlichen Maaßregeln, welche die zerrüttete Lage des Staats nothwendig macht, müssen populär ausgedrückt, die Opposition, die durch alle Reform hervorgerufen wird, nicht niedergeschlagen, aber geleitet, noch besser vorweggenommen werden. [...] Ich getraue mir 1) öffentlich und unter der Autorität des Staatsraths ein Regierungsblatt 2) anonym und unter der bloßen Connivenz desselbigen ein Volksblatt, mit anderen Worten, eine Ministerial– und Oppositionszeitung zugleich zu schreiben, die dem Einen, was uns Noth thut, der Wiedererzeugung einer wahren und ernsthaften, preußischen, öffentlichen Meinung thätig zur Hülfe kommen soll.«[26] Das ungewöhnliche, auch bei Baxa nicht erklärte Wort »Connivenz« ist abzuleiten von lat. con–niveo und bedeutet im metaphorischen Gebrauch »durch die Finger sehen« – d. h. Müller fordert für sein dialektisches Zeitungsprojekt nicht nur, wie aus dem Schreiben hervorgeht, einen »Zutritt zur Regierung«, sondern von vornherein eine vorsätzlich–nachsichtige Zensur.

Was auf den ersten Blick als grenzenloser Opportunismus erscheinen mag, erweist sich indes als Realisierungsversuch von Adam Müllers philosophischer Position.[27] Seine unvollendet gebliebene »Lehre vom Gegensatze« von 1804 knüpft sowohl an Kant als auch Goethe, Ritter und Schelling an. Bedenkt man, daß sich Schellings »System des transzendentalen Idealismus« mit der Differenz von Notwendigkeit und Freiheit auseinandersetzt, die Notwendigkeit aber unbewußt aus dem Handeln in Freiheit hervorgehen läßt und die »absolute Synthesis aller Handlungen« in einem Vereinigungsgrund sucht, den man »Religion in der einzig wahren Bedeutung des Worts« nennen könne, dann kann man seine Philosophie als eine Reaktion auf die Erfahrungen mit dem Gelingen und Mißlingen der Französischen Revolution lesen: daß in der Geschichte trotz allen bewußten Handelns etwas jenseits der Intentionen entsteht, das so nicht gewollt worden ist. Insofern erweist sich die Geschichte als das höchste, »aber noch nicht aufgelöste Problem der Transzendentalphilosophie« und Schellings Philosophie wäre ihrer »tiefsten Intention nach [...] Philosophie der Geschichte«.[28] Wenn Müller seinerseits keine spekulative Systemphilosophie mehr bieten will, sondern nach einer Methode sucht, »die geschichtliche Rückschau zur Selbstbesinnung der Gegenwart« ermöglicht, dann steht wiederum die Überbrückung der Gegensätze des Bedingten und des Unbedingten im Zentrum. Der vereinigende Systemgedanke, bei Kant transzendental auf dem Vorrang der praktischen Philosophie begründet, wandelt sich bei den Frühromantikern im Anschluß an die »Kritik der Urteilskraft« zu einer organizistischen Vorstellung eines alle Gegensätze überwölbenden Werdens. Für Müller, den Leser Edmund Burkes, konnte das nur bedeuten, daß Geschichte nicht aus abstrakten Gesetzen konstruierbar ist, sondern sich nur in beständiger Vermittlung mit dem Bestehenden genetisch entfalten kann.[29]

Festzuhalten bleibt, daß für Müller auch die »öffentliche Meinung« nur aus dieser geschichtlichen Vermittlung von Gegensätzen entstehen kann. Immerhin stieß dieser prima facie abenteuerliche Vorschlag auf das Wohlwollen Friedrich Wilhelms III., was allerdings nicht bedeutet, daß ein solches Journal unverzüglich begründet worden wäre. Ob man Kleists »Berliner Abendblätter« damit überhaupt in unmittelbaren Zusammenhang bringen kann, ist ebenfalls nicht zu belegen – wenn auch Kleists Insistieren auf einem debattierenden Journal darauf hinzudeuten scheint, daß er diese Position teilte. Wie dem auch sei: anstatt einer Regierungszeitung nach seinem Sinne bekam Adam Müller ein recht großzügiges »Wartegeld« von 1200 Talern im Jahr – und wartete seither eigentlich auf eine Anstellung als preußischer Beamter. Zuletzt spekulierte er noch auf die Stelle des Kanzlers der Universität in Frankfurt an der Oder.[30] Die »Berliner Abendblätter« jedenfalls wollten verschiedene Meinungen zu Wort kommen lassen; vielleicht sollte es bis zu einem gewissen Grad sogar so sein. Ob daraus einseitige Stellungnahmen als Gegengewicht zur Auffassung der Reformer wurden, und wie weit Staatskanzler Hardenberg mit den Resultaten dieser dialektischen Bemühungen zufrieden war, das steht auf einem andern Blatt.

Als Kampfansage an Hoffmann auf dem Umweg über eine Kritik an Christian Jacob Kraus jedenfalls wurde Müllers Artikel gelesen. Das geht aus dem Beitrag im 24. Blatt vom 27. Oktober 1810 hervor, der nach Sembdner wahrscheinlich von dem Staatsrat Nicolovius stammt: »Der Aufsatz im 11ten dieser Abendblätter, dessen Verfasser auf eine sehr vorsichtige, aber doch nicht schlagende Weise gegen den verstorbenen Professor Kraus zu Felde zu ziehen scheint, hat es offenbar eigentlich mit seinen Schülern aufnehmen wollen.«[31] Denn Adam Müller hatte angedeutet, daß Adam Smith nun – »nach 30 Jahren« – »reif [sei] für die Geschichte«[32] und nicht mehr buchstäblich genommen werden könne. Vor allem dürfe die Ökonomie nicht mehr ohne die Wissenschaft des Rechts und des Staates betrieben werden. Das schreibt jemand, der zunächst selbst Smithianer gewesen war, der Fichtes Lehre vom »Geschlossenen Handelsstaat« im Geiste von Smith kritisiert hatte, der vielleicht sogar Smith hatte umbilden oder weiterbilden wollen. Dennoch sollte bei aller späteren Kritik an Smith nicht übersehen werden, daß Müller bestimmte Grundzüge seines Werkes beibehalten hat, sie aber im Sinne einer organischen Staatslehre überformen wollte.[33] Die für die Gegenwart hergeleitete Mahnung an Smiths preußische Schüler ist unmittelbar politisch: zu befürchten sei ein »*unheilbare[r] Zwiespalt zwischen den Gerichtshöfen und der Administration*«,[34] wenn eine auf Smith basierende Gesetzgebung in einem so alten Staatswesen wie Preußen zur Anwendung käme. Müller ehrt in leicht abfälligem Tone Christian Jacob Kraus als Königsberger Lokalautorität – zum Gesetzgeber sei der gute Mann jedoch nicht berufen gewesen.

Hinter dieser Kritik stehen Müllers »Elemente der Staatskunst« von 1809 mit ihrer im Gegenzug zum 18. Jahrhundert und zur Französischen Revolution entworfenen Kategorie der »Wechselwirkung«: nicht frivol auferlegte, künstlich erdachte »Gesetze« können ein Gemeinwesen stärken, sondern nur »lebendige Gesetze« in ihrer Rückbindung an die »Erfahrungen der Vergangenheit«.[35] Nach Harada versucht sich Müller an folgendem Paradox: Er will einen »freien« und »gerechten« Wettbewerb aller Mitglieder eines Staates, begreift diese aber nicht als atomisierte Individuen, sondern in ihrer korporativen Einbindung, die er einem idealisierten Mittelalter entlehnt. Die menschlichen Bindungen sollen hinter den sachlichen Zwängen des wirtschaftlichen Verkehrs nicht verschwinden. Keinesfalls polemisiert er gegen den »Dritten Stand«, er bekämpft aber dessen Übermacht und will sie durch den Adelsstand ausbalanciert wissen. Kritisch merkt Harada an, daß Müller dieses Problem institutionell nicht gelöst habe, beschreibt aber seine Intention folgendermaßen: »Seine Idee ist keine einfach ›reaktionäre‹, sondern ein von der ›Tradition‹ und der ›Persönlichkeit‹ her gedachter, umgeformter moderner Individualismus«.[36]

Diese Haltung, die bereits auf die politische und ökonomische Doppelrevolution am Endes des 18. Jahrhunderts kritisch reagiert, ist mit den Absichten der Spätaufklärer und der Reformer nicht zu vereinen, selbst wenn sie ihrerseits einen Reformentwurf präsentiert. Zwei Wege der Reformmöglichkeit tun sich an diesem Bifurkationspunkt der preußischen Geschichte auf. Auch Kant wollte ja, obgleich er die Französische Revolution guthieß, da sie einmal geschehen sei, »das Experiment auf solche Kosten« nicht zum zweiten Male wiederholen, wenngleich er den von ihr angeregten »Enthusiasmus« als »Geschichtszeichen« für die Beantwortung der Frage sah, ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei. Seine Antwort auf die Revolution lautet – Reform – »nicht durch den Gang der Dinge von unten hinauf, sondern den von oben herab« – »wozu wohl gehören möchte, daß der Staat sich von Zeit zu Zeit auch selbst reformiere und, statt Revolution Evolution versuchend, zum Besseren beständig fortschreite«.[37] Das ist eine Einstellung, die der Minister Struensee 1799 in fast den gleichen Worten gegenüber dem französischen Geschäftsträger in Berlin ausdrückte: »Die heilsame Revolution, die ihr von unten nach oben gemacht habt, wird sich in Preußen langsam von oben nach unten vollziehen. Der König ist Demokrat auf seine Weise: er arbeitet unablässig an der Beschränkung der Adelsprivilegien und wird darin den Plan Josephs II. verfolgen, nur mit langsameren Mitteln. In wenigen Jahren wird es in Preußen keine privilegierten Klassen mehr geben.«[38] Reformen also statt Revolution; das ist bis hin zu Hegel die preußische Antwort auf Frankreich. Wie tief aber diese Reformen gehen sollten, das war umstritten – letztlich mußten sie in ihrer Durchführung warten, bis die Niederlage des alten Systems bei Jena und Auerstädt das historische Signal dazu gab. Unerschütterliche Aufklärer sahen daher in diesem Zusammenbruch des Staates wenigstens ein Gutes: »Wer weiß, wie lange man in Preußen auf das Edict vom 9. Oktober 1807 noch hätte warten müssen«, schreibt der alte Königsberger Kriegsrat Johann George Scheffner in seinen Erinnerungen.[39] Hier ist es eindeutig ein Stand und die von ihm vertretene Agrarverfassung, die als reformbedürftig gelten, wenn neue Kräfte entfaltet werden sollen. Müller hingegen sucht einen Ausgleich zwischen zwei abstrakten Prinzipien: »Die Erfahrungen unserer Zeit haben gelehrt, daß weder eine absolut–republikanische noch eine absolut–monarchische Form möglich ist, sondern daß Republikanismus und Monarchie nichts anderes als die beiden gleich notwendigen Elemente jeder guten Verfassung sind.«[40] Bezogen auf Preußen ging es darum, ob eine Reform im Rahmen des Allgemeinen Landrechts von 1794 durchgeführt werden konnte – die neuere Forschung betont, daß in der Tat gerade die schrittweise Entfaltung der Agrarreformen einen Bruch mit dem geltenden Recht voraussetzte. Insofern ist der von Müller prophezeite Zusammenstoß zwischen Recht und Administration nicht aus der Luft gegriffen.[41]

Der erste ausführliche – anonyme – Gegenartikel in den »Berliner Abendblättern« vom 22., 23. und 24. Oktober wird von Kleist mit einer kurzen Bemerkung eingeführt: Es sei der Zweck dieses Blattes, neben der »Unterhaltung aller Stände des Volks [...] nach allen erdenklichen Richtungen [die] Beförderung der Nationalsache«[42] zu betreiben. Kleist war der Verfasser nicht bekannt; die Sätze dienen zur Einführung in eine Stellungnahme zu Müllers Beitrag, die ihm offensichtlich aus Regierungskreisen zugeschickt worden war. Sembdner vermutet in dem Autor den angegriffenen J. G. Hoffmann selbst. Christian Jacob Kraus wird in Schutz genommen, nicht überschwenglich zunächst, sondern eher in nüchterner Betrachtung. Eine eigene Theorie habe Kraus nie aufstellen wollen; das Smith’sche System habe ihm genügt. Er habe es aber nicht unhistorisch übernommen, sondern auf den Preußischen Staat und seine »eigenthümliche Lage« angewandt, so daß es Eingang in die Verwaltungsbehörden gefunden habe. Kraus’ Absicht sei es gewesen, den arbeitenden Klassen »Eigenthum« zu schaffen; darin bestehe das Verdienst des geschmähten »unfruchtbaren Kopfes«. Der Verfasser zieht den Bericht eines Separierungskommissars aus Neu–Ostpreußen heran, aus Gebieten also, die bei den Polnischen Teilungen an Preußen gekommen waren. Es geht um die Umwandlung von Schaarwerksbauerndörfern in zinsbäuerliche, d. h. der Eigentumsbegriff ist noch eingeschränkt und betrifft lediglich eine Verbesserung des Besitzrechts im Rahmen der weiterhin bestehenden Gutsherrschaft.[43] Dennoch ist in diesem Bericht die noch anstehende Frage der Verleihung von Eigentum zeitgemäß antizipiert und vom Erscheinungsdatum her auch gut terminiert. Denn das berühmte Edikt vom 9. Oktober 1807, dessen § 12 mit dem Satz beginnt: »Mit dem Martini–Tage Eintausend Achthundert und Zehn (1810.) hört alle Guts–Unterthänigkeit in Unsern sämmtlichen Staaten auf«,[44] bezieht sich nur auf die persönliche Unfreiheit der Gutsuntertanen – die Lasten, die auf ihrem Grund und Boden lagen und die in Gestalt der Frondienste das eigentliche Problem darstellten, mußten in einer nicht–revolutionären Reform gegen Entschädigung des Grundherrn abgelöst werden. Auf diesen Weg mußte die Agrarreform – gegen den Widerstand des Adels – noch gebracht werden, und in eben dieser Auseinandersetzung stehen die Artikel in den »Berliner Abendblättern«. Erst das Hardenbergsche Regulierungsedikt vom September 1811 schuf dann die Grundlage für die weitere Entwicklung.[45]

Den Separationskommissar zitierend, schreibt der Verfasser des Kraus–Artikels: »Wenn der Separationsplan genehmigt und die Verlosung geschehen war, wenn er den Bauern die vergrößerten Grundstücke als zinsbares Eigenthum übergab, diese, die Wohlthätigkeit ihrer neuen Existenz wohl begreifend, anfangs in stummem Erstaunen ihr neues Eigenthum musterten, dann sich mit einer Freudenthräne im Auge auf den kalten Boden niederwarfen, ihn umklammerten und mit Küssen bedeckten, als wollten sie ihn für die Ewigkeit ergreifen; wenn nun das Gefühl der Freiheit diese vorher so stupiden Gesichter plötzlich mit Leben und Ausdruck übergoß, wenn Mann, Weib und Kind in heiliger Umarmung verschränkt, sich feierlich gelobten, dem Trunke und den Lastern der Knechtschaft fortan zu entsagen – und der Commissarius unter diesen glücklichen Gruppen mit dem Gefühle einer Gottheit da stand – das waren in der That Scenen, erhaben wie der Bund der 3 Schweizer, und werth durch denselben Pinsel verweigt zu werden.«[46]

Diese Reformen, die Stärkung der eigenen Kräfte durch die Verleihung ländlichen Eigentums, die Abschaffung allen Dienstzwanges der vormals erbuntertänigen Bauern – das sind die Mittel, um Preußen nach seiner militärischen Niederlage von 1806/07 und den damit verbundenen finanziellen Lasten grundlegend, d. h. von einer Umgestaltung der Wirtschaftsordnung her wieder zu stärken. Heinrich von Kleist können solche Gedanken nicht unbekannt gewesen sein, denn er hatte Kraus in Königsberg selbst gehört, als der Geheime Oberfinanzrat Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein ihm nach seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst eine Verwaltungslaufbahn eröffnen wollte.[47]

Erst jetzt, nach der Entfaltung dieses spätaufklärerischen Tableaus zieht der Verfasser ironisch gegen Adam Müller zu Felde, gegen die neuen Genies, die mit ihrem Geist aber nichts anderes anzufangen wissen, als ihn »zur Vertheidigung von Gräueln der Vorwelt«[48] zu mißbrauchen. Im dritten Teil des Artikels wird er scharf: Adam Müller befürchte einen Zwiespalt zwischen hergebrachten Gesetzen und der neuen Administration? Ein solcher Zwiespalt dürfte kaum entstehen, wenn er nicht durch »Brandbriefe« angeschürt werde. Die Frage sei vielmehr, ob der Staat etwa an »verjährten Rechten« zugrunde gehen solle. Die Rolle des Gesetzgebers deutet der Verfasser naturrechtlich um, so also, daß aus dem historisch tradierten Unrecht nun die endlich gefundene, allgemeingültige Form der bürgerlichen Freiheit erwachse: nicht Smith oder Kraus wollten Gesetzgeber sein – sie waren nur Organe der großen Gesetzgeberin der Natur.