enchiridion

Herausgeber von Handbüchern bedienen ein anspruchsvolles genus. Und Verlage, die Handbücher verlegen, haben eine große Verantwortung. Sollen doch Handbücher möglichst sine ira et studio und mit methodischer impassibilité – wie man früher sagte: objektiv – den Stand der Forschung darstellen. Handbücher bieten sozusagen eine Momentaufnahme dessen, was im Augenblick ihrer Redaktion state of the art ist. Nicht nur minimale, maximale wissenschaftliche Standards einzuhalten, ist ihre vornehmste Pflicht. Und darüber zu wachen, daß das auch passiert, ist Sache des Lektorats jenes Verlags, der solche Handbücher in die Welt schickt.

Nun gelingt das manchmal besser, manchmal schlechter, das ist der Welten Lauf. Im Falle der Kafka-Philologie ist für Handbücher ein sehr hoher Standard gesetzt durch die zwei Bände, die Hartmut Binder 1979 beim Kröner Verlag herausgegeben hat. Dieser Meilenstein der Kafka-Forschung schaffte es mit Bravour, den Stand der Kenntnisse zu Kafka für die späten siebziger Jahre ausgewogen, nüchtern und informativ zusammenzufassen – wiewohl ganz unterschiedliche Forscher (und, durch sie vertreten, unterschiedliche Forschungsrichtungen) an ihm mitwirkten. Die Bibliographien und Register, die Binder redaktionell überwachte, klammerten niemanden aus, und obschon Binder einen bestimmten Ansatz, nennen wir ihn: den biographischen, repräsentierte, konnten auch abweichende Strömungen der Kafka-Forschung sich nicht darüber beklagen, nicht zu Wort gekommen zu sein.

Man sollte nun annehmen, daß ein Kafka-Handbuch, das im Jahre 1994-2010 zu Kafkas 125. Geburtstag erscheint, sich dieser noblen Art einer Handbuchkonzeption verpflichtet fühlt und sich bemüht, möglichst unparteiisch den Horizont der aktuellen Kafka-Diskussion auszuleuchten. Was wir aber mit dem von Bettina von Jagow und Oliver Jahraus herausgegebenen

Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1994-2010)

vorliegen haben, ist eine Unternehmung, die die Macht, die ihr die Redaktion eines Handbuchs verleiht, für den Versuch einsetzt, Strömungen der Forschung, die ihr nicht ins Konzept passen, durch simples Ignorieren aus der Welt zu schaffen.

Es ist bekannt, daß Peter Staengle und ich seit 1995 ein über die engeren Fachgrenzen und auch über den deutschen Sprachraum hinaus bekanntgewordenes Editionsprojekt, die Historisch-Kritische Franz Kafka-Ausgabe, betreiben. Von dieser Ausgabe lagen zum Redaktionsschluß des Handbuchs vor (tutto in etwa 2000 Seiten):

1. Der Einleitungsband;
2. die Modell-Edition dreier Milena-Briefe;
3. die Edition der „Beschreibung eines Kampfes“
bzw. „Gegen zwölf Uhr […]“;
4. die Edition der ersten beiden Oxforder Quarthefte;
5. die Edition von „Die Verwandlung“;
6. die Edition von „Der Process“;
7. die Edition der ersten beiden Oxforder Oktavhefte

Das erste Mal, daß einem die eigentümliche Tendenz des von Jagowsch/Jahr­aus­schen Handbuchs auffällt, unsere Ausgabe aus dem Bild der Kafka-Forschung so herauszuretuschieren wie weiland Trotzki aus dem bekannten Foto mit Lenin, ist das Siglenverzeichnis, das dem Handbuch vorangestellt ist. Es umfaßt zweieinhalb Seiten und listet penibel nicht nur alle Lieferungen der Fischer-Ausgabe, sondern sogar jeden Band der Brod-Edition sowie Publikationen von Binder und Klaus Wagenbach auf. Die FKA kommt nicht vor. Die Begründung – vermutlich kann ich nur sagen, denn „solche Geschäfte werden beiderseits mit niedergeschlagenen Augen am besten abgewickelt“ – findet sich auf Seite 10 im Vorwort der Herausgeber: „Wo immer möglich, wurde mit der Kritischen Kafka Ausgabe [gemeint ist die von S. Fischer] gearbeitet“. Warum das so ist, wird nicht erläutert. Ist aber die Frage, mit welcher Ausgabe gearbeitet wird, tatsächlich gewissermaßen nur eine Frage des Geschmacks? Oder weil die Wolken heute gerade von Westen nach Osten ziehen? Käme es nicht vielmehr darauf an, Thesen und Einsichten eines Handbuchs an jener Ausgabe zu instantiieren, die den materiellen Gegebenheiten der Überlieferung jeweils am angemessensten ist?

Besonders kritisch finde ich in diesem Zusammenhang drei Artikel, an denen ­sich der Versuch des Handbuchs, unsere Ausgabe aus dem Kontext des zeitgenössischen Kafka-Bildes zu löschen, am sinnfälligsten zeigt.

Da ist einmal der Artikel von Hans H. Hiebel zu „Der Proceß [sic] / Vor dem Gesetz“, S.456-477, ein Text mit immerhin 69 Fußnoten. Man sollte denken, daß ein Eintrag zu diesem Thema die Problematik zumindest streifen sollte, die durch das Erscheinen unserer Edition von „Der Process“ (1997) mit über 600 Seiten manifest wurde und die dazu geeignet ist, die konventionellen (die dekonstruktivistischen eingeschlossen) Interpretationen ansatzweise zu irritieren. Fehlanzeige. Wenn man aber schon meint, diese Irritation in einem Handbuch unerwähnt lassen zu können, wäre doch wohl das Minimum an wissenschaftlicher Information, darauf hinzuweisen, daß es unsere Edition vonDer Process“ überhaupt gibt. Fehlanzeige. Die FKA kommt nicht vor. Man tut so, als habe sich seit Brod und Pasley nichts geändert, und interpretiert bewußtlos (oder bewußt ignorant) eine Textbasis, die haltlos ist: ein Handbuchartikel als Dokument von Realitätsverweigerung. Wäre die vorliegende Publikation ein Handbuch für Mediziner, würde rasch auffliegen, daß ein vergleichbarer Artikel auf falschen Laborproben basiert.

Nicht ganz darum herum, unsere Ausgabe anzuzeigen, kam man beim insgesamt zu kurz geratenen Artikel „Kafka-Editionen: Nachlass und Editionspraxis“, der von Annette (Schütterle-)Steinich bestritten wird. Man sollte annehmen, daß zumindest dort die bis 1994-2010 erschienenen Bände unserer Ausgabe, wenn schon nicht geschätzt, so doch wenigstens bibliographisch vollständig aufgelistet werden. Fehlanzeige. Steinich darf statt dessen zum wiederholten Male kritisch gegenüber unserer Ausgabe ins Feld führen, daß sie keine Farbfaksimilierung bietet (o dio – wir sind froh, wenn die pressure groups, die auch in diesem Handbuch am Werk sind, uns nicht davon abhalten, eine Schwarzweiß-Faksimilierung vorzulegen). Und: Wie klug ist eigentlich die Entscheidung, einen abwägenden Handbuchartikel über Kafka-Ausgaben von jemandem schreiben zu lassen, von dem man wissen kann, daß er von uns (unwissentlich) dabei gestört wurde, selbst eine Faksimile-Edition der Kafkaschen Oktavhefte vorzulegen?

Schließlich der Artikel der Herausgeberin von Jagow zu Kafkas „Landarzt“-Band. Daß das im Rahmen unserer Ausgabe 2006 von uns publizierte Faksimile des Erstdrucks dort nicht verzeichnet wird, war fast schon zu erwarten. Man sollte aber denken, daß ein Kafka-Handbuch davon Gebrauch macht, wenn denn einmal eine aktuelle Spezialbibliographie zu einem Erzählband Kafkas vorliegt. Der 2004 von Elmar Locher und Isolde Schiffermüller herausgegebene Sammelband „Ein Landarzt. Interpretationen“ enthält nicht nur zu jedem der Kafka-Texte eine Modellinterpretation (darunter auch eine sehr instruktive des von den Herausgebern ansonsten oft genannten Gerhard Neumann), er legt auch eine zweispaltig gesetzte und über neun Seiten sich erstreckende vollständige Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur zu „Ein Landarzt“ vor, die Martin Kölbel besorgt hat. Dieser Band wie auch die Spezialbibliographie, quelle surprise, kommt nicht einmal bibliographisch vor. Vielleicht weil Peter Staengle und ich gemeinsam mit Elmar Locher das zugrundeliegende Kolloquium angeregt hatten? Vielleicht weil ich diese, immerhin 306 Seiten starke, Publikation gesetzt habe? Vielleicht weil sich in diesem Band Aufsätze finden, die in das Interpretationskorsett von von Jagow nicht passen? Oder kennt sich Frau von Jagow einfach nur nicht gut aus? Was aber qualifiziert sie dann zum Schreiben eines Handbuchartikels über Kafkas wohl wichtigsten Erzählungsband?

Man sollte denken …, nein: Es wundert nun nicht mehr wirklich, daß im Register des immerhin 575 Seiten starken Bandes der Name meines Mitherausgebers Peter Staengle nicht auftaucht, meiner immerhin einmal. Wäre nicht die Notwendigkeit des Editionsartikels gewesen, ich wäre im Register ebenso vollständig verschwunden wie der gute alte Trotzki auf besagtem Foto (das ist dann bei der SuhrkampBasisBiographie zu Kafka von Andreas Kilcher realisiert worden).

Wie soll eigentlich die wissenschaftliche Legitimation jenes Faches, genannt Germanistik, wiederhergestellt werden, wenn Kampfpostillen, die nicht kämpfen, sondern nur noch ignorieren, als „Handbücher“ durchgehen? Das Kafka-Kompendium von von Jagow und Jahraus bietet ein perfektes Bild des heruntergekommenen Zustands unserer Disziplin. Gewiß, ich schreibe pro domo, und ja, ich ertrage diese Form von Ignoranz und Heuchelei nicht und wehre mich dagegen, aber damit ist die Frage nach der Wahrheit dessen, was ich hier moniere, keineswegs suspendiert. Mache jeder sich selbst ein Bild davon, ob die Vorwürfe berechtigt sind. Einfach so laufenlassen, das geht nicht. Man sollte – denken.

Roland Reuß

(aus TEXT 12/1994-2010)