Dienst am Dichter

 

Notiz zu Klaus Heinrichs Mitwirkung an der Druckgeschichte der 1988 erschienenen Edition »Die Verlobung in St. Domingo«

 

H. v. Kleist, Brandenburger/Berliner Ausgabe, Die Verlobung in St. Domingo. Hrsg. v. Roland Reuß und Peter Staengle (1988), Umschlag

Abb. 1: Leinenumschlag der Edition

Für die Präsentation des ersten Bandes unserer Kleist-Ausgabe am 28. August 1988 im Berliner Literaturhaus in der Fasanenstraße hatten KD Wolff und Michel Leiner von der Druckerei zwanzig handgebundene Vorabexemplare für die Presse und die Herausgeber in Auftrag gegeben, die auch tatsächlich am 27. August geliefert worden waren. Die Herstellung lag damals noch in den Händen der Fuldaer Verlagsanstalt (ab 1991 begannen wir dann, die Druckvorlagen selbst anzufertigen, weil der Satz der »Penthesilea«-Handschrift nicht mehr durch eine konventionelle Druckerei im Lichtsatz zu leisten war).

Abb. 2: Impressumsseite am Ende des Bandes

H. v. Kleist, Brandenburger/Berliner Ausgabe, Die Verlobung in St. Domingo. Hrsg. v. Roland Reuß und Peter Staengle (1988), Impressumsseite, Detail

Abb. 3: Impressumsseite (Detail)

Peter, KD, Michel, Doris Kern, Janis Osolin und ich hatten den Band sicher mehr als fünfzig Mal Korrektur gelesen, und als er in den Druck ging, waren wir davon überzeugt, alles Menschenmögliche getan zu haben, die Ausgabe fehlerfrei ausliefern zu können (und tatsächlich ist bis heute nichts gemeldet worden, was unser positives Gefühl beim damaligen Imprimatur in Frage gestellt hätte).

Wir waren guter Dinge und stolz, daß bis dahin alles so auf den Punkt genau geklappt hatte. KD hatte Klaus Heinrich gleich bei seiner Ankunft in Berlin (West-Berlin damals noch) besucht und ihm eines der zwanzig Vorabexemplare überreicht. Heinrich interessierte sich von Anfang an sehr für die Edition.

Am Vorabend der Präsentation (es war gutes Wetter und wir saßen mit Michael Rohrwasser, KD und anderen im Garten des Literaturhauses) geschahen zwei Sachen, die an unseren Nerven zerrten.

Zunächst – aber das ist eine Geschichte, deren Weiterungen ich nicht heute erzählen kann – kam die für Berlin zuständige, uns bis dahin nur namentlich, aber nicht persönlich bekannte Kulturredakteurin der FAZ an unseren Tisch und brachte ihre Entrüstung darüber zum Ausdruck, daß der damalige Präsident der Kleist-Gesellschaft ihr gedroht habe, sie niemals mehr zu Tagungen der Kleist-Gesellschaft einzuladen, wenn sie über unsere Veranstaltung im Literaturhaus für die FAZ berichte (was sie dann aber, gleich am Montag, wegen dieser Drohung erst recht tat).

Wir begannen damals erst zu begreifen, in was für ein Wespennest wir mit unserer Ausgabe gestochen hatten. Es gab da die Leiche einer seit 1968 von der DFG geförderten kritischen Kleist-Ausgabe, von der nie ein Band erschienen war (und über die mehr oder weniger alle bekannteren Kleist-Forscher ihre schützende Hand gehalten hatten).

In einer Kontroverse Ingeborg Harms’ mit Walter Müller-Seidel, die in den MLN ausgetragen wurde (Vol. 108, No. 3, German Issue, April 1993, 605-610), sind die Daten dieser Phantom-Ausgabe in der Berichterstatterprosa der DFG-Berichte noch einmal in Erinnerung gerufen worden (diese Publikation in der MLN hatte übrigens zur Folge, daß die DFG bald darauf diese Art von Berichten nicht mehr publizierte).

Von den Vorgängen der sechziger und siebziger Jahre hatten wir zum Zeitpunkt unserer Literaturhauspräsentation keine große Ahnung. Ich setze die Übersicht, die 1993 in der MLN als Anhang publiziert wurde, hierhin, damit man einen Eindruck davon hat, was 1988 der Stand war und womit wir zu tun hatten.

Übersicht Förderung Kleist-Ausgabe

Abb. 3: Übersicht über die Förderung der vor-BKA Kleist-Ausgabe(n) 1963–1988

Etwas später an diesem Abend kam dann der zweite Schock in Gestalt eines Telefonats, das KD mit Klaus Heinrich führte. Heinrich hatte den ihm von KD überreichten Band gleich gelesen und etwas entdeckt, was für unseren Eröffnungsband bei seinem Erscheinen mit Sicherheit fatal geworden wäre – wenn nicht die unglaubliche Aufmerksamkeit (und die Leseneugier) Heinrichs dazwischengekommen wäre.

Der Text, den wir zum Druck freigegeben hatten, wies auf Seite 78 folgenden Wortlaut auf (ich zeige zunächst die ganze Seite, dann die Stelle so, wie wir sie bei jedem Korrekturvorgang bestätigt hatten):

H. v. Kleist, Brandenburger/Berliner Ausgabe, Die Verlobung in St. Domingo. Hrsg. v. Roland Reuß und Peter Staengle (1988), 78

Abb. 4: Die Verlobung in St. Domingo, BKA IV/2, 78 (Herstellung Fuldaer Verlagsanstalt)

H. v. Kleist, Brandenburger/Berliner Ausgabe, Die Verlobung in St. Domingo. Hrsg. v. Roland Reuß und Peter Staengle (1988), 78 (Detail)

Abb. 5: Die Verlobung in St. Domingo, BKA IV/2, 78 (Detail)

Hier war alles in Ordnung, aber das war nicht der Text, den Klaus Heinrich gelesen, das war nicht der Wortlaut, der ihn alarmiert hatte und ihn dazu brachte, KD anzurufen. In den zwanzig handgebundenen Vorabexemplaren, von denen der einzige (einzig in jedem Wortsinn) und erste externe Leser Klaus Heinrich eines besaß, war nämlich wie von Zauberhand ein Wort ersetzt:

H. v. Kleist, Brandenburger/Berliner Ausgabe, Die Verlobung in St. Domingo. Hrsg. v. Roland Reuß und Peter Staengle (1988), 78 (Detail mit Druckvariante)

Abb. 6: Die Verlobung in St. Domingo, BKA IV/2, 78 (Druckvariante in zwanzig Exemplaren)

KD, Peter, ich, alle Beteiligten waren wie paralysiert. Nachdem die Kulturkorrespondentin der FAZ uns die Verfahren des Kampfs einer uns wenig, im Grunde fast gar nicht vertrauten Gegenseite so drastisch vor Augen geführt hatte, teilten wir an diesem Abend eine ganze Weile die Überzeugung, es könne sich bei diesem textuellen Fatalwunder nur um das Ergebnis einer Intervention der feindlichen Mächte handeln (wir waren noch ziemlich jung …). Wir sahen schon die bestellten Rezensionen mit solchen Titeln wie »Roter Stern mordet Dichter« usw. leibhaft vor uns. Und was konnte man noch machen? Es war, natürlich, Samstag …

KD gelang es irgendwie noch an diesem Abend, die weitere Verarbeitung des Eröffnungsbandes unserer Edition in der Buchbinderei zu stoppen. Der fünfte Bogen wurde dann in der folgenden Woche auf Kosten der FVA neu gedruckt. Keine Spur mehr verriet der Öffentlichkeit, wie knapp an dieser Stelle unsere Ausgabe – dank der Aufmerksamkeit Klaus Heinrichs – gerade noch einem großen philologischen Malheur entronnen war.

Nach und nach rekonstruierten wir, was sich tatsächlich zugetragen hatte. Es waren keine Machinationen finsterer Mächte (es gab allerdings, wie wir in den nächsten Jahren bei anderen Gelegenheiten erfahren sollten, wirklich solche!) am Werk gewesen.

Die Setzerin hatte in ihrem System während des Drucks (Lichtsatz) die Seite zerschossen und sie dann noch einmal neu eingegeben. Das System UBW hatte ihr dabei den Ersatz von »Diener« durch »Dichter« in die Tasten fließen lassen (und, klar, Kleist war Dichter …) und beim Korrigieren war ihr dann auch nichts mehr aufgefallen.

Als ich mich mit Heinrich am nächsten Morgen nach unserer Veranstaltung (sie begann um 11 Uhr, wenn ich mich noch recht erinnere, und Heinrich kam äußerst pünktlich) unterhielt, hatte ich noch alle schrecklichen Phantasien über potentielle Übeltäter in meinem Kopf (ich habe selten so wenig geschlafen wie damals).

Ich wußte nicht recht, wie ich mich angemessen bedanken sollte und brachte den Dank nur sehr schüchtern über die Lippen. Er antwortete sehr freundlich und entgegenkommend, indem er von seiner Freude beim Wiederlesen des Kleist-Texts sprach und uns alle Kraft für die kommenden Bände wünschte, er freue sich sehr auf sie.

Erst nach und nach habe ich diesen Wunsch dann besser zu verstehen gelernt.

Roland Reuß, 25. November 2020