Walter Hettche Die journalistische Funktion der Gedichte in Kleists »Berliner Abendblättern« In der Anzeige, die das bevorstehende Erscheinen der ersten Nummer der »Berliner Abendblätter« ankündigt, wird die Zeitung als »ein Blatt« beschrieben, »welches das Publikum, in sofern dergleichen überhaupt ausführbar ist, auf eine vernünftige Art unterhält«.[1] Der »vernünftigen Unterhaltung« ein Begriff, der seine Herkunft aus der Zeitschriftenkultur der Aufklärung nicht verleugnet dienen neben den Anekdoten, Erzählungen, populärwissenschaftlichen Aufsätzen und auch den Polizeiberichten die Gedichte, von denen sich in den »Abendblättern« 31 Beispiele aus verschiedenen lyrischen Gattungen finden: Zwanzig mehr oder weniger geistreiche Epigramme und drei Rätsel, sechs Huldigungsgedichte und zwei Erzählgedichte, nämlich die beiden »Legenden nach Hans Sachs« von Kleist. Acht Verfasser sind ermittelt worden; Kleist liegt mit zehn oder elf Texten an der Spitze, gefolgt von Friedrich Gottlob Wetzel mit neun, Achim von Arnim mit vier und Friedrich August Stägemann mit drei Beiträgen. Von Clemens Brentano, Ludwig Giseke, Friedrich von Luck und Friedrich Schulz ist je ein Gedicht enthalten. Im Gegensatz zu den Anekdoten, Erzählungen und Aufsätzen hat sich die Forschung mit diesen Gedichten und ihrer Funktion im Projekt »Berliner Abendblätter« bisher kaum beschäftigt. Heinrich Aretz schreibt in seinem Buch »Heinrich von Kleist als Journalist«, die Gedichte und Epigramme in den »Abendblättern« seien »von eher witziger, unterhaltender und harmloser Natur« und »haben deshalb [...] kaum Bedeutung«.[2] - Auch ich selbst habe in meiner Dissertation über Kleists Lyrik[3] zwar die lyrischen und epigrammatischen Gedichte Kleists in den »Abendblättern« behandelt, auf diejenigen anderer Autoren bin ich aber nicht eingegangen, und auch die Gedichte Kleists habe ich allzusehr aus ihrem journalistischen Kontext herausgelöst und so behandelt, als seien es autonome, ohne ihr Umfeld zu verstehende Texte. Dabei hätte gerade im Vergleich mit dem früheren Zeitschriftenprojekt Kleists, dem »Phöbus«, die Kontextabhängigkeit der Gedichte in den »Abendblättern« deutlich werden können, denn die Funktion der Einleitungsgedichte und Epigramme, der kleinen Gelegenheitsgedichte und des religiösen Gedichts »Der Engel am Grabe des Herrn« im »Phöbus« ist offenkundig und in der genannten Dissertation auch erkannt und beschrieben. Auch dort handelt es sich nicht um lyrische Gedichte im engeren Sinn, sondern um funktionale Lyrik, in und mit der Kleist in erster Linie seine Auseinandersetzung mit dem Kunstprogramm der Weimarer Klassik führt. Der hohe intellektuelle Anspruch der Lyrik im »Phöbus« scheint in den »Berliner Abendblättern« auf den ersten Blick zugunsten einer eher populären, unterhaltenden Form aufgegeben worden zu sein. Dennoch ist den lyrischen Beiträgen zu den »Abendblättern« eine tragende programmatische Funktion nicht abzusprechen. Grundlegende Aussagen zu den politischen und kulturellen Verhältnissen der Zeit vertraut Kleist seinen Gedichten an: Seine kritische Haltung zum preußischen König Friedrich Wilhelm III. äußert sich - ausgerechnet - in einem Huldigungsgedicht zum Wiedereinzug des Königs in Berlin; seine Fehde mit Iffland (und damit die Auseinandersetzung mit der Theatersituation in Berlin) trägt er in dem satirischen Willkommensgruß »An unsern Iffland« aus, und seine Religionsauffassung spricht aus den beiden »Legende nach Hans Sachs« betitelten Texten. Bezeichnend für die Vorgehensweise der »Abendblätter« und für die politischen Umstände, unter denen sie erscheinen, ist die verdeckte und verschlüsselte Argumentationsstruktur dieser Gedichte. Das Gedicht an König Friedrich Wilhelm III., das Kleist am 5. Oktober 1810 im 5. Blatt der »Abendblätter« erscheinen ließ,[4] hat eine merkwürdige Vorgeschichte. Die königliche Familie war im Dezember 1806 nach Königsberg geflohen, und nachdem die französische Besetzung Berlins Ende 1808 beendet war, rechnete man allgemein mit der baldigen Rückkehr des Königs. Im Vorgriff auf dieses Ereignis hat Kleist sein Gedicht »An Friedrich Wilhelm den Dritten, König in Preußen. Zur Feier seiner Rückkehr nach Berlin« geschrieben und aus Dresden an den Berliner Verleger Decker geschickt. Doch der Polizeipräsident Gruner verweigerte dem Gedicht am 24. April 1809 das Imprimatur - nicht etwa, wie man erwarten könnte, wegen der ohne Zweifel ganz bewußt von Kleist gesetzten, nachgerade beleidigenden Titulatur »König in Preußen«, die nur Friedrich I. führte, während seine Nachfolger alle Könige von Preußen waren. Gruner sind vielmehr, wie die Anstreichungen in dem eingereichten Einblattdruck zeigen, die Verweise auf die Triumphe »jene[s] Cäsar[s]« - also Napoleons - und die angedeutete Notwendigkeit des Kampfes gegen Frankreich als politisch inopportun erschienen. So wurde das Gedicht erst 1810, als sich die politische Lage verändert hatte,[5] in den »Abendblättern« publiziert. Trotz der nach wie vor deutlichen Hinweise auf die Niederlagen Friedrich Wilhelms III. und trotz der aus der dritten Strophe deutlich zu entnehmenden Mahnung, den Kampf gegen die französische Besatzung aufzunehmen, hielt man die Verse offenbar für eine vollkommen ernstgemeinte Huldigung an den preußischen König, und auch die Kleistforscher Reinhold Steig, Paul Hoffmann und selbst noch Helmut Sembdner hegten an der königstreuen Gesinnung Kleists keinen Zweifel. Für Steig ist die Ode »der edelste Ausdruck märkischer Liebe zu König und Vaterland«,[6] Hoffmann spricht vom »Ausdruck des innerlichsten Empfindens« und der »unmittelbaren Ergebenheit«, die dem Gedicht »über alles Zeitliche und Zufällige hinaus Würde und Wert verleihen«,[7] und auch Sembdner zweifelt nicht daran, es mit einem »wirklich ernstgemeinten« Gedicht zu tun zu haben.[8] Doch so ganz ernst können die Strophen nicht gemeint gewesen sein. Zum einen weiß man, daß Kleist Friedrich Wilhelm III. wegen seiner zaudernden Haltung gegenüber den Franzosen nicht eben hochschätzte, zum andern lassen die gehäuften Konjunktive - »Du hättest«, »wärst Du« - den Schluß zu, daß Kleist am preußischen König nicht viel zu loben fand. Den einschränkenden Untertitel: »wenn sie [die Feier des Einzugs nämlich] stattgehabt hätte« hat Kleist in den »Abendblättern« wohlweislich fortgelassen; die Enttäuschung und der leise Spott, der sich darin ausspricht, hätten ohne Zweifel bei der Zensur Anstoß erregt. - Ein weiteres Indiz tritt hinzu, mit dem man in den »Abendblättern« immer rechnen muß, das die Zensoren aber ganz offenkundig zu wenig beachtet haben: die Kontextbezogenheit der Texte. Zwei Tage vor der Publikation des Gedichts an den König, am 3. Oktober 1810, war in den »Abendblättern« schon einmal ein Begrüßungsgedicht aus der Feder Kleists veröffentlicht worden.[9] Es richtet sich »An unsern Iffland«, dem Kleist aus mehreren Gründen nicht wohlgesonnen war. Die Ablehnung des »Käthchen von Heilbronn«, die jenen beleidigenden, auf Ifflands Homosexualität anspielenden Brief Kleists vom 12. August 1810 provoziert hat, ist nicht der einzige Grund. Dirk Grathoff hat gezeigt, daß Iffland vor allem wegen seiner »öffentliche[n] Funktion« als Intendant des Hoftheaters, des einzigen Theaters in Berlin, und seiner fragwürdigen Spielplangestaltung angegriffen wurde.[10] Besonders seine zahlreichen Abwesenheiten auf Gastspielreisen wurden von den Berlinern moniert, und eben darauf spielt Kleists Begrüßungsgedicht an, das alle rhetorischen Register der Panegyrik zieht. Der Bezug auf die »Barden«, die dem »Heros« Lieder singen sollen, und die Pose des »vaterländischen Dichters«, die Kleist in der Unterschrift einnimmt, weisen es als ein nicht nur gegen Iffland, sondern auch gegen die zahlreichen Freiheitsbarden dieser Zeit gerichtetes Spottgedicht aus. Wie wenig ernst es Kleist auch mit dem an Friedrich Wilhelm III. gerichteten Huldigungsgedicht in Wahrheit ist, wird dem Publikum durch die zeitliche Nähe zu dem Iffland-Gedicht vor Augen geführt. Beide Gedichte sind ähnlich aufgebaut und in Formulierung sowie Anordnung des Titels nahezu identisch. In Kleists Augen ist Friedrich Wilhelm III. ebensowenig ein »Heros« wie Iffland. Aus dem Gedicht an den König ist diese Haltung nur für ein geübtes Auge zu erkennen, aber die Zusammenstellung mit der Iffland-Invektive spricht eine deutliche Sprache. Die Kritik am Preußenkönig wird durch ein weiteres Huldigungsgedicht verstärkt, das zehn Tage nach dem Einzugsgedicht an Friedrich Wilhelm in den »Abendblättern« publiziert wurde: Die Verse zum Geburtstag des Kronprinzen, des späteren Friedrich Wilhelm IV., der am 15. Oktober 1810 seinen 15. Geburtstag feierte.[11] Der Verfasser, Friedrich von Luck, spricht den Kronprinzen als »Stern der Hoffnung« an und feiert noch einmal die einige Monate zuvor verstorbene Königin Luise. Auch Arnims Gedicht »Der Studenten erstes Lebehoch bei der Ankunft in Berlin am 15ten Oktober«, das in der gleichen Nummer der »Abendblätter« gedruckt wurde,[12] endet nicht mit dem Lebehoch auf den König (der wird mitten im Gedicht apostrophiert), sondern auf den Kronprinzen: »Dem Königssohn dies Lebehoch«[13]. All diese Zeichen - das Herrscherlob im Konjunktiv in Kleists Einzugsgedicht, die ironische Parallelisierung mit dem Gedicht an Iffland und die demonstrative Hinwendung zur verstorbenen Königin Luise und zum Kronprinzen als Hoffnungsträger - relativieren die angebliche Königstreue Kleists und der »Abendblätter« sehr nachdrücklich. Es spricht vieles für die Annahme, daß Kleist mit dem Gedicht an König Friedrich Wilhelm III. eine Loyalität zur Schau stellen wollte, die faktisch gar nicht mehr existierte. Die Praktiken des Verrätselns und Verschleierns, die angesichts der Zensur unabdingbar gewesen sind, kennzeichnen auch die auf den ersten Blick eher unscheinbaren Sinngedichte, Epigramme und Rätsel in den »Abendblättern«. Die Epigramme des Bamberger Journalisten Friedrich Gottlob Wetzel beispielsweise, den Kleist aus seiner Dresdner Zeit gut kannte und der auch am »Phöbus« mitgearbeitet hatte, sind brave Beispiele ihrer Gattung, aber ganz der Tradition des Sinngedichts des 18. Jahrhunderts angehörig, mit allgemeingültigen Sentenzen und Moralen: »Lasse den Thoren daheim, und send’ ihn nimmer auf Reisen, / Neue Thorheit allein bringt er aus jeglichem Land« (30. Blatt vom 3. November 1810).[14] Auch manche der Kleist zugeschriebenen Sinngedichte sind nicht viel tiefsinniger: »Ich gratulire, Stax, denn du ewig wirst du leben; / Wer keinen Geist besitzt, hat keinen aufzugeben« (38. Blatt vom 13. November 1810).[15] So unverfänglich diese Verse wirken, so raffiniert sind sie doch im Kontext der »Abendblätter« eingesetzt. Gerade in der Harmlosigkeit, die Aretz ihnen attestiert hat, liegt ihre besondere Leistung. Kleist selbst hat in seinem Epigramm »Nothwehr« von der Camouflage-Technik gesprochen, die es notwendig macht, gelegentlich die »Bind[e]« des Feindes um den Hals zu legen, um in dessen Lager zu gehen.[16] Eine ähnliche Funktion haben die Sinngedichte: Die Fülle der anscheinend nur der geistreichen Unterhaltung dienenden Verse lenkt ab von einigen brisanten Texten, die ihrerseits so verschlüsselt sind, daß sich ihr wahrer Gehalt dem Gros der Leser gewiß nicht erschließt, die aber wegen ihrer unverdächtigen Nachbarschaft gar nicht den Verdacht erregen, sie könnten zensurwidrige Inhalte transportieren. Ein Beispiel dafür ist das Rätsel-Epigramm »Auf einen Denuncianten« im 11. Blatt vom 12. Oktober 1810.[17] Am Tag zuvor war Arnims »Räthsel auf ein Bild der Ausstellung dieses Jahres« erschienen,[18] ein Rätsel, dem keine Auflösung beigegeben ist und das sich tatsächlich als eine Art Denksportaufgabe erweist. Das Rätsel-Epigramm »Auf einen Denuncianten« wird dagegen »aufgelöst« - aber die Auflösung verrätselt es noch mehr. Das Rätsel selbst stammt von Friedrich Stägemann und lautet: Als Kalb begann er; ganz gewiß Vollendet er als Stier - des Phalaris. Die »Auflösung« hat Friedrich Schulz am folgenden Tag geliefert: Freund, missest du des Räthsels Spur? - Durchblättere den Jason nur.[19] »Gelöst« ist das Rätsel damit allerdings nur für die eingeweihten selbst unter den zeitgenössischen Lesern. In der Kleist-Forschung dürfte Reinhold Steig einer der ersten gewesen sein, die das Rätsel-Epigramm verstanden haben: als einen Angriff auf den Grafen Christian Ernst von Bentzel-Sternau (1767-1849), der 1802-04 seine vierbändige Romanbiographie »Das goldne Kalb« veröffentlicht hatte und von 1808 bis 1811 die Zeitschrift »Jason« herausgab, in der er 1810 Adam Müllers »Elemente der Staatskunst« heftig kritisierte (darauf beziehen sich wiederum Wetzels Distichen »An die Recensenten der Elemente der Staatskunst von Adam Müller« im 48. Blatt vom 24. November 1810[20]). Das Rätsel-Epigramm von Stägemann und Schulz trifft vor allem den Napoleon-Verherrlicher Bentzel-Sternau, wie der Vergleich mit dem »Stier des Phalaris« zeigt. Phalaris war der Tyrann von Akragas auf Sizilien (Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr.), der angeblich seine Feinde in einem ehernen Stier braten ließ; »die Schreie der zu Tode Gequälten klangen, als brülle der Stier«.[21] Zensoren sind, wie Heinrich Heine im »Buch Le Grand« angedeutet hat, allerorten »Dummköpfe«, auf deren Unkenntnis der antiken Mythologie man sich verlassen kann. Die Gleichsetzung des Tyrannen Phalaris mit Napoleon haben die für die »Berliner Abendblätter« zuständigen Zensurbeamten jedenfalls nicht bemerkt. Das tägliche Erscheinen der »Abendblätter« kommt dem verschleiernden Rätselspiel mit den Kontexten entgegen: Bekanntlich ist nichts so alt wie die Zeitung von gestern, so daß der Zensur die Zusammenhänge zwischen Texten, die mehrere Tage getrennt voneinander gedruckt wurden, nicht aufgefallen sind. Für sich allein gelesen sind die Texte harmlos; erst in Verbindung mit dem Kontext gewinnen sie ihre Schärfe. - Das Prinzip der Kontexbezogenheit eröffnet jedoch nicht nur Möglichkeiten der Verschleierung und Ablenkung von zensurwidrigen Äußerungen, es dient auch der kontroversen Diskussion unterschiedlicher Auffassungen, die ja ein Hauptanliegen Kleists gewesen ist. Auch in Gedichten werden solche Debatten geführt, wie Arnims »Räthsel auf ein Bild der Ausstellung dieses Jahres« zeigt. Neben seiner Funktion als harmlose Folie für das am folgenden Tag gedruckte Rätselgedicht »Auf einen Denuncianten« dient es der kontrastierenden Ergänzung des Berichts über die Kunstausstellung,[22] den der Arzt Ludolph von Beckedorff verfaßt hat, ein Mitglied der Christlich-Deutschen Tischgesellschaft. Arnims Sonett kann als bloßes Rätsel gelesen werden, in dem es darum geht, den Titel des Bildes zu erraten, von dem die Rede ist: Da bleibt ein Bild in meiner Seele stehn, Ich hab’s nicht mehr als andre angesehn, Es ist nicht reizend und es ist doch schön.[23] Das Gedicht gibt einen Hinweis auf den Maler dieses Bildes: »Der Künstler starb«, heißt es im 13. Vers, und damit ist für den aufmerksamen Leser klar, wer gemeint ist: Johann Carl Andreas Ludwig (1785-1809), dessen Portrait seiner Eltern Bekkedorff tags zuvor im 9. Blatt der »Abendblätter« besprochen hatte: Aufs auffallendste und wohlthätigste contrastirt mit diesen Bildern ein dicht daneben hängendes Doppelporträt, von dem, leider! zu früh verstorbenen jungen Künstler, Herrn Johann Carl Andreas *Ludwig*. Dasselbe stellt die Köpfe seiner Eltern vor, und ist mit solcher Treue, Wahrheit und Ausführlichkeit gemahlt, so sinnig, einfach und natürlich entworfen und so geistreich und fleißig ausgeführt, daß nicht genug zu seinem Lobe gesagt werden kann. Nur äußerst wenig fehlt diesem Bilde, nur ein geringer Zusatz von Leben, wir möchten sagen, nur der äußere Schein und Glanz des Lebens, um den bessern Bildern Deutscher Meister an die Seite gesetzt zu werden.[24] Auf dieses etwas geschwätzige Lob, das sich dennoch einen kleinen Tadel nicht verkneifen kann, bezieht sich der 13. Vers in Arnims Sonett, der vollständig lautet: Der Künstler starb, er werde nicht beschwätzt Der Vers zeigt, daß das Gedicht mehr ist als ein Rätsel: Es ist eine grundsätzliche Aussage über die Wirkung bildender Kunst. Das Gemälde bedarf, so will es dieses Sonett, keiner sprachlichen Vermittlung; die Kunst selbst soll auf den Betrachter wirken, ohne daß sich ein Kunstrichter einmischt. So lautet das zweite Quartett: O arme Kunst, du sinkend armes Jahr, Sagt an was künftig dauernd von euch gilt, In meinem Herzen ernste Andacht quillt Für alles Schöne, was unwandelbar. Auf diese Apostrophe an die Kunst folgen unmittelbar die Verse, die von der Wirkung des gemeinten Bildes sprechen. - Dieses Rätsel-Sonett Arnims ist ein weiterer Beleg für eine den »Abendblättern« eigentümliche Strategie. Es ist nämlich nicht die einzige Äußerung Arnims zur Kunstausstellung des Jahres 1810: In den Blättern 37-39 vom 12. bis 14. November 1810 hat er eine »Übersicht der Kunstausstellung« gegeben,[25] in der er auch auf Ludwigs Porträt seiner Eltern zu sprechen kommt und es auf eben jene Weise »beschwätzt«, die er in seinem einen Monat zuvor erschienenen Sonett kritisiert hat. Wie Beckedorff lobt er Ludwigs Gemälde, merkt dabei aber an, daß es noch nicht die Qualität der Bildnisse erreicht, »wie die ältere Deutsche, Holländische und Italiänische Schule sie zeigen«.[26] Hier wird deutlich, daß die Beiträge zu den »Abendblättern« nicht als private Äußerungen ihrer Autoren aufgefaßt werden dürfen: Sie haben im Rahmen der Zeitung eine Funktion, die von ihrem Autor weitgehend unabhängig ist. Es ist dem Herausgeber und seinen Beiträgern in erster Linie um kontroverse Debatten zu tun, um die Verbreitung gegensätzlicher Standpunkte, die nicht jeder für sich auf einen selbständigen Autor angewiesen sind. Die »Abendblätter« haben keine Autoren im eigentlichen Sinn, sondern eine Art Agenten, die verschiedene Positionen vertreten. Konsequenterweise zeichnen die Verfasser auch nicht mit ihren Namen, sondern mit Chiffren. Kleist verwendet deren 27, Achim von Arnim immerhin noch fünf. In Kleists Epigramm »Nothwehr« ist dieses Verfahren in gedrängter Form beschrieben. Insofern ist es aus der Sicht eines Kleist- oder Arnim-Editors zwar verständlich, wenn versucht wird, die Autorschaft für einzelne Gedichte nachzuweisen, aber man muß sich dabei bewußt sein, daß eine solche Festlegung den Absichten der »Abendblätter«, d. h. ihres Herausgebers und ihrer Redakteure, gänzlich unangemessen ist. Das Arbeiten mit vielen verschiedenen Chiffren, über das sich Heinrich Aretz in seinem Buch »Heinrich von Kleist als Journalist« so wundert,[27] ist keineswegs eine originelle Verfahrensweise, sondern eine durchaus gebräuchliche Zeitungspraxis (die es auch mit umgekehrten Vorzeichen gibt: verschiedene Autoren schreiben unter derselben Chiffre). In den »Abendblättern« ist das Spiel mit den Siglen nur besonders geschickt eingesetzt. Kritik an den politischen Zuständen wird in den »Abendblättern« nicht nur in verschlüsselter Form geübt. In manchen Gedichten wird sie überraschend deutlich ausgesprochen - aber nur in solchen, die sich mit unverfänglichen Themen zu befassen scheinen. Arnims Rätsel auf ein Bild der Kunstausstellung ist ein Beispiel dafür. Es scheint von nichts anderem als eben dem Gegenstand zu sprechen, der im Titel genannt wird. Doch die Formulierung »du sinkend armes Jahr« im ersten Vers des zweiten Quartetts deutet nicht nur auf den Herbst und das sich seinem Ende zuneigende Jahr 1810; sie ist auch eine versteckte Klage über die politische Situation der Zeit unter der anhaltenden Herrschaft Napoleons. Es ist allerdings typisch für den Aufbau der »Abendblätter«, daß der hohe und ernsthafte Ton dieses Sonetts sogleich durch die Tagesmeldung über einen betrügerischen Torfhändler relativiert wird.[28] - Ähnlich wie Arnims Kunstgedicht enthalten auch Clemens Brentanos Verse auf den Tod Philipp Otto Runges im 69. Blatt vom 19. Dezember 1810 solche leisen Anspielungen.[29] Die Klage über die Zeitumstände - es ist die Rede von »dieser Sündentrunknen Zeit«[30] und »der Zeiten trauriger Verwirrung«[31] - scheint, wie der Kontext nahelegt, allein auf die bildende Kunst bezogen, aber wer darin einen aktuellen politischen Kommentar vernehmen will, kann auch durch die Zensur nicht daran gehindert werden. Kleist hat die »Abendblätter« auch dazu genutzt, seine eigenen, früher und in anderem Zusammenhang gedruckten Gedichte zu kommentieren oder zu parodieren. So sind die beiden »Legenden nach Hans Sachs«[32] auch als volkstümliche Gegenentwürfe zu dem feierlich-hochtönenden Gedicht »Der Engel am Grabe des Herrn« aus dem »Phöbus« zu verstehen, und die »Charade« »Der Jüngling an das Mädchen« im 57. Blatt der »Abendblätter« (5. Dezember 1810)[33] erscheint als scherzhafte Kontrafaktur zu den hochartifiziellen Gedichten »Jünglingsklage« und »Mädchenrätsel«, die ebenfalls im »Phöbus« erschienen waren. Helmut Sembdner, der nachzuweisen versucht hat, daß Kleist der Autor dieses Scherzrätsels ist, hat das Gedicht in seinem Aufsatz »Neuentdeckte Schriften Heinrich von Kleists« als »anspruchslosen Lückenbüßer« bezeichnet und dieses Verdikt auch im Stellenkommentar seiner Ausgabe wiederholt,[34] wo es nun wirklich nichts verloren hat. Klaus Müller-Salget schließt sich dem im Kommentar der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags an: »Es handelt sich, wie Sembdner schreibt, um einen anspruchslosen Lückenbüßer [...], vielleicht eingefügt statt eines von der Zensur gestrichenen Beitrags, worauf auch die vergleichsweise großen Lettern hindeuten«.[35] Abgesehen davon, daß das Gedicht in den gleichen Lettern gedruckt ist wie viele andere Gedichte in den »Abendblättern«, geht das Etikett »Lückenbüßer« ins Leere: Selbst wenn es sich um nicht mehr als einen solchen handeln sollte, wäre eben dies auch eine »journalistische Funktion« eines Gedichts, wie sie zahlreiche andere Sinngedichte und Epigramme auch erfüllen. In diesen und anderen, jedenfalls aber journalistischen Funktionen gehörten die Gedichte von Anfang an zum eigentlichen Konzept der »Abendblätter«. Das zeigt sich ex negativo in dem Umstand, daß sie im zweiten Jahrgang fast völlig fehlen; dort gibt es nur noch ein Sonett von Arnim, das seinen Artikel zum Tod Fernows beschließt.[36] Die »strengste Zensur«, der die »Abendblätter« nach den Kabinettsordern vom 18. November 1810 und 25. Februar 1811 unterworfen waren,[37] verhinderte die Aufnahme kritischer Artikel, so daß schließlich weite Teile des Blattes aus anderen Zeitungen abgeschriebene Meldungen enthielten. Das intellektuelle Spiel mit den Gedichten, die von heiklen Artikeln ablenken sollten oder selbst in verrätselter Form zensurfeindliche Inhalte vermittelten, war damit überflüssig geworden. |
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