Falscher Hebel beim Schuster Flink

 

Johann Peter Hebel, Der Schuster Flink. Unbekannte Geschichten. Mit einem Vorwort von Daniel Kehlmann herausgegeben und mit einem Nachwort von Heinz Härtl (Göttingen: Wallstein Verlag 1994-2010)

Unbekannte Geschichten von Johann Peter Hebel, ein beglückender Fund, eine kleine Sensation – dies verheißt der Buchumschlag unter dem Titel Der Schuster Flink. Das Bändchen vereinigt zwei Gruppen von Texten: Zwanzig Unterhaltungsstücke aus dem Provinzialblatt der Badischen Markgrafschaft (1805) und fünf Erzählungen, die der Berliner Preussische Volksfreund (1842) unter dem Namen J. P. Hebel abdruckte.

Im Provinzialblatt, eigentlich einem Organ der Verkündigung amtlicher Mitteilungen und privater Anzeigen, finden sich tatsächlich Texte von Hebel: anspruchslose gereimte Rätsel und Charaden, Erzeugnisse einer damals in Karlsruhe und anderwärts grassierenden gesellschaftlichen Mode. Zur Unterhaltung sind überdies eingestreut praktische Rezepte, Anekdoten und rührselige Geschichten von Unglück und Edelmut, all dies bleibt anonym. Sprache, Stil und Gestaltung, aber auch all das, was wir von Hebel, seinem Leben, Tun und Selbstverständnis wissen, führen kaum zu der Annahme, er könne neben den Rätseln journalistisch oder gar poetisch (mit dem unsäglichen Gedicht über das Klatschen) beigetragen haben.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Hebel erst einige wenige Prosastücke für den von seinem Gymnasium herausgegebenen Badischen Landkalender geschrieben, er war als erzählender Autor noch nicht hervorgetreten. Der Herausgeber des Bändchens räumt selbst ein, daß er keine Beweise für Hebels Autorschaft habe, und nimmt diese gleichwohl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an. »Welcher Autor sollte 1805 Der edelmüthige Landmann geschrieben haben, wenn nicht Johann Peter Hebel?«

Daß es vielleicht ein Schreiber außerhalb Karlsruhes war, kommt ihm nicht in den Sinn. Und da diese eine Geschichte von Hebel sein soll, sind die anderen »verdächtig«, dies auch zu sein. Und schließlich sei für alle oder die meisten der unterhaltenden Beiträge »nicht auszuschließen, daß Hebel an ihnen beteiligt war.«

In Wirklichkeit ist eben dies durchaus auszuschließen. Der erste der abgedruckten Texte ist zum Schluß gekennzeichnet mit der Buchstabenfolge »A.d.N.Z.d.T.« Der Herausgeber deutet dies richtig als Hinweis auf die Provenienz aus der National-Zeitung der Teutschen (Gotha). Hätte er jedoch in diese hineingeschaut, so wäre ihm kaum entgangen, daß diese Geschichte, wie auch drei andere, wortgetreu daraus in das Provinzialblatt übernommen wurden (Unglück und Rettung, Muthvolle Entschlossenheit, Hohes Alter und Der seltne Fall). Und ohne mühevolle weitere Suche darf vermutet werden, daß auch die übrigen Beiträge, schlichte, wenn auch anrührend akzentuierte Geschichten, wie sie von Gazetten und Kalendern dieser Zeit kolportiert und untereinander abgeschrieben wurden, aus anderen Organen übernommen waren.

Anders verhält es sich mit den fünf Erzählungen, welche der Herausgeber im Preussischen Volksfreund (Berlin 1842) fand. Sie waren dort mit der Autorschaft Hebels gekennzeichnet. Tatsächlich stammen zwei dieser Geschichten von Hebel und sind als solche wohlbekannt: Franziska (aus dem Kalender des Rheinländischen Hausfreunds von 1814) und Herr Charles (aus dem Almanach Rheinblüthen von 1819). Für den Volksfreund wurden diese Texte überarbeitet. Die drei anderen Stücke, darunter Der Schuster Flink, nach dem das Bändchen benannt ist, gehören nicht zum Textkanon Hebels. Sprache und Gestaltung sind deutlich unter dem Niveau, das von Hebel zu erwarten wäre. Aber der Herausgeber des neuen Fundes vertraut dem Volksfreund; er hält es gar für möglich, daß hier eine gemeinsame Quelle aller fünf Texte aufgetan sei, ein Manuskript oder bislang unbekannter Druck, und daß deshalb auch die verstümmelnde Redaktion der beiden bekannten Texte von Hebel herrühren könne.

Mit dieser Spekulation steht der Herausgeber des Bändchens indes gar nicht so fern der Wahrheit. Für die fünf Erzählungen, die der Volksfreund als Texte Hebels abdruckt, gibt es tatsächlich eine einheitliche Quelle: Es ist das bei Cotta in Tübingen herausgebrachte Morgenblatt für Gebildete Stände. Hier erschien am 13. November 1813 Franciska, als werbender Vorabdruck aus dem Kalender des Rheinländischen Hausfreunds 1814. Und im September 1818 findet sich Herr Charles, als Vorabdruck aus dem in Karlsruhe erscheinenden Almanach Rheinblüthen für 1819.

Ein Textvergleich ergibt, daß diese Drucke die Quelle für die Berliner Veröffentlichung waren, wenngleich sie hierfür redaktionell bearbeitet wurden. Und auch die drei anderen Erzählungen finden sich im Morgenblatt, im September 1815 als Vorabdruck aus dem Kalender des Rheinländischen Hausfreundes 1816. Übrigens noch eine vierte, die aber in Berlin nicht aufgenommen worden war und deshalb der neuerlichen Entdeckung entging.

Begleitet wurde der Vorabdruck mit folgender Anmerkung: »Auch dieser nächstens erscheinende Jahrgang [des Rheinländischen Hausfreunds] beweist, wie ganz unser geschätzter Volksdichter Hebel die Gabe der schlichten Erzählung, den ernsten und heiteren, naiven und rührenden Ton, in seiner Gewalt hat.« Solcher Hinweis auf Hebels Autorschaft war jedoch falsch und somit irreführend, aus welchem Grund auch immer er dorthin gelangt war. Hebel hatte wegen eines Zensurkonfliktes die Redaktion fast ein Jahr zuvor niedergelegt und mit dem Kalender 1816 nichts mehr zu schaffen, wenn dort auch noch zwei – allerdings andere – Stücke Hebels aus übrig gebliebenem Vorrat abgedruckt sind.

Daß der unter gleichem Titel weiter geführte Kalender des Rheinländischen Hausfreundes fälschlich in Zusammenhang mit Hebel gebracht wurde, veranlaßte diesen im Dezember 1816 sogar zu einer Anzeige in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung: »Unterzeichneter sieht sich zu der Erklärung veranlaßt, daß er an der Herausgabe des badischen Landcalenders, genannt der Rheinländische Hausfreund, zu welchem er von1808 bis 1815 die Lesestücke lieferte, keinen Antheil mehr nimmt.« Für den Redaktor des Volksfreund jedoch schienen die im Morgenblatt abgedruckten Texte insgesamt als solche Hebels ausgewiesen. Daß drei von ihnen bei genauerer Betrachtung nicht die Sprache und Gestaltung Hebels ausweisen, dafür aber Ansätze einer Hebel gänzlich fremden Deutschtümelei und, zumal im Schuster Flink, der Plattheit, hätte angesichts heutigen Wissens den Herausgeber der Neuentdeckung stutzig machen und von seinen Spekulationen abhalten sollen, auch wenn er die Provenienz aus dem Morgenblatt noch nicht wahrgenommen hatte.

So ist mit Bedauern festzustellen, daß vorliegendes Bändchen mit Ausnahme zweier bekannter, hier jedoch redaktionell mißhandelter Erzählungen kein Stück enthält, das mit begründeter Wahrscheinlichkeit Hebel zugeschrieben werden kann. Vor dieser Neuerscheinung ist zu warnen.

 

Adrian Braunbehrens