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Ungute wissenschaftliche Praxis Zu Bernd Hamachers
Studienausgabe des
»Zerbrochnen Krugs« im Reclam-Verlag. Daß der an der Universität Hamburg lehrende
Privatdozent Bernd Hamacher,
wie er in der FAZ vom 16. April schrieb, »bis zum 29. März […] ein
unbescholtener Germanist« war, wird niemand in Zweifel ziehen wollen
und auch nicht, daß er das weiterhin ist. Nun hat er allerdings im
Reclam-Verlag Kleists Lustspiel ›Der zerbrochne Krug‹ in einer
›Studienausgabe‹ vorgelegt und damit sich vielleicht nicht einer
Schuldvermutung, mindestens aber dem starken Verdacht ausgesetzt,
wissenschaftlich, sagen wir vorläufig: unkorrekt gearbeitet zu haben.
Der Münchner Rechtswissenschaftler Volker Rieble war es, der als erster
in einem FAZ-Beitrag (»Ein Editionsplagiat bei Reclam?«) vom 29. März
stupende Übereinstimmungen zwischen Hamachers Text und der
»Krug«-Edition der ›Brandenburger Kleist-Ausgabe‹ (BKA) herausgestellt
und anhand exemplarischer Abbildungen sinnfällig gemacht hatte. »Sollte
es sich«, fragte Rieble, »um den respektlosen Versuch eines
Privatdozenten handeln, der eine fremde Vorlage abkupfert und dann
recht unverfroren eine eigene editorische Leistung behauptet?« In der
›Neuen Zürcher Zeitung‹ vom 7. April äußerte sich Joachim Güntner
bereits deutlicher, indem er darauf abhob: »Hamacher folgt diesem
Vorbild [i.e. der BKA] mit einer drucktechnisch vereinfachten, im
Wesentlichen aber identischen Edition.« Spätestens hierauf machten nun Hamachers Verteidiger publizistisch mobil. Jens Bisky, Kleistbiograph und Vorstandsmitglied der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, sprach in der ›Süddeutschen Zeitung‹ (20. April) von »haltlosen Vorwürfen« und »einer polemischen Luftnummer«, im Internet-Organ ›Literaturkritik.de‹ (Mai 2012) erklärte ein Michael Ott dem Publikum nochmals sehr allgemeinverständlich den Unterschied zwischen Gleichem und Selbem bei Editionen, und schon in der TAZ (19. April) hatte man von der Sache selbst wenig, dafür umso mehr von einer Verschwörung lesen können, wonach Riebles Artikel »allem Anschein nach in Abstimmung mit dem Versuch eines juristischen Vorgehens von Roland Reuß gegen den Reclam-Verlag formuliert« worden sei. Eine Woche später legte die TAZ noch einen drauf. Mittlerweile hatte sich die Auseinandersetzung auf die richtige Entzifferung einer einzigen Stelle in der Handschrift zugespitzt. Steht in der Handschrift »hier der Krug nur«, wie seit Theophil Zolling (1885) über Erich Schmidt bis zur BKA gelesen wird, oder »hier den Krug nur«, wie Hamacher liest? Die TAZ, editionsphilologisch ambitioniert, holte sich Sachverstand beim Vorsitzenden des Bundes für deutsche Schrift und Sprache e.V., der sich selbst in die Brust und sein Auge auf die Stelle warf, der Kleistforschung aufhelfend zugunsten »den Krug« entschied und unmißverständlich befand: »Darüber läßt sich nicht streiten.« Doch, darüber läßt sich streiten. Wie auch über etliche andere Stellen der Handschrift, die für den besagten Vorsitzenden eindeutig sein mögen, es tatsächlich aber nicht müssen (Seiten- und Zeilenzahl Hamacher; bspw. 114,20, 153,36, 163,30, 165,29, 178,29, 185,11). Die Probleme, die solche Stellen bereiten, lassen sich beim Studium der BKA anhand der Faksimiles durchaus erkennen, bei der Reclam-Studienausgabe muß man Hamachers Lesekünsten blind vertrauen. Und die sind eher schwach, sofern man nicht annehmen möchte, Hamacher, der sich im FAZ-Artikel seiner »langjährigen Beschäftigung mit Kleists Drama« rühmt – auch mit der Handschrift? –, sei vom Verlag angesichts des heranrückenden Kleistjahres dazu ermuntert worden, mit heißer Nadel zu stricken. Die Sache ist zu ernst, um sich darüber zu mokieren, daß bereits der zweite Vers danebengegangen ist: »Was ist mich euch geschehn? […]« (111,8) – Kleist hatte bekanntlich seine Marotten, aber »mich« und »mit« konnte er sehr wohl unterscheiden. Weitere Beispiele: »Da« statt »Das« (114,25), »Cerubim« statt »Cherubim« (115,14), »Scheune« statt »Scheuer« (118,11), »jitzo« statt »jetzo« (118,25), »Teuffel« statt »Teufel« (150,4), jeweils gestrichen »warum« statt »warm« (160,15), »Lebrecht« statt »Leberecht« (164,24), »aufgeführet« statt »aufgeführt« (182,1), »Perücke« statt »Perücken« (191,4), »Fängen« statt »Fängern« (192,31) usw. Bei einmaliger Durchsicht bin ich auf nahezu 40 Lesefehler gestoßen; Einzüge bei manchen Halbversen sind nicht wiedergegeben (bspw. 114,6, 115,19, 118,16, 173,28, 203,25), Unterstreichungen übersehen (112,35, 113,1, 138,13, 138,19), Apostrophe nicht erkannt (115,31, 204,22, 205,11) und Sonstiges. * Angesichts derartiger Mängel – und überhaupt – fällt es zunächst schwer zu verstehen, was Hamacher damit meint (Anhang zur Studienausgabe, S. 235), seine Transkription folge der Faksimileausgabe Paul Hoffmanns von 1941 und sei »nach dem Original und nach der BKA« kollationiert worden: »In wenigen, die Textbedeutung nicht berührenden Fällen ergaben sich dabei andere Lesungen.« Sonderlich sorgfältig ist diese Kollation nicht gewesen – sofern Hamacher das in Berlin aufbewahrte Original tatsächlich studiert hat –, denn an einigen Stellen der Hoffmannschen Ausgabe scheinen Satzzeichen und Apostrophe zu stehen, die sich beim Studium der Handschrift als Tintendurchschläge erweisen und von Hamacher nicht erkannt worden sind (bspw. das Ausrufezeichen 187,5) – auch könnte man fragen, wie der lange Bindestrich in »Himmel–Donner« (184,9), kein typographisch gebräuchlicher Divis, zustandegekommen ist; BKA-Scan? Möglicherweise vermag der Typograph Friedrich Forssmann, auf den sich Hamacher im FAZ-Artikel beruft und der für Reclam neue Kleider geschneidert hat, hierzu Auskunft zu geben. Und bei dieser Gelegenheit auch gleich noch das Rätsel auflösen, weshalb die ›Studienausgabe‹ – wie vor ihr die BKA – als Auszeichnungsschrift ausgerechnet die im heutigen Buchdruck so gut wie nie eingesetzte Bodoni verwendet. * Zwischenbemerkung: Aufgrund solcher Mängel und folglich Differenzen gegenüber der BKA wird man den Autoritäten vielleicht beipflichten können, die Hamacher in seinem FAZ-Artikel bemüht: »Für Fachleute wie den Kleist-Forscher Klaus Müller-Salget« sowie den bereits Genannten Forssman und Ott »ist an diesen [Plagiats-]Vorwürfen nichts dran.« Daß Hamacher, wie er schreibt, bei seiner »Transkription der Handschrift an einigen [!] Stellen zu anderen Lesungen gekommen« ist als die BKA, ist wahrscheinlich kein Indiz für Täuschungsverschleierung, sondern schlicht Ausfluß von Leseschwäche, mangelnder Sorgfalt bei der Kollation und editorischem Leichtsinn. Gleichwohl ist damit die von Rieble aufgeworfene Frage »Ein Editionsplagiat bei Reclam?« noch keineswegs mit Nein beantwortet. Denn man kann sich angesichts der erwähnten Mängel unschwer vorstellen, wie die ›Studienausgabe‹ geraten wäre, hätte Bernd Hamacher sich nicht ausgiebig bei der BKA bedient. * Und mehr als ausgiebig, genauer: In der ›Studienausgabe‹ ist, von deren Fehlleistungen abgesehen, praktisch nichts zu finden, was nicht auch in der BKA vorhanden ist. Einziger Unterschied: Hamachers vereinfachte Darstellung, quasi BKA 1.0 als abgespeckte Version: »Aus darstellungstechnischen Gründen und aufgrund der unterschiedlichen Zwecksetzung der Ausgabentypen wird dem Beispiel der BKA hier nur ansatzweise gefolgt.« (Anhang zur Studienausgabe, S. 232) Allein, die Einschränkungsformel »ansatzweise«, die lediglich besagen soll, daß Hamacher manches aus der BKA wegläßt, ist nicht hinreichend, einen Plagiatsvorwurf aus der Welt zu schaffen. Bloßes Weglassen einiger Auszeichnungen schafft kein neues Werk. * Hier wäre der Verlag gefordert gewesen, um Hamacher zu schützen. Stattdessen wird Reclam-Chef Frank Rainer Max in der TAZ mit der Aussage zitiert: »Uns hat Hamachers Interpretation der Überlieferung des Stückes mehr eingeleuchtet als die von Roland Reuß.« Ist das dahingehend zu verstehen, daß Reclam das Manuskript allein aufgrund der Interpretation verlegt hat, ohne es von seinem Lektorat gründlich prüfen und revidieren zu lassen? Einen solchen Eindruck kann man durchaus gewinnen, wenn man die Darstellungsweise (»eine möglichst leserfreundliche Darstellung«, Anhang S. 232) in der ›Studienausgabe‹ näher betrachtet, zu der es programmatisch heißt: »Die Grundschicht und alle Änderungen können durch die diplomatische Darstellung nachvollzogen und rezipiert werden.« (Anhang, S. 233) Nein, das ist nicht der Fall, bei weitem nicht alle Änderungen, sowenig wie »ganz Gallien«. Zum Beispiel die längere, nachträglich gestrichene Passage S. 138, darin: »Müßt’ ich auf ewig jetzo dich verlieren? von dir Abschied nehmen?« (138,11f.); wer vermag zu erkennen, welchen Status die halbfett gesetzte Formulierung hat, ist sie Zusatz oder Ersetzung? Die Streichung gibt lediglich wieder, daß der Schreiber die Passage als Ganze verworfen hat, nicht aber, daß der halbfette Versteil zuvor anstelle von »jetzo dich verlieren?« geschrieben worden war. Ähnlich unpräzise ist die Behandlung von Überschreibungen, die vereinzelt notiert (bspw. 114,24, 157,23, 157,24, 196,2), größtenteils nicht notiert sind. Bei Änderungen am Beginn eines Verses, die Großschreibung nach sich ziehen, ist das besonders prekär; so wäre etwa, nach Hamachers System, S. 170,21 so darzustellen: »Ich will’s, fFrüh oder […]« anstatt »Ich will’s, Früh oder […]« (analog bspw. 180,8, 183,27, 183,28, 198,31). Einige weitere Beispiele für
Ungenauigkeiten oder Inkonsequenzen der
Handschriftendarstellung in der ›Studienausgabe‹: * Nun könnte man sich fragen, wer mit der ›Studienausgabe‹ mehr überfordert war, der Herausgeber oder das Lektorat. Und des weiteren, was die Motive dafür sind, daß keiner von Hamachers Fürsprechern, die angeführten Fachleute wie die Journalisten von Süddeutscher und TAZ, auch nur ein einziges kritisches Wort über diese Edition geäußert hat. Beide Fragen scheinen mir eng miteinander verbunden. Daß die Artikel von Rieble und Güntner für die Karriereplanung des Herausgebers und das Ansehen von Reclam ungünstig sein können, ist verständlich und deshalb auch die Verteidigungsfront in Sachen Plagiat. Das darf jedoch nicht dazu führen, wissenschaftliche Standards aus dem Blickfeld zu verdrängen, die mindestens ebensosehr auf dem Spiel stehen und von einer Studienausgabe mit Recht in Anspruch genommen werden wollen. Wenn Hamacher, wie bereits erwähnt, schreibt, seine Transkription folge dem Hoffmannschen Faksimile und sei »nach dem Original und nach der BKA« kollationiert worden, heißt das nichts anderes, als daß er die Transkription der BKA und Kleists Manuskript für gleichrangig hält – notabene die Transkription, denn welchen Sinn sollte es haben, nach einem Faksimile als Arbeitsgrundlage und der Kollation der Handschrift abermals ein Faksimile zu konsultieren? Für die ›Studienausgabe‹ mag eine solche Nobilitierung der BKA unter Marketingaspekten zweckdienlich sein, für Hamacher ist sie ein großes Problem. Er hat nämlich die Beweislast für die Selbständigkeit seiner Ausgabe zu tragen, also mit den Mitteln seiner Edition überzeugend nachzuweisen, daß sie von der BKA, die erstmals das »Krug«-Manuskript vollständig in diplomatischer, die Varianten standgenau nach Schichten differenzierender Umschrift ediert, nicht abgeleitet ist. Den Nachweis, die Textschichten ausschließlich aus der Handschrift entwickelt zu haben, bleibt Hamacher schuldig. Nicht nur, daß er, linear vereinfachend (»möglichst leserfreundliche Darstellung«), die in der BKA angewandte Methode der Schichtendarstellung kopiert. Vor allem übernimmt er von der BKA die dort geleistete Schichtenanalyse und Identifizierung von Varianzverhältnissen. Was Hamacher als Grund- und Überarbeitungsschichten ausweist, ist von der BKA erarbeitet worden. Und so rühmt er im Anhang zu seiner Ausgabe die BKA denn auch dafür, daß deren Darstellung »in Bezug auf die Textgenese mit guten Gründen zurückhaltend« sei – nicht anders als seine von der BKA entlehnte Darstellung. * Ob Bernd Hamacher gegen geltendes Recht verstoßen hat, darüber können nur Juristen entscheiden. Wenn aber zu guter wissenschaftlicher Praxis die Verpflichtung gehört, das verwendete Material zuverlässig zu dokumentieren sowie die Leistungen anderer nicht zum eigenen Vorteil auszunutzen, hat er seiner Reputation als Editor mit dieser ›Studienausgabe‹ einen wahren Bärendienst erwiesen. Reclam hat ihn daran nicht nur nicht gehindert – sondern verdient mit solch wissenschaftlich zweifelhaften Editionen Geld. Wenn das zulässig ist, dürfen wir uns auf viele ›Studienausgaben‹ des Hauses Reclam freuen, die alle erhältlichen historisch-kritischen Editionen in einer vereinfachend-lesefreundlichen Ausgabe ›kollationierend‹ wiederholen. Für Privatdozenten ergäbe sich ein ebenfalls lohnendes ›Geschäftsmodell‹: Um mit wenig Aufwand durch bloße Umarbeitung dem Druck des ›publish or perish‹ zu entgehen. 7. Juni 2012
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